Emile Zola

Ein feines Haus


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Zeitungen selbstverständlich verstecken und den Bücherschrank abschließen. Ein kleines Fräulein erfährt davon noch immer zuviel, erklärte die alte Dame abschließend.

      Während ihre Mutter sprach, schaute Marie mit verschwommenem Blick ins Leere. Sie sah die klösterlich abgesperrte kleine Wohnung wieder, diese engen Räume in der Rue Durantin, wo sie sich nicht mit den Ellbogen aufs Fensterbrett lehnen durfte. Es war eine verlängerte Kindheit, allerlei Verbote, die sie nicht begriff, Zeilen, die ihre Mutter in ihrer Modezeitung mit Tinte durchstrich und deren schwarze Balken sie zum Erröten brachten, von Anstößigkeiten gereinigte Lektionen, die selbst ihre Lehrerinnen in Verlegenheit setzten, wenn sie diese ausfragte. Eine sehr sanfte Kindheit im übrigen, ein schlaffes und laues Heranwachsen wie in einem Treibhaus, ein Wachtraum, in dem die Wörter der Sprache und die täglichen Begebenheiten zu albernen Bedeutungen entstellt wurden. Und noch jetzt, da sie, von diesen Erinnerungen erfüllt, verloren vor sich hin blickte, schwebte auf ihren Lippen das Lachen eines Kindes, das in der Ehe unwissend geblieben war.

      »Sie können mir wirklich glauben, wenn es Ihnen beliebt, mein Herr«, sagte Herr Vuillaume, »meine Tochter hatte mit über achtzehn Jahren noch keinen einzigen Roman gelesen ... Nicht wahr, Marie?«

      »Ja, Papa.«

      »Ich besitze«, fuhr er fort, »die sehr schön eingebundenen gesammelten Werke von George Sand20, und trotz der Befürchtungen ihrer Mutter habe ich mich entschlossen, ihr ein paar Monate vor ihrer Verheiratung zu erlauben, den ›André21‹ zu lesen, ein ungefährliches, phantasievolles Werk, das die Seele erhebt ... Ich, ich bin für eine freisinnige Erziehung. Die Literatur hat gewiß ihre Berechtigung ... Diese Lektüre hat eine außerordentliche Wirkung auf unsere Tochter ausgeübt, mein Herr. Sie weinte nachts im Schlafe: ein Beweis dafür, daß zum Begreifen des Genies nichts besser geeignet ist als eine reine Phantasie.«

      »Es ist so schön!« murmelte die junge Frau, deren Augen glänzten.

      Aber nachdem Pichon die folgende Theorie dargelegt hatte: vor der Ehe keine Romane, in der Ehe alle Romane, schüttelte Frau Vuillaume den Kopf. Sie lese niemals und befände sich doch wohl dabei.

      Nun sprach Marie leise von ihrer Einsamkeit.

      »Mein Gott, bisweilen nehme ich ein Buch zur Hand. Übrigens sucht Jules sie für mich in der Leihbücherei in der Passage Choiseul aus ... Wenn ich wenigstens noch Klavier spielen könnte!«

      Octave verspürte schon lange das Bedürfnis, einen Satz anzubringen.

      »Wie, Madame!« rief er aus. »Sie spielen nicht Klavier?«

      Es entstand Verlegenheit. Die Eltern schützten eine Verkettung unglücklicher Umstände vor, da sie nicht eingestehen wollten, daß sie die Kosten gescheut hatten. Übrigens versicherte Frau Vuillaume, Marie könne von Geburt aus richtig singen; als junges Mädchen habe sie allerlei sehr hübsche Lieder singen können, sie hätte die Melodien nur einmal zu hören brauchen, um sie zu behalten; und die Mutter erinnerte an jenes spanische Lied – die Geschichte einer Gefangenen, die sich nach ihrem Herzliebsten sehnt –, das sie als Kind so ausdrucksvoll vorzutragen pflegte, daß auch den verstocktesten Herzen Tränen entlockt wurden.

      Aber Marie blieb untröstlich. Die Hand nach dem Nebenzimmer ausstreckend, wo ihr Töchterlein schlief, beteuerte sie: »Ach, ich schwöre feierlich, daß Lilitte Klavier spielen lernen wird, und wenn ich die größten Opfer bringen müßte!«

      »Denke zunächst einmal daran, sie so zu erziehen, wie wir dich selber erzogen haben«, sagte Frau Vuillaume streng. »Gewiß, ich habe nichts gegen die Musik, sie entfaltet das Gemüt. Vor allem aber gib auf deine Tochter acht, halte die schlechte Luft von ihr fern, sieh zu, daß sie ihre Unwissenheit bewahrt ...« Sie begann wieder von vorn, sie legte sogar noch mehr Nachdruck auf die Religion, legte fest, wie oft ein Mädchen im Monat zur Beichte zu gehen habe, bestimmte die Messen, die man unbedingt besuchen müsse, und das alles unter dem Gesichtspunkt der Schicklichkeit.

      Da sprach Octave erschöpft von einer Verabredung, die ihn nötige aufzubrechen. Seine Ohren sausten vor Langeweile, er war sich klar, daß dieses Gespräch in solcher Weise bis zum Abend weitergehen würde. Und er flüchtete, mochten doch die Vuillaumes und die Pichons vor immer denselben langsam ausgetrunkenen Tassen Kaffee sitzen und sich untereinander erzählen, was sie sich Sonntag für Sonntag aufs neue wiederholten. Als er ein letztes Mal grüßte, wurde Marie mit einem Schlag und ohne Grund purpurrot.

      Von diesem Nachmittag an beschleunigte Octave sonntags vor der Tür der Pichons seine Schritte, besonders wenn er Herrn und Frau Vuillaumes rechthaberische Stimmen hörte. Im übrigen war er ganz mit Valéries Eroberung beschäftigt. Trotz der flammenden Blicke, deren Ziel er zu sein glaubte, wahrte sie eine unerklärliche Zurückhaltung; und darin sah er das Spiel einer koketten Frau. Eines Tages begegnete er ihr sogar wie zufällig im Jardin des Tuileries, wo sie seelenruhig über ein Gewitter vom Tage zuvor zu plaudern begann, was ihn vollends darin bestärkte, daß verteufelt viel mit ihr los sei. So ging er denn überhaupt nicht mehr von der Treppe weg und paßte den Augenblick ab, da er, zur Brutalität entschlossen, in ihre Wohnung eindringen konnte.

      Sooft er jetzt vorüberging, lächelte Marie errötend. Sie wechselten freundnachbarliche Grüße. Als er ihr eines Tages gegen Mittag einen Brief hinaufbrachte, womit Herr Gourd ihn betraut hatte, um sich die vier Treppen zu ersparen, fand er sie in arger Verlegenheit: gerade hatte sie Lilitte im Hemd auf den runden Tisch gesetzt und war bemüht, sie wieder anzukleiden.

      »Was gibtʼs denn?« fragte der junge Mann.

      »Ach, es ist wegen der Kleinen hier!« erwiderte sie. »Mir ist der unselige Einfall gekommen, sie auszuziehen, weil sie jammerte. Und nun weiß ich nicht mehr weiter, ich weiß nicht mehr weiter!«

      Er blickte sie verwundert an. Sie drehte einen Rock hin und her, suchte die Häkchen. Dann setzte sie hinzu:

      »Sie verstehen, ihr Vater hilft mir doch immer morgens, bevor er geht, sie zurechtzumachen ... Allein finde ich mich in ihren Sachen ja nie zurecht. Das ärgert mich, das regt mich auf ...«

      Die Kleine, die es satt hatte, im Hemd dazusitzen, und durch Octaves Anblick erschreckt war, zappelte und warf sich auf dem Tisch hintenüber.

      »Geben Sie acht!« rief er. »Sie wird gleich runterfallen.«

      Es war eine Katastrophe. Marie sah ganz so aus, als wage sie die nackten Glieder ihrer Tochter gar nicht zu berühren. Sie betrachtete sie unausgesetzt mit der Verblüffung einer Jungfrau, die bestürzt darüber ist, daß sie so was hat machen können. Und außer der Furcht, der Kleinen Schaden zuzufügen, gesellte sich zu ihrer Ungeschicklichkeit ein unbestimmter Widerwille vor diesem lebenden Fleisch. Doch mit Hilfe Octaves, der sie beruhigte, kleidete sie Lilitte wieder an.

      »Was machen Sie bloß, wenn Sie erst ein Dutzend haben?« sagte er lachend.

      »Aber wir werden ja nie mehr eins bekommen!« erwiderte sie verstört.

      Da scherzte er: es sei nicht recht von ihr, das zu beschwören, ein Kind sei so schnell gemacht!

      »Nein, nein!« sagte sie immer wieder hartnäckig. »Sie haben Mama neulich gehört. Sie hat es Jules doch verboten ... Sie kennen sie nicht; es gäbe endlose Streitigkeiten, wenn noch ein zweites käme.«

      Octave hatte seinen Spaß an der Gelassenheit, mit der sie diese Frage erörterte. Er setzte ihr weiter zu, ohne daß es ihm gelang, sie verlegen zu machen.

      Sie mache übrigens, was ihr Mann wolle. Freilich, sie liebe Kinder; hätte sich ihr Mann noch welche wünschen dürfen, so hätte sie nicht nein gesagt. Und unter dieser Willfährigkeit, die sich den Befehlen der Mutter unterordnete, stach die Gleichgültigkeit einer Frau hervor, deren Mütterlichkeit noch nicht erwacht war. Lilitte nahm sie nicht mehr in Anspruch als ihr Haushalt, den sie aus Pflichtgefühl führte. Hatte sie das Geschirr abgewaschen und die Kleine spazierengefahren, so setzte sie ihr altes, von schläfriger Leere erfülltes Jungmädchenleben fort, eingewiegt von der unbestimmten Erwartung einer Freude, die nicht kommen wollte. Als Octave gesagt hatte, immer so allein müsse sie sich doch langweilen, schien sie überrascht zu sein; nein, sie langweile sich niemals, die Tage flössen ja trotz alledem dahin, ohne