werden, wenigstens mit der Zeit.»
«Wir haben hier bereits Kopien gefertigt, Fidibus. Aber die bekommst du nicht umsonst, das weisst du.»
«Eine Anzahlung habe ich dir bereits mitgebracht. Hier.» Und Fidibus zog einen grösseren Tonbehälter aus dem Ledersack unter seiner Kutte hervor, zog den in Öl getauchten und mit Hanf umwickelten Holzstopfen vom Gefäss und schenkte die goldene Flüssigkeit in zwei Tonbecher ein.
«Koste mal, Ottfried.»
Nachdem Ottfried getrunken hatte, nahm er gleich noch einen zweiten Schluck.
«Köstlich, Fidibus, leicht säuerlich mit einer sonnigen Note, die im Gaumen zurückbleibt.»
4
Ganz früh am Morgen hockte der Ministeriale Furdin in seiner feuchten Kammer in der Niederburg, dem Stadtteil von Konstanz, in dem die Handwerker, die Fischersleute und die Beamten, genannt Ministeriale, wohnten, und wartete darauf, dass es Tag wurde.
Als Junge war er dabei ertappt worden, wie er, ziemlich geschickt für sein Alter, in der Bischofskirche eine Schatulle aufgebrochen hatte, mit der frevelhaften Absicht, die sich darin befindende Reliquie, die Bischof Konrad von seiner letzten Pilgerfahrt nach Jerusalem im Austausch gegen einen wertvollen Ring aus seinem Privatvermögen mitgebracht hatte, zu stehlen.
Anstatt den diebischen Buben nun einfach unter den Galgen zu hängen, hatte der Bischof entschieden, ihn in seine Dienste zu nehmen. Furdin kam aus einer hörigen Bauernfamilie und wollte mehr aus seinem lausigen Leben machen. Darum besass er genau die richtigen Voraussetzungen für das Amt eines Ministerialen. Er war zwar immer noch ein Leibeigener, doch seine Aufgaben zeugten nun von grösserem Gewicht. Vornehmlich wurde Furdin eingesetzt, um die Vorgänge im Kloster Sankt Gallen auszuspionieren. Allem voran wollte Konrad darüber informiert sein, was dort jeweils gerade für Bücher verfasst und kopiert wurden. Schliesslich besass das Bistum Konstanz eine Dombibliothek, die in einem ständigen Wettstreit mit dem Kloster Sankt Gallen stand. Und nicht nur die. Der Bischof wollte auch sonst wissen, was die Äbtischen den lieben langen Tag so trieben. Darum hatte Furdin den Auftrag bekommen, das Kloster Sankt Gallen, als harmloser Gast auf Pilgerreise verkleidet, zu besuchen und sich ein bisschen umzuhören und ein bisschen herumzuschleichen. Furdin war der Spion mit den geheimsten Aufträgen am Bischofshof. Und darauf war er arg stolz. Doch das reichte ihm nicht. Er wollte noch mehr. Er wollte etwas in seinen Besitz bringen, das ihm Macht verlieh. Und er wusste auch schon, was.
5
Fidibus lüpfte seine kratzige Kutte und stieg über den erst kniehohen Erdwall, in den Holzbalken, ergänzt mit Steinen und Sand und überdeckt mit Lehm, hineingetrieben worden waren, als der gute Abt Anno noch lebte. Nun, unter dem grausamen Abt Craloh, stockten die Bauarbeiten an der Klostermauer, die sowohl Kloster als auch Klosterdorf vor Übergriffen sichern sollte. Im Kloster angekommen, rannte ihm Kunibert, der Infirmar, entgegen, während er ein kühles Tuch, in Arnikatinktur getaucht, auf seinen schmerzenden Kopf drückte.
«Fidibus, ich muss mit dir reden. Komm schnell in meine Zelle.»
Kunibert setzte sich auf den gut gefüllten Strohsack, der in seinem Holzkistenbett lag, und Fidibus auf den wackeligen Schemel davor.
«Als ich diesen Abend, kurz vor der Vesper, in der Klosterbibliothek sass, um im Waltharilied unseres Dekans Ekkehard etwas nachzulesen, das mir entfallen war, wurde ich brutal niedergeschlagen.»
«Hast du den Täter gesehen?»
«Nein. Der Schlag kam von hinten und landete direkt auf meinem armen alten Kopf.»
«Hast du denn nichts gehört?»
«Nein. Meine Konzentration war voll auf das grosse Heldengedicht gerichtet. Aber ich weiss, was entwendet wurde. Es ist schrecklich», weinte Kunibert. «Unser wunderbarer Goldener Psalter lag aufgeschlagen auf einem der Tische. Fidibus! Eine Doppelseite fehlt. Die Illustration vom Feldzug des Joab. Eine wunderschöne Buchmalerei. Karolingisch. Fast hundert Jahre alt. Ach, Fidibus! Das Pergament wurde sorgfältig herausgelöst.»
«Keine einfache Sache. Schliesslich werden unsere Pergamentblätter in leder- und metallüberzogene Holzdeckel gelegt und an lederne Buchrücken geheftet.»
«Was sollen wir jetzt tun, Fidibus?»
«Wir gehen sofort in die Bibliothek und legen den Goldenen Psalter einfach in die grosse Truhe zurück, um uns dann mit aller Geduld diesem Übel zu widmen.»
«Ich habe das Werk bereits zurückgetan, Fidibus. Zum Glück kam niemand in den Raum, als ich zusammengesackt auf Bank und Tisch lag. Sonst hätten sie mich sicher hinausgetragen und in ein Krankenbett gelegt.»
«Ja, zum Glück. Wenn unser Abt Craloh von diesem schrecklichen Raub erführe, würde er einen Schuldigen suchen und diesen womöglich in dir finden, weil du das Hereinschleichen des Diebs nicht bemerkt hast. Wahrscheinlich würde er auch noch behaupten, du hättest gemeinsame Sache mit dem Schurken gemacht.»
«Gott bewahre!»
6
Der Ministeriale Furdin lag auf seinem Gästebett im Kloster Sankt Gallen und drückte das wertvolle Pergament aus dem Goldenen Psalter, das er in einem recht grossen flachen Leinensack, den er sich in sein ebenfalls leinenes Unterhemd eingenäht hatte, aufbewahrte, an sich. Er hatte nun, was er wollte. Morgen würde er wieder zurück nach Konstanz wandern und dem Bischof mitteilen, dass die Mönche in Sankt Gallen nichts Neues in Angriff genommen hätten.
7
Nahe der Sankt Galler Strasse, die vom Bodenseehafen Rorschach bis zum Kloster Sankt Gallen führte, irgendwo zwischen dem bischöflichen Obergoldach und dem Vorderhof, im Besitz des freien Bauern Stürm, stand Burgfräulein Siegelinde auf der Hurde, die über die Burgmauern mit ihren gezackten Zinnen hinausragte, und langweilte sich zu Tode. Ursprünglich aus dem Geschlecht der Grafen von Nellenburg aus dem Zürichgau stammend, wurde sie zu ihrer Tante, der Witwe Tronhilde, Kunkellehensträgerin dieser Holzburg hier, verbannt, nachdem ihr erster und ihr zweiter Verlobter von einer für andere unerklärlichen Krankheit, jeweils kurz vor der Heirat, niedergestreckt worden waren. Nun lag ein Fluch auf der zarten Maid, über den sie nur lachen konnte. Vergiftet hatte sie die beiden Holzköpfe. Sie wollte nicht heiraten. Nicht im Traum. Nun hatte sie endlich ihre Ruhe vor ihrer Mutter, dieser Kupplerin. Tante Tronhilde war ganz in Ordnung. Die liess sie machen, was sie wollte. Sie tat selbst, was sie wollte. Und als Witwe war das gar nicht mehr so schwer.
Siegelinde entschloss sich spontan, ins Kloster Sankt Gallen zu reiten, um Niesbert, einen entfernten Cousin Tronhildes, zu besuchen. Also marschierte sie in den Stall, sattelte ihre gescheckte Stute Linde, schwang sich auf das Pferd und wollte aus der Burg stürmen.
«Halt, Fräulein Siegelinde. Ich begleite Euch.»
«Ihr wisst doch gar nicht, wohin ich will, Panzerreiter Blage.»
«Ich muss Euch beschützen, egal, wo Ihr seid. Meine Herrin Tronhilde hat es befohlen, also soll es so sein.»
«Ihr seid lästig, Blage, äusserst lästig.»
«Ja, das ist mein Schicksal.» Und der Adelige Blage schwang sich auf seinen Braunen und galoppierte hinter Siegelinde her, so dass die Plättchen an seinem Schuppenpanzer klirrten. In der Schlacht auf dem Lechfeld vor einem Jahr hatte er auf der Seite König Ottos gegen die Magyaren gekämpft und gewonnen. Also hatte er nach seiner Heimkehr eine andere Aufgabe finden müssen. Da kam ihm die Witwe Tronhilde, die einen Beschützer für ihre bewegungsfreudige Nichte suchte, gerade recht. Nun ritt er also auf der Sankt Galler Strasse durch den Arboner Forst, seine Reiterlanze in der rechten Hand, mit der linken behende die Zügel führend.
Bald schon erreichten die beiden die Martinsbrücke über der in einer Schlucht