Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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meine Drittklässler gehen, blieb einen Moment noch alleine im Klassenzimmer, setzte mich hinter mein Pult.

      War das nun das, was ich gesucht hatte? Es war sicher anders, als Buchtitel und Preislisten durch den Computer zu jagen und Telefonate mit ungeduldigen Händlern zu führen. Aber was war vor Berlin? Sofort fiel mir diese letzte Klasse ein, die ich ein halbes Jahr lang im Seminar unterrichten musste. Kaputte Stadtkinder, die Mädchen Barbie-Imitationen, die Jungen Stallone-Fans. Geld und Mode, Killen und Kämpfen in den Köpfen von Dreizehnjährigen, und ich davor, mit dem ver­geblichen Versuch, noch etwas anderes in diese Köpfe hinein­zubekommen. Damals sind meine Illusionen zerbrochen, die Tage habe ich gezählt bis zu den Ferien, bis ich diese Brut nicht mehr sehen musste, einschließlich des allwissenden Seminar­leiters, der für jede Situation eine theoretische Lösung hatte, aber genau wusste, warum er sich nicht selber vor die Klasse stellte.

      Dann kam die Prüfung, die schlechte Staatsnote. Nach dem ersten Erschrecken war ich fast froh, dass sie mich nicht ge­nommen hatten. Jemand anderes hatte die Entscheidung für mich getroffen. Ein Studium für die Katz, aber doch noch die Kurve gekriegt. Und dann, gegen meine eigentliche Überzeu­gung, die Warteliste. Versuchen musste man es, schon der Mutter wegen.

      Und jedes Jahr aufs neue musste ich auf dem Wartelistenfra­gebogen meinen gewünschten Einsatzort angeben. Erste Wahl und Zweite Wahl. Erste Wahl war immer München, aber nicht im Stadtkern, sondern irgendwo ein paar Kilometer draußen. Aber genau das wollten alle anderen Kollegen auch, da gab es also keine freien Stellen. Also zweite Wahl irgendwo, wo die Chancen besser waren. Unterfranken, sagte jemand, kein Mensch will nach Unterfranken. Also füllte ich aus: Zweite Wahl: Unterfranken. Eigentlich war für mich der ganze Leh­rerberuf nur noch zweite Wahl, aber auch in drei Jahren Berlin war mir keine bessere erste Berufswahl eingefallen.

      Das Klassenzimmer sah kahl aus, erst als die bunten Ranzen nicht mehr da waren, fiel es mir auf. Ich könnte die Kinder ihr schönstes Ferienerlebnis malen lassen. Schönstes Ferienerleb­nis, wahnsinnig originell, aber mir fiel nichts anderes ein. Und immerhin mal kein Aufsatz, sondern ein Bild, es könnte was Gutes dabei rauskommen. Das Meer bei St. Peter oder die Zebras in Kenia oder diese ulkige Geschichte von diesem, wie hieß er noch, ich würde es schon noch lernen, jedenfalls einer von denen, die nicht weggefahren waren. Er erzählte vor­hin:

      »Die Kuh will saufen, weil sie Durscht hat. Und geht zum Bach, guckt die Böschung runter, aber das Wasser ist viel zu weit weg. Also macht sie noch einen Schritt, guckt wieder runter, aber das Wasser ist immer noch zu weit weg. Da macht sie noch einen Schritt, aber da ist schon keine Weide mehr, sondern nur noch ein bisschen Gras über dem Lehm. Die Kuh rutscht mit beiden Beinen voran die Böschung runter, unten ist der Boden ganz nass und weich, und die Beine sinken ein, bis zum Bauch. Da steht sie, den Kopf ganz tief unten am Wasser. Jetzt könnt sie saufen, aber jetzt will sie gar nicht mehr und muht nur noch. Die Hinterbeine sind noch immer oben auf der Weide, und den Hintern streckt sie hoch zum Himmel. Und sie hat Angst und strampelt und sinkt davon immer tiefer ein. Sie schreit wie ein Ochs, weil sie so Angst hat, und der Bauer hört’s und muss drei Nachbarn rufen, weil er sie nicht alleine rauskriegt.«

      Der Matthias hat das erzählt, richtig. Ich stellte mir seine Ge­schichte auf einem Bild an der Wand vor. Die vier Männer, wie sie gemeinsam die Kuh aus dem Bach ziehen. Zu dumm, dass ich ihnen nicht gesagt hatte, sie sollten am nächsten Tag ihre Malsachen mitbringen.

      Ich lief noch ein bisschen zwischen den Schülertischen durch, versuchte mir vorzustellen, was ich da vorne für ein Bild ab­gab. Fragte mich plötzlich, ob wohl Lui hier gesessen hatte. Dahinten vielleicht, die ganze Klasse vor sich. Dann sah ich mich plötzlich selber, ich setzte mich auf einen der kleinen Stühle, quetschte die Beine unter den Tisch. Klein muss ich gewesen sein damals. Lietzenbach fiel mir ein. Oberlehrer Lietzenbach. Ich wurde unruhig, dann spürte ich Angst, alte Angst.

      Oberlehrer Lietzenbach gibt Schönschreiben. Karl-Dietrich kann aber nicht schön schreiben.

      »Zeig dein Heft vor, wo sind deine Hausaufgaben?« Karl-Dietrich schaut auf den Boden. Er wartet auf das erlö­sende Klingeln. Er hört, wie Oberlehrer Lietzenbach sein Heft zum Pult trägt, hört das kurze, harte Kratzen des Rotstifts. Er schaut nicht auf. »Das ganze noch mal!«

      Das war 1967. Von da an, zwei Jahre lang, die ganze dritte und vierte Klasse hindurch, hieß mein Alptraum Lietzenbach. Friedrich-Rückert-Schule in Bochum. Lärmendes, stinken­des, vertrautes Bochum. Zwei Kilometer Fußmarsch über gepflasterte Bürgersteige, den schwarzen Lederranzen auf dem Rücken. Entlang an grauschwarzen Reihenhäuschen, aus deren Schornsteinen, als müßten sie mit den großen Stahl­schloten mithalten, graubrauner Rauch kräuselte. Grau­schwarze Häuser, die Straßen graubraun, die Bäume grau­grün, selbst frischgefallener Schnee nach einer Nacht hellgrau, nach zwei Nächten grau wie die monochrome Einöde drum herum. Und wenn ich zur Schule ging, zwei Kilometer mit dem Lederranzen, zertrat ich jeden grauen Schneehaufen, nur um das Weiß darunter zu sehen.

      Zu Hause gab es eine Familie. Der Vater trug, wenn er mor­gens Punkt sieben Uhr fünfzehn das Haus verließ, einen grauen Anzug, eine silbergraue Krawatte und eine schwarze

      Aktentasche. Er schloss die Tür des dunkelbraunen Admiral auf und fuhr ins neue Opelwerk. Er hatte eine Stoppuhr und einen Notizblock und sorgte dafür, dass das neue Fließband mit den neuen Kadetts darauf nicht langsamer wurde.

      Abends, oft spät, wenn ich schon im Bett lag, hörte ich den Vater kommen, seinen Mantel ausziehen, stöhnen. Ich hörte einen flüchtigen Kuss für die Mutter, oft hörte ich Streit.

      Ab und zu fuhren wir am Wochenende mit dem frischgewa­schenen Admiral über Land. Vater fuhr gerne Auto, Mutter wäre lieber gewandert, also stritten sie wieder. Wir saßen in dem riesigen Wagen hinten. Gabi, meine Schwester, und ich. Jeder guckte zu seiner Seite aus dem Fenster, Gabi kaute Kau­gummi, und zwischen uns war eine breite Armlehne, die wir immer heruntergeklappt hatten.

      »Wenn ich mich etwas anstrenge, bekomme ich nächsten Som­mer einen Diplomat V8«, sagte Vater, und Mutter drehte die Augen zum Himmel.

      Als ich endlich ins Gymnasium durfte, weg vom Tyrannen Lietzenbach, hatte Vater seinen Diplomat. Der lief fast zwei­hundert, und Vater kam abends noch später nach Hause. Er war jetzt der Chef aller Männer mit Stoppuhr. Mutter saß derweil zu Hause, half uns bei den Hausaufgaben, bügelte oder ging einkaufen. Manchmal war ich dabei. In den Geschäf­ten redete sie anders als zu Hause. Sie sagte nicht »Servus« und »Pfürtie«, sondern »Guten Tach« und »Schönen Tach noch« und versuchte so zu sein wie die anderen Frauen aus dem Pott. Und wie immer, wenn ich an Bochum denke, wenn ich an Vater denke, tauchte eine Szene auf:

      Die Familie fährt nach München, die Oma besuchen. Der Va­ter ist nicht dabei, und Karl-Dietrich fährt zum ersten Mal im Leben eine lange Strecke mit der Bahn. Sie gucken zum Fen­ster hinaus, sehen Berge, grüne Bäume, Häuser aus Holz mit leuchtendroten Dächern. Mutter fragt Karl-Dietrich und

      Gabi, ob sie nicht auch viel lieber hier bleiben wollen, bei Oma im Haus, oben, in den vier Zimmern, ohne graubraune Straßen und graugrüne Bäume.

      »Und der Papa?« fragt Karl-Dietrich.

      »Die wollen sich scheiden lassen, Mensch, bist du zu blöd, um das zu kapieren!« schreit Gabi und rennt aus dem Abteil.

      Ein halbes Jahr später wohnten wir in München. Von Papa kam regelmäßig Geld an Mutti und unregelmäßig ein Brief an mich, wo er schrieb: Schick mir doch einmal ein neues Bild, und manchmal lagen zehn Mark im Umschlag. Erst Jahre später – ich war schon sechzehn und durfte alleine reisen – sah ich ihn in Bochum wieder. In meiner Erinnerung wurde sein Bild grau und grauer, bis es sich nicht mehr von der Umgebung ab­hob.

      Plötzlich gongte es, sanft und angenehm, kein Vergleich mit der Welt aus schrillen Klingeln, in die ich abgerutscht war. Ich schaute raus auf das Feld vor der Schule, die flimmernde Hitze über den sattgelben Getreidehalmen löste die Gesichter auf, den cholerischen Oberlehrer Lietzenbach, den grauen Vater, die nörgelnde Mutter, die ewig kaugummikauende Schwester. Die Gegenwart war ein Schulschlüssel in meiner Tasche: Klas­senlehrer Weber.

      Die Hitze draußen machte dösig wie ein mittägliches Glas Pils.