Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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Schwer schwangen sie hin und her, unregelmäßig schlugen die Klöppel an, bis sie ihren Takt gefunden hatten, Interferenzen dröhnten zwischen den Häusern, eine zähe Klangflüssigkeit, die die Hauptstraße hinunterquoll. Gemischt mit Hitze und

      Staub, schwappte sie in jeden Hof, erreichte jedes Haus, wurde schrill gesteigert durch den Sirenenton der Fabrik – jeder bekam die Nachricht aufgedrängt, dass es Zeit war für den Mittagstisch.

      Hippie sprang mich schwanzwedelnd im Hof an, in der einen Woche hatte er es zu Agathes Butler gebracht, war der Zweit­hund auf dem Reustenhof geworden. Agathe ließ jetzt die Besucher durch Hippie melden, erst wenn ernste Schwierig­keiten auftraten, kam sie tief bellend und knurrend aus ihrer Hütte, um Ordnung zu schaffen. Nur nachts, wenn der Hof von merkwürdigen Geräuschen erfüllt war, ging Hippie lieber mit mir, legte sich unter mein Bett und wiegte mich mit seinem Schnarchen in den Schlaf.

      Ich könnte jetzt tatsächlich ein Bier trinken, dachte ich, mir einen Stuhl vor mein Häuschen stellen und mich in die Sonne setzen. Ich umkurvte das Gerümpel vor dem Haus, drückte langsam die alte Tür auf, sie quietschte, ich dachte mir nichts Böses dabei, auch nicht, als ich oben ein paar eilige Geräusche hörte. Öffnete noch die Tür zu meiner neuen Stube, langsam wird’s sauber da drin, dachte ich, ein, zwei Wochen noch, dann kann ich nach unten ziehen, stieg dann ahnungslos, fast ein bisschen zufrieden und glücklich die Treppe hoch.

      Der Knall, der Blitz, der Schmerz, ich spüre und höre alles im gleichen Moment, bin sekundenlang sicher, tot zu sein, finde mich dann, halb sitzend, halb liegend, auf der Treppe, über mir, im oberen Stockwerk, breitbeinig der Alte, ein Sturmge­wehr im Anschlag, bereit, auch noch einen zweiten Schuß auf mich abzugeben.

      »Halt, oder ich schieße! Halt, oder ich schieße!« brüllt er im­mer wieder, ich spüre Blut meine Backe runterlaufen, zittere, schreie: »Ich bin’s doch, Opa Alfred, ich bin’s doch!«

      »Ach so – ja«, sagt er in plötzlichem Erkennen, nimmt sein Gewehr runter und schlurft wortlos in sein Zimmer zurück.

      Einen Moment später fliegt unten die Tür auf, Lui kommt reingestürzt. »Was ist los, Opa, verdammt, was hast du wieder angestellt!«

      Sie zieht mich hoch, bringt mich in ihr Zimmer, ich bin noch immer wie gelähmt vor Schreck und bringe kein Wort raus, fange nur an zu heulen, als ich endlich in Sicherheit bin. »Zeig mal her«, sagt sie, nimmt mir die Hände von der Backe, wischt mit einem Taschentuch drüber, lacht und zieht dann mit einem beherzten Ruck einen streichholzkleinen Holzsplitter heraus. »Hier«, sagt sie, hält mir das Ding unter die Nase, »das war alles. Es ist gar nichts passiert.«

      Ich versuche mich zusammenzureißen, zittere am ganzen Kör­per, kann es nicht stoppen. »Er hat auf mich geschossen!« stammle ich.

      »Er hat danebengeschossen«, sagt sie, »er hat bestimmt nur die Wand getroffen, und da ist der Splitter rausgebrochen.«

      Ich sehe es wie in Zeitlupe, die Kugel, die Zentimeter vor meinem Gesicht entlangpfeift, in die Holzverkleidung ein­schlägt, den Splitter, der sich in meine Backe bohrt. Das Heulen und Zittern will nicht aufhören, alle Nerven mit dem Schuß zerfetzt, die Kugel zentimeterdicht vor dem Kopf.

      Lui wischt mir wieder über die Backe. »Da«, sagt sie ärgerlich, »blutet schon gar nicht mehr. Jetzt reiß dich zusammen, es ist nichts passiert!« Dann lässt sie mich einfach alleine sitzen, zieht die Tür hinter sich zu.

      Ich lege mich auf dem Bett zurück, presse das Taschentuch gegen die Backe und atme, warte, bis das Zittern allmählich nachlässt.

      Christine hätte mich getröstet, mütterlich, emanzipiert müt­terlich, hätte mit mir geweint, mir dann versichert, wie toll es ist, dass ich als Mann so weinen kann, und mich damit wohl genauso alleine gelassen.

      Draußen höre ich Lui mit dem Opa rumgiften. »Ich nehm dir

      jetzt dein Gewehr weg, ich hab’s dir das letzte Mal schon ge­sagt!«

      »Ich hab immer mein Gewehr gehabt«, schreit er, »das kriegt ihr nicht, auch du nicht, da musst du mich umbringen, das kriegst du nicht!«

      »Du kannst nicht auf jeden schießen, der hier die Treppe hoch­kommt, kapier das doch!«

      »Der hätte ja Meldung machen können, ich dachte, die wollten mich holen. Wenn die kommen, sind die dran.«

      »Niemand kommt dich holen, Opa«, sagt Lui nun leiser, »sei jetzt still, es kommt niemand dich holen.«

      Nach einer Weile geht die Tür wieder auf. »Hast du dich jetzt ausgeheult?«

      »Du bist gut«, sage ich, »der Idiot schießt mir fast eine Kugel durch den Kopf, und du fragst, ob ich mich ausgeheult habe.«

      »Ich kann Männer nicht ausstehen, die heulen«, sagt sie trocken, »zeig mir noch mal deine Backe!« Sie zieht mich ins Licht unter das Fenster, wischt drüber. »Komm mit, wir waschen’s mal richtig ab – es ist wirklich nur ein Kratzer.«

      Ich folge ihr raus zum Waschbecken auf dem Gang. Der alte Mann sitzt regungslos in seinem Sessel und sieht uns beleidigt nach.

      Sie wischt mir mit einem nassen Lappen übers Gesicht, zerrt mich vor den Spiegel. Es ist wirklich kaum der Rede wert, ein Kratzer.

      »Und kein Wort zum Vater«, sagt sie dann fast drohend, als wir wieder im Zimmer sind, »der bringt ihn sonst ins Heim, ka­piert?«

      »Aber ...«

      »Kapiert?!«

      Ich nicke. »Also gut.«

      Gerade noch Gift in ihren Augen, und dann, plötzlich, wieder die andere Lui. Sie schlingt ihre Arme um mich, wie ein wei­ches Kissen spüre ich den Anprall ihres Körpers. »Danke«, sagt sie, gibt mir einen feuchten Kuss, flüchtig nur, aber doch viel zu viel für ein Dankeschön.

      »Tut’s noch weh?« sagt sie. »Komm, ich sing dir was vor.« Damals habe ich es zum ersten Mal gehört. Plötzlich wusste ich, woher ich diese tiefe, raue Stimme kannte, plötzlich verstand ich meine Gänsehaut, wenn sie sprach.

      Sie sang: »Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz, my friends all drive Porsches, I must make amends ...«

      An der Stelle brach sie ab, fragte mich, als sähe sie mein Er­staunen nicht: »Was heißt das, 'make amends', kein Mensch weiß das.«

      Ich zuckte die Schultern. »Woher hast du das?« fragte ich. »Weißt du überhaupt, von wem das ist?«

      »Klar«, sagte sie, »das ist Janis Joplin. Ich hab die Platte von Manta. Manta sagt, ich singe wie Janis Joplin.« Sie ging zur Tür. »Also, ich muss wieder runter, hab noch zu tun.«

      Sie ließ mich zurück mit ihrer Stimme im Raum. Alles war so irreal. Ich singe wie Janis Joplin, sagte sie ganz gelassen, und der Wahnsinn war, es stimmte, sie sang wie Janis Joplin – schon damals mit sechzehn.

      Mein Bild von ihr wurde immer gefährlicher. Ich begann die Kontrolle zu verlieren, das machte es gefährlich. Vielleicht hatte ich die Kontrolle längst verloren.

      Es wurde eine unruhige Nacht, so viele Fetzen, die in meinem Kopf herumflogen, wilde Träume von Schüssen und Küssen, ihre Beine, ihr Bauch, ihre Augen, ihr Busen. Träume von wildgewordenen Stadtkindern und Kühen im Bach, von einem grauen Herrn in einem Diplomat V8, Holzsplitter, die tödlich verletzen, zerfetzen, dann plötzlich das Gefühl eines anderen Körpers auf mir, Luis Körper, weg mit dem nächsten Lid­schlag.

      Von drüben drang das Stöhnen und Schnarchen des Alten herüber, im Lauf dieser ersten Woche hatte ich mich schon fast dran gewöhnt. Manchmal hörte ich ihn aufstehen, hörte ihn hin und her gehen, Worte murmeln, dann warf er sich wieder krachend ins Bett. Meine Drittklässler fielen mir ein, jetzt wa­ren sie es, die mich vom Schlafen abhielten. Mitternacht ging vorbei, und ich schlief noch immer nicht, zählte die Sterne in dem kleinen Rechteck, den das Fenster aus dem Himmel her­ausstanzte, verzählte mich, merkte, wie sich der Himmel langsam verschob, wie einige Sterne links verschwanden, an­dere rechts in mein Blickfeld rutschten.

      Ich