Emile Zola

Ein feines Haus


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bekommen, so hätte sie jetzt, da sie alles lesen durfte, von morgens bis abends gelesen.

      »Ärgerlich ist nur«, meinte sie, »daß sie in der Leihbücherei in der Passage Choiseul nichts haben ... So wollte ich ›André‹ haben, um ihn noch einmal zu lesen, so sehr hat es mich damals zu Tränen gerührt. Nun ja, gerade ist ihnen der Band gestohlen worden ... Dazu schlägt mir mein Vater seinen eigenen ab, weil Lilitte die Bilder zerreißen könnte.«

      »Aber mein Freund Campardon«, sagte Octave, »hat die ganze George Sand ... Ich werde ihn um ›André‹ für Sie bitten.«

      Sie errötete, ihre Augen glänzten. Wahrhaftig, er sei zu liebenswürdig!

      Und als er sie verließ, stand sie mit baumelnden Armen, den Kopf ohne jeden Gedanken, vor Lilitte, in der Haltung, die sie ganze Nachmittage lang beibehielt. Nähen verabscheute sie, sie häkelte, und zwar immerzu die gleichen Spitzendeckchen, die auf den Möbeln herumlagen.

      Am Tage darauf, einem Sonntag, brachte Octave ihr das Buch. Pichon hatte fortgehen müssen, um eine Visitenkarte bei einem seiner Vorgesetzten abzugeben. Und da der junge Mann Marie fertig angekleidet antraf – sie war gerade von einem Gang in die Nachbarschaft zurückgekehrt –, fragte er sie aus Neugierde, ob sie aus der Messe zurückkäme, denn er hielt sie für fromm.

      Sie verneinte. Bevor ihre Mutter sie verheiratet hatte, habe sie sie ganz regelmäßig hingeführt. Während des ersten halben Jahres ihrer Ehe sei sie, da sie sich daran gewöhnt hatte, wieder hingegangen, in der ständigen Furcht, zu spät zu kommen. Als sie dann einige Messen versäumt habe, habe sie – warum, wisse sie nicht – den Fuß nicht mehr in eine Kirche gesetzt. Ihr Mann könne die Priester nicht ausstehen, und ihre Mutter sage zu ihr jetzt nicht einmal mehr ein Sterbenswort davon. Allerdings war sie durch Octaves Frage bewegt, als hätte er in ihr soeben Dinge wachgerufen, die unter den Trägheiten ihres Daseins begraben lagen.

      »Ich muß doch demnächst mal morgens in die Kirche Saint-Roch gehen«, sagte sie. »Eine Beschäftigung, die einem fehlt, das ruft sogleich eine Leere hervor.« Und auf diesem blassen Gesicht eines spät zur Welt gekommenen, von zu alten Eltern gezeugten Mädchens tauchte die krankhafte Sehnsucht nach einem anderen Dasein auf, das einst im Land der Phantasiegebilde erträumt worden war. Sie konnte nichts verheimlichen, alles stieg ihr ins Gesicht, unter diese Haut, die wie bei Bleichsucht fein und durchsichtig war. Dann wurde sie gerührt, mit einer vertraulichen Gebärde ergriff sie Octaves Hände. »Ach, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mir dieses Buch gebracht haben! Kommen Sie morgen nach dem Mittagessen. Ich werde es Ihnen zurückgeben und Ihnen sagen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hat ... Das wird Spaß machen, nicht wahr?«

      Als Octave sie verließ, dachte er, sie sei doch immerhin drollig. Sie interessierte ihn allmählich, er wollte mit Pichon sprechen, um ihn aufzutauen und zu veranlassen, sie ein bißchen aufzurütteln; denn sicherlich brauchte dieses Frauchen nur aufgerüttelt zu werden. Gerade am folgenden Tag traf er den Beamten, als der eben fortging; und er begleitete ihn auf die Gefahr hin, selber eine Viertelstunde zu spät ins »Paradies der Damen« zu kommen. Aber Pichon erschien ihm noch weniger aufgeschlossen als seine Frau, er steckte voller beginnender Wunderlichkeiten, sein ganzes Sinnen war darauf gerichtet, sich bei Regenwetter nicht die Schuhe zu beschmutzen. Er ging auf den Zehenspitzen und sprach dabei fortwährend von seinem stellvertretenden Bürovorsteher. Octave, der in dieser Angelegenheit von brüderlichen Absichten beseelt war, ließ ihn schließlich in der Rue Saint-Honoré laufen, nachdem er ihm geraten hatte, Marie oft ins Theater zu führen.

      »Warum denn?« fragte Pichon verdutzt.

      »Weil es gut ist für die Frauen. Das macht sie nett.«

      »Ach, meinen Sie?«

      Er versprach, daran zu denken, er überquerte die Straße, wobei er schreckerfüllt nach den Droschken ausspähte, da ihn im Leben allein die quälende Angst vor Dreckspritzern plagte.

      Zum Mittagessen klopfte Octave bei den Pichons, um das Buch wieder abzuholen. Marie las, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, beide Hände tief in das ungekämmte Haar vergraben. Soeben hatte sie, ohne erst ein Tischtuch aufzulegen, ein Ei aus einem Blechteller gegessen, der inmitten des Durcheinanders eines hastig gedeckten Tisches herumstand. Auf dem Boden schlief Lilitte, war dort vergessen worden und lag mit der Nase auf den Scherben eines Tellers, den sie sicher zerschlagen hatte.

      »Nun?« fragte Octave.

      Marie antwortete nicht sogleich. Sie hatte ihren Morgenrock anbehalten, dessen Knöpfe abgerissen waren, so daß ihr Hals zu sehen war, sah unordentlich aus wie eine Frau, die eben aufgestanden ist.

      »Ich habe kaum hundert Seiten gelesen«, sagte sie schließlich. »Meine Eltern sind gestern gekommen.« Und sie sprach mühsam mit einem bitteren Geschmack im Mund: Als sie noch jung war, hätte sie gern tief in den Wäldern gewohnt. Immerzu hatte sie davon geträumt, sie träfe einen Jäger, der in sein Horn stieß. Er war näher gekommen und vor ihr in die Knie gesunken. Das war in einem Dickicht geschehen, in weiter Ferne, wo Rosen blühten wie in einem Park. Darauf waren sie mit einem Mal miteinander vermählt gewesen, und dann hatten sie ewig lustwandelnd dort gelebt. Sie war sehr glücklich gewesen und hatte sich nichts weiter gewünscht. Mit der Zärtlichkeit und Ergebenheit eines Sklaven hatte er ihr zu Füßen gelegen.

      »Heute morgen habe ich mit Ihrem Mann gesprochen«, sagte Octave. »Sie gehen nicht genug aus, und ich habe ihn bewogen, Sie ins Theater zu führen.«

      Aber sie schüttelte den Kopf, ein Schauer ließ sie erblassen. Es trat Schweigen ein. Sie fand sich in dem engen Eßzimmer mit seinem kalten Tageslicht wieder. Das Bild des mürrischen und korrekten Jules hatte jäh seinen Schatten auf den Jäger aus den Liedern, die sie sang, geworfen, auf den Jäger, dessen fernes Horn stets in ihren Ohren ertönte. Zuweilen horchte sie: vielleicht kam er. Ihr Mann hatte niemals ihre Füße in seine Hände genommen, um sie zu küssen; auch war er niemals niedergekniet, um ihr zu sagen, daß er sie anbete. Jedoch liebte sie ihn sehr; aber sie wunderte sich, daß die Liebe nicht mehr Süße in sich barg.

      »Sehen Sie, mir benimmt es den Atem«, sagte sie, auf das Buch zurückkommend, »wenn in den Romanen Stellen vorkommen, wo die Leute einander Liebeserklärungen machen.«

      Zum ersten Mal hatte sich Octave hingesetzt. Er hätte beinahe gelacht, da er gefühlsseligen Liebeleien wenig Geschmack abgewinnen konnte.

      »Ich«, sagte er, »ich verabscheue leere Redensarten ... Wenn man füreinander schwärmt, ist es am besten, sich das sofort zu beweisen.«

      Aber sie schien nicht zu begreifen, ihr Blick war klar.

      Er streckte die Hand aus, streifte ihre Hand, beugte sich, um sich eine Stelle im Buch anzusehen, so weit zu ihr hinüber, daß sein Atem ihr durch den auseinanderklaffenden Morgenrock die Schulter wärmte, und ihr Fleisch blieb tot. Da stand er auf, von einer Geringschätzung erfüllt, in der auch etwas Mitleid lag.

      Als er aufbrach, sagte sie noch: »Ich lese sehr langsam, vor morgen werde ich nicht fertig sein ... Morgen wirdʼs aber Spaß machen! Kommen Sie abends herein.«

      Gewiß, er hatte nichts weiter mit ihr im Sinne, und dennoch war er in Aufruhr versetzt. In ihm entstand eine seltsame Freundschaft für dieses junge Ehepaar, das ihn aufbrachte, so blödsinnig kam es ihm dem Leben gegenüber vor. Und in ihm reifte der Gedanke, den beiden gegen ihren Willen gefällig zu sein: er würde sie zum Abendessen mitnehmen, würde sie betrunken machen, würde seinen Spaß daran haben, wenn sie sich einander an den Hals hängten. Wenn ihn diese Anwandlungen von Güte überkamen, dann warf er – der sonst keine zehn Francs verliehen hätte – das Geld leidenschaftlich gern zum Fenster hinaus, um zwei Verliebte aneinanderzuketten und ihnen Glück zu schenken.

      Im übrigen brachte die Kälte der kleinen Frau Pichon Octave wieder auf die feurige Valérie zurück. Die würde sich bestimmt nicht zweimal über den Nacken blasen lassen. Er machte Fortschritte in ihren Gunstbezeigungen: als sie eines Tages vor ihm die Treppe hinaufstieg, hatte er ein Kompliment über ihr Bein gewagt, ohne daß sie böse zu sein schien.

      Endlich bot sich die Gelegenheit, auf die er so lange gelauert. Es war an dem Abend, an dem er eigentlich zu Marie gehen wollte,