Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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erzählte die Geschichte des Reustenhofes wie ein Mär­chen, ein Märchen, das mit ihrer Großmutter und dem Hof­hund Agathe irgendwann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann.

      »Agathe?« fragte ich. »Aber die kann doch nicht ...« »Agathe!« unterbrach mich Lui und erzählte weiter.

      In den ersten Jahren der Nachkriegszeit war der Hof von der kriegsverwitweten Großmutter alleine geführt worden, mehr schlecht als recht hatte sich die gut Vierzigjährige mit ein paar Milchkühen und einem Schwein pro Jahr über Wasser gehal­ten, hatte ab und zu einen Acker verkauft, um wieder ein bisschen Geld fürs Nötigste flüssig zu haben, und ansonsten auf ein Wunder gewartet – ein Wunder in Form eines Mannes, der sie trotz ihres Alters und ihres krummgeschafften Rückens noch nehmen würde.

      Und das Wunder kam – allerdings nur für eine Nacht, dann war es über die Spessarthügel in Richtung Ascheberg verschwun­den. Was nun zu all dem anderen Mangel blieb, waren der Mangel einer Illusion und ein dicker Bauch, der später den Namen Martha bekam. Martha, Luis Mutter, wurde 1948 ge­boren, lernte von ihrem ersten Lebenstag an die Einsamkeit, mit einem Jahr das Beten, mit vier Jahren das Melken und mit sechs in der damaligen Einklassenschule von Waldweibers­bach die ersten ungelenken Schriftkringel, die sich bis heute als ihre Handschrift erhalten haben.

      Lui kramte aus ihrem Schrank ein Foto hervor, es war das Firmungsfoto ihrer Mutter. Eine frühentwickelte, derbe Schönheit, deren große, schwarze Augen und deren sinnlicher Mund verrieten, dass ihr Interesse bereits in diesem Alter weit jenseits von Puppenwagen und Sandkästen lag.

      Sie war noch keine siebzehn, als sie auf der alljährlichen Waldweibersbacher Kirchweih auf Adolf Reusten stieß, einen gro­ben fünfundzwanzigjährigen Dorfburschen aus dem Oden­wald, Halbwaise seit den letzten Kriegstagen, als eine verirrte Panzergranate vor den Augen des Fünfjährigen Haus und Mutter in Stücke gerissen hatte.

      Adolf, allein mit seinem Vater und ohne Haus oder Hof, war seither auf der Suche nach Heimat und Lebenssinn, nach Ar­beit, Unterkunft und Auskommen. All dies schuf er sich in ein paar Minuten, irgendwo im Unterholz zwischen Bahnlinie und Kirchweihplatz, als er mit ein paar wilden, groben Bewegun­gen seines massigen Körpers der lebenshungrigen, neugierigen Hoferbin Martha ein Kind machte. Schon zwei Monate später war Hochzeit, denn Marthas Mutter bestand darauf, dem in Suff und Sünde gezeugten Balg wenigstens eine christliche Ge­burt auszurichten.

      Trotzdem hatte die Oma 1965 durch ihre sechzehnjährige Tochter endlich das, worauf sie zwanzig Jahre lang gehofft hatte – einen Bauern auf ihrem Hof und einen schreienden Erben namens Heiner in der Kinderwiege. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte die verbrauchte Frau die Hände in den Schoß legen und die Arbeit dem jungen Mann überlassen, aber die ungewohnte Ruhe tat ihr nicht gut, bereits die Geburt ihrer Enkelin Luise sieben Jahre später sollte sie nicht mehr erle­ben.

      »Als der Papa dann auf dem Hof war, muss sich hier alles sehr schnell geändert haben«, erzählte Lui weiter.

      Adolf Reusten, autoritär und voller Energie, hatte den runtergewirtschafteten Hof schnell wieder auf die Beine gebracht. Er kaufte alte Äcker zurück, schaffte neue Maschinen an, er­weiterte den Stall, baute den großen Geräteunterstand. In einem Gewaltakt, mit viel Nachbarschaftshilfe und immensen Eigenleistungen, stellte er Mitte der siebziger Jahre seiner Fa­milie das neue Wohnhaus in den Hof. Endlich waren die Räume hell und die Fenster dicht, endlich keine Mäuse mehr im Vorratsraum und keine Ratten mehr im Keller. Adolf Reu­sten hatte erreicht, wonach er immer gesucht hatte, Anerken­nung und eine neue Heimat.

      Das alte Wohnhaus blieb nach dem Umzug leer stehen. Wur­den in den ersten Wintern noch ab und zu die Öfen durchge­heizt, im Herbst die Spinnweben beseitigt und im Frühjahr die Fenster geputzt, so verfiel das unbewohnte Haus in den näch­sten Jahren mehr und mehr. Alte Möbel wurden dort gesta­pelt, bis Mäuse und Holzwürmer ihren endgültigen Verfall besiegelten, das Bad wurde zur Werkstatt, die Küche zum Düngerlager. Alles, was möglicherweise irgendwann noch ein­mal nützlich sein konnte, aber im Augenblick überflüssig war, wurde rund um das Haus gelagert. Schwere Eichenbalken aus dem Abriss der alten Scheune, stapelweise Dachziegel, eine alte Egge, ein Pflug, der nicht mehr an den neuen Traktor passte, die Reste eines Ochsenkarrens, Blechtonnen, zersprun­gene Fenster und schließlich sogar das Wrack des ersten Wagens der jungen Reustenfamilie, der schon damals ge­braucht gekaufte 1960er Opel-Kombi, altrosa mit einem wei­ßen Dach.

      »Der Papa wollte ihn nie wegschmeißen – es war sein erstes Auto!«

      »Und seit wann ist der Opa da?« fragte ich.

      »Der Opa kam vor ungefähr zehn Jahren. Das ging nicht mehr mit ihm alleine da oben im Odenwald, da hat der Papa ihn irgendwann einfach mitgebracht.«

      Das alte Haus, in das man den Alten stecken wollte, erwies sich schon damals als nahezu abbruchreif. Drei Wochen brauchte die Bäuerin, um zusammen mit dem fünfzehnjähri­gen Heiner wenigstens den oberen Stock einigermaßen be­wohnbar zu machen – so lange wohnte der Alte mit im Neubau. Aber auch dann war er nicht zu bewegen umzuzie­hen, bis Martha seine Starrköpfigkeit schließlich überlistete, indem sie ihm das Haus notariell überließ. »Ich will endlich wieder ein eigenes Dach über dem Kopf«, hatte er gezetert, und er hatte es bekommen.

      Die Pflege des eigenwilligen Alten aber rutschte mehr und mehr in die Verantwortung der heranwachsenden Luise. Sie war die einzige, die sich mit ihm verstand, die einzige, die er, ohne sie zu beschimpfen oder ihr zu misstrauen, sogar in eines seiner beiden Zimmer ließ, damit sie dort fegen und nach dem Rechten sehen konnte. Im dritten Zimmer, dort, wo nun auch

      ich ein Zuhause angeboten bekam, hatte sich Lui selber wieder eingerichtet. Es war vor dem Umzug ihr Kinderzimmer gewe­sen, und sie war einfach Jahre später wieder eingezogen. »Ich spüre manchmal«, sagte sie, als sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, »dass mit dem Haus etwas Besonderes ist. Ich spüre, dass es wieder jung wird. Nicht nur du bist gekom­men, es werden noch mehr kommen.« Sie stand auf. »Das Haus lebt wieder, du wirst es selber spüren – gute Nacht.« Es war schon dämmrig draußen. Lautlos verließ sie das Zim­mer. »Ich bin’s, Opa«, rief sie leise auf dem Gang, dann hörte ich am Knarren der Tür, dass ich mit dem Alten allein war. Über mir im Karree des Dachfensters gingen die Sterne auf. Wirre Geschichten drehten sich in meinem Kopf, manchmal spürte ich ihre schwarzen Augen auf mir, manchmal hallte noch ihre Stimme im Raum. Erst das leise, gleichmäßige Schnarchen von Hippie unter meinem Bett half mir hinüber in den Schlaf.

      3. KAPITEL

      Fünf Tage hatte ich noch, fünf Tage, eingeklemmt zwischen diesem ersten Abend mit Lui, in dem kleinen, muffigen Zim­mer unter dem Dachfenster, und dem Schulanfang. Fünf Tage mit Lui. Sie wich nicht von meiner Seite, und, um ehrlich zu sein, ich machte auch wenig Anstrengungen, sie von dort zu vertreiben. Sie brachte mir euterwarme Milch zum Frühstück, fuhr mit mir im Goggo los, um mir die Stadt zu zeigen, erklärte mir das Dorf und ihre Welt bis zum Abend, wenn sie sich mit einem »Gute Nacht, Kadewe, bis morgen« verabschiedete. Ihre Augen leuchteten in meinem Kopf weiter, wie eine Bild­röhre nachleuchtet in einem dunklen Zimmer. Dann lag ich wieder auf der Matratze, ließ mir heute, gestern und morgen durch den Kopf ziehen und dachte doch eigentlich nur an sie.

      Sie sagte: »Ich hab gehört, du hast in Berlin eine Freun­din.«

      »Woher willst du das gehört haben?« fragte ich sie.

      »Ich höre soviel«, sagte sie nur, das sagte sie oft, »ich höre soviel«, und ihre Augen waren seltsam fremd, wenn sie es sagte.

      Ich nahm ihre sechzehn Jahre mal zwei und kam auf zweiund­dreißig. Ich zählte meine eigenen Jahre und kam auf einund­dreißig. Manchmal, wenn ich abends dalag und sie mir vorstellte, kam ich mir vor wie ein Kindsverführer.

      Aber wir tauschten nicht nur verliebte Blicke, wir arbeiteten auch viel in diesen fünf Tagen, bevor für mich der Schulalltag begann.

      Lui schien nicht besonders viele Pflichten auf dem Hof zu haben, sie war ständig bei mir und half, und jeder fand es in Ordnung, ihr Bruder Heiner vielleicht ausgenommen, aber den versuchte ich so gut es ging zu ignorieren.

      Schon nach den ersten zwei Stunden,