dass das Privatfernsehen zwar mehr Vielfalt aber nicht mehr Qualität dem Publikum offerieren würde. Erschreckend fand er, dass die Menschen der seichten Unterhaltung den Vorzug vor solider Medieninformation gaben.
So war sein Fazit. Ich fragte ihn, wie eine kulturelle Revolution aussähe, wenn er die Möglichkeit hätte, diese anzuzetteln.
Er lachte und meinte, solche Fragen habe ihm noch keiner gestellt.
Feixend äußerte er, dass man die Menschen mit der Beeinflussung durch das Fernsehen konfrontieren müsste. Man könnte zwei Folgen einer billigen, amerikanischen Serien nehmen und jeden Abend dreimal wiederholen und das von Montag bis Freitag. Im Untertitel würde eine Endlosschlaufe durch das Bild laufen, mit den Worten: Achtung - Permanente Volksverdummung durch Ihre Glotze!
Der Mann redete voller Begeisterung von dieser Idee. Bevor er an der Haltestelle Jungfernstieg umstieg, dankte er mir und meinte diese Gedanken müsse er weiterverfolgen.
Zwei Wochen später nahm dieser Mann, ohne dass ich ihn bewusst wahrnahm, neben mir in der U-Bahn Platz. Erst als er mich ansprach, erkannte ich ihn.
In dieser Bahnfahrt erlebte ich zum ersten Mal selbst die Rolle des Interviewten. Der Mann erzählte mir, dass er nach unserer ersten Begegnung häufiger in der U-Bahn beobachte habe, wie ich andere Fahrgäste in Gespräche verwickelte. Ihn interessierten meine Motive. Ich erzählte ihm von meiner Ursprungsidee und dass ich auf diese Weise mein anthropologisches Interesse füttere. Vielleicht werde ich mal ein Buch über meine Bahnerlebnisse schreiben, aber die eigentliche Triebfeder liegt in meiner Faszination für das Wesen Mensch.
Dann seien wir ja Seelenverwandte, meinte er. Als er das große Fragezeichen in meinem Gesichtsausdruck sah, ergänzte er, dass ihn Menschen, die etwas Ungewöhnliches tun, denken oder unternommen haben, beruflich interessieren.
Nun stellte er sich als namentlich als Hermann Möller vor. Er sei Chefredakteur der Talkshow "Menschen im Norden". Gerne würde er mich in eine der nächsten Sendungen einladen. Irritiert fragte ich, was denn an mir so besonders sei, dass ich in eine Talkshow des öffentlichen Fernsehens eingeladen werde?
Erstens sei ich kein Prominenter; dieses sei ein Ausschlusskriterium für die Teilnahme an der Sendung. Allerdings sei auffällig, dass – so wie er es bisher wahrgenommen habe – ich der einzige Mensch sei, der unbekannten Mitfahrern ungewöhnliche Fragen stelle und dieser letzte Punkt sei es, weswegen er denke, dass ich als Gast in der Talkshow genau richtig sei. Für das Fernsehpublikum ist doch spannend zu erfahren, welche Fragen ich stelle und welche Antworten ich erhalte.
Acht Wochen später saß ich schließlich in einem Hamburger Fernsehstudio.“
„Wie verlief die Sendung?“, hakte Helena nach.
„Glücklicherweise handelte es sich um eine Aufzeichnung, ansonsten wäre ich vor Lampenfieber im Boden versunken. Das Gespräch verlief so wie meine Interviews in der U-Bahn, nur dass ich dieses Mal die Rolle des Befragten innehatte. Ich erzählte von meinen Beweggründen und einzelnen Begegnungen mit Menschen und deren Schicksal. Ehe ich mich versah, war das Gespräch beendet.“
Nach einer kurzen Redepause schob Kurt Gedanken versunken nach: „Eigentümlich, jetzt erlebe ich ein Déjà-vu: Das Gespräch, das wir beiden in den letzten 15 Minuten geführt haben, verlief im Grunde genauso wie das damalige Fernsehinterview. Sie forderten mich auf, von besonderen Begebenheiten aus der U-Bahn zu erzählen und ich schilderte einzelne Erlebnisse. Manche Dinge wiederholen sich im Leben, ohne dass man es im ersten Moment wahrnimmt.“
Während sie schweigend durch den Sand staksten, schien jeder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken zu sein. Helena tauchte als erstes wieder auf. „Wie ging es dann weiter?“
„Es entstand ein kleiner Medienrummel um mich: Eine Tageszeitung veröffentlichte ein Interview mit dem Typen, der andere in der U-Bahn nach ihrem Leben befragt. Eine kleine Reportage wurde über mich gedreht, die in zwei anderen Bundesländern im dritten Programm gezeigt wurden. Ein Privatsender brachte einen Kurzbericht über mich in einem täglich laufenden Magazin. Kurze Zeit später rief mich der Chefredakteur Herr Möller nochmals an und teilte mir mit, dass sie ungewöhnlich viele positive Zuschriften zu der Sendung, an der ich teilgenommen hatte, erhalten hätten. Sie wollten mich daher noch einmal einladen.“
„Und dann wurden Sie zum Star, oder?!“ analysierte Helena mit einem leichten Schmunzeln. Da ihre Augen dabei freundlich lächelten, nahm Kurt die Äußerung auf die humorvolle Art.
„Genau! Na ja – nicht sofort. Allerdings legte ich unbewusst beim zweiten Besuch der Talkshow den Grundstein für meine Fernsehkarriere.“
„Auf die Geschichte bin ich jetzt wirklich gespannt.“
„Der Moderator namens Schmitt fragte mich nach meinen Erfahrungen seit der letzten Sendung. Ich schilderte meine gänzlich neuen Erlebnisse mit der Medienwelt. Ich beschrieb meine Wahrnehmungen und fragte den Moderator wie er als Insider sein Arbeitsumfeld erlebe. Rückblickend kann ich nur feststellen, dass in diesem Moment weder der Moderator noch ich bemerkten, dass das Gespräch sich um 180 Grad drehte. Nachdem ich circa zehn Minuten lang ihn interviewte hatte, wurde mir plötzlich die Paradoxie der Situation deutlich und ich beendete das Gespräch mit einem Satz, der blasses Entsetzen in das Gesicht des Moderators beförderte und das Publikum im Studio zum Kochen brachte.“
Erwartungsvoll schaute Helena Kurt an: „Jetzt spannen Sie mich nicht auf die Folter. Verraten Sie mir den Satz!“
„Vielen Dank, Herr Schmitt, das waren sehr interessante Einblicke, die Sie uns in die Fernsehwelt gewährt haben. Ich danke Ihnen für das Gespräch und schlage vor, dass ich mich jetzt zurückziehe.“
„Wahrscheinlich war Herr Schmitt angesichts Ihres arroganten Auftritts nicht begeistert.“, mutmaßte Helena, „wie ging die Geschichte weiter?“
Während er ihr den weiteren Verlauf schilderte, merkte Kurt erst verspätet, wie ihn die ihm von ihr unterstellte Arroganz verärgerte.
„Nach der Show sprach ich noch mit dem Moderator und dem Chefredakteur Möller. Während Herr Schmitt noch versuchte den Verlauf unseres Interviews zu analysieren, meinte Herr Möller, ich hätte eine bemerkenswerte Gabe, Menschen im Dialog Sicherheit zu vermitteln, so dass sie tiefe Einblicke in ihr Denken und Empfinden gewähren.“
„Lassen Sie mich raten: Daraufhin hat er Ihnen eine eigene Sendung angeboten?“
Mit zynischem Unterton erwiderte Kurt. „Wie weise Sie doch sind. Nicht sofort, aber ein paar Wochen später kam das Angebot.“
Helena merkte seinen Verdruss und lenkte daher den Blick auf seine ersten Schritte als Moderator. „Wenn Sie vorher ungezwungen Menschen in der U-Bahn befragt haben, wie kamen Sie mit der Rolle des Interviewers im Fernsehen klar? Ich stelle mir das schwer vor, da zum einen die Spontaneität nicht mehr vorhanden ist und zum anderen das Gegenüber schon eine Ahnung hat, worüber er befragt wird?“
„Das war nicht leicht. Bei der Konzeption der Sendung haben wir diese Argumente lange hin- und hergewälzt. Damit ich Sicherheit verspüre, stellten wir die Situation in der U-Bahn nach. Dazu wurde ein U-Bahnwagon nachgebaut und in der Mitte durchgeschnitten. Ich hatte jeden Monat eine Sendung und interviewte normale Bürger. Nachdem ich anfangs mit Gästen über deren Berufe, Hobbys und Essgewohnheiten plauderte, wurde ich im Laufe der Zeit mutiger. Themen waren zum Beispiel die Familienverhältnisse und andere persönliche Sachen.“
„Wiederholten sich nicht die Fragenkomplexe und wurde die Sendung auf Dauer nicht abgestumpft?“ fragte Helena mit interessierter Stimme.
„Die Gefahr bestand. Ich griff daher auf mein kabarettistisches Talent zurück und hinterfragte meine Gäste zunehmend in humoristischer und manchmal auch sarkastischer Art.“
„Ihr Erfolg wuchs folglich aus dem Gesichtsverlust anderer“, konstatierte Helena.
„Nein, ich glaube nicht, dass ich jemals mein Gegenüber unter der Gürtellinie traf!“ stellte Kurt mit schnittiger Stimme klar und verstummte.
Helena realisierte, dass sie sich verbal