Emile Zola

Ein feines Haus


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plötzlich ein Platzregen nieder. Nun gab es eine wilde Flucht. Sie blieben stehen, rutschten aus, patschten umher, blickten erneut nach den leer vorüberrollenden Droschken.

      »Vorwärts!« schrie die Mutter unbarmherzig. »Jetzt ist es zu nahe, das lohnt keine vierzig Sous ... Euer Bruder Léon hat sich ja auch geweigert mitzukommen, aus Furcht, wir könnten ihn bezahlen lassen! Um so besser, wenn er seine Angelegenheiten bei dieser Dame erledigt! Aber anständig ist das gerade nicht, das dürfen wir wohl sagen. Eine Frau, die über die Fünfzig hinaus ist und die nur junge Leute empfängt! Ein ehemaliges nichtsnutziges Frauenzimmer, das eine hochstehende Persönlichkeit mit Dambreville, diesem Schwachkopf, verheiratet und den zum Bürochef ernannt hat!«

      Hortense und Berthe trabten im Regen hintereinander her und schienen nicht zu hören. Wenn ihre Mutter sich auf diese Weise Luft machte, mit allem rausplatzte und die übertriebene Strenge der guten Erziehung vergaß, mit der sie sie umgab, war es ausgemacht, daß sie taub wurden. Doch als sie sich in die düstere und menschenleere Rue de lʼEchelle wandten, empörte sich Berthe.

      »Ach, du meine Güte«, sagte sie. »Jetzt geht mein Absatz ab ... Ich kann nicht mehr weiter!«

      Frau Josserand wurde böse.

      »Wollt ihr wohl gehen! – Beklage ich mich denn? Kommt es mir denn zu, bei solchem Wetter zu dieser Stunde auf der Straße zu sein? – Wenn ihr wenigstens noch so einen Vater hättet, wie andere Väter sind! Aber nein, der Herr bleibt zu Hause und läßt sichʼs wohl sein. Immer bin ich dran, euch in Gesellschaft zu begleiten, nie würde er die Fron auf sich nehmen. Aber ich sage euch ein für allemal, daß mir das bis obenhin steht. Soll euer Vater euch ausführen, wenn er will; ich will des Teufels sein, wenn ich euch in Zukunft noch mal in Häuser führe, wo man mich ärgert! – Ein Mann, der mich über seine Fähigkeiten getäuscht hat und dem ich eine Annehmlichkeit geradezu herausziehen muß! Ach, Herrgott! So einen würde ich nicht heiraten, wenn ich mich noch mal entscheiden könnte!«

      Die jungen Mädchen pflegten nicht mehr zu widersprechen.

      Dieses unerschöpfliche Kapitel der zerschlagenen Hoffnungen ihrer Mutter kannten sie. Den Spitzenschal gegen das Gesicht geklatscht, gingen sie mit durchgeweichten Schuhen schnell die Rue Sainte- Anne entlang. Aber an ihrem Haustor in der Rue de Choiseul stand Frau Josserand eine letzte Demütigung bevor: die Kutsche der heimkehrenden Duveyriers bespritzte sie mit Straßendreck.

      Obgleich Mutter und Töchter kreuzlahm und wütend waren, hatten sie ihre liebenswürdige Miene wieder aufgesetzt, als sie auf der Treppe an Octave vorbeigehen mußten. Aber nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schossen sie wie wild durch die dunkle Wohnung, so daß sie sich an den Möbeln stießen, und stürzten ins Eßzimmer, wo Herr Josserand beim spärlichen Schimmer einer kleinen Lampe schrieb.

      »Wieder nichts!« schrie Frau Josserand und sank auf einen Stuhl hin. Und mit roher Gebärde riß sie den Spitzenschal herunter, der ihren Kopf verhüllte, warf sie ihren Pelz auf die Stuhllehne zurück und kam in einem feuerroten, mit schwarzem Atlas besetzten, sehr tief ausgeschnittenen Kleid zum Vorschein, wirkte gewaltig mit ihren Schultern, die noch immer schön waren und den glänzenden Schenkeln einer Stute glichen. Ihr vierschrötiges Gesicht mit den Hängebacken und der zu starken Nase drückte die tragische Wut einer Königin aus, die an sich hält, um nicht in die Worte eines Fischweibs zu verfallen.

      »Aha!« machte Herr Josserand lediglich, ganz verdattert über dieses Hereinstürmen. Von Besorgnis erfaßt, zuckte er mit den Lidern. Seine Frau erdrückte ihn schier, wenn sie diesen Riesenbusen zur Schau stellte, den er wie einen Erdrutsch auf seinem Nacken zu spüren glaubte. Er hatte einen alten, zerschlissenen Überrock an, den er zu Hause abtrug, sein Gesicht war von fünfunddreißig Bürojahren gleichsam aufgeweicht und verblichen, und er sah seine Frau einen Augenblick mit den glanzlosen Blicken seiner geschwollenen blauen Augen an. Nachdem er dann die Locken seines angegrauten Haares hinter die Ohren zurückgestrichen hatte, versuchte er sich ganz verlegen und kein Wort herausbringend wieder an seine Arbeit zu machen.

      »Aber begreifst du denn nicht?« schmetterte ihm Frau Josserand mit schriller Stimme entgegen. »Ich sage dir, daß wieder mal eine Partie im Eimer ist, und das ist nun die vierte!«

      »Ja, ja, ich weiß, die vierte«, murmelte er. »Das ist verdrießlich, recht verdrießlich ...« Und um der schreckenerregenden Nacktheit seiner Frau zu entgehen, wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln zu seinen Töchtern um.

      Sie legten ebenfalls ihre Spitzenschals und Ballumhänge ab; die ältere war blau gekleidet, die jüngere rosa; und ihre allzu frei geschnittenen, allzu reich besetzten Toiletten waren gleichsam eine Herausforderung. Hortense, die einen gelben Teint hatte und deren Gesicht durch die Nase ihrer Mutter verunstaltet wurde, die ihr den Ausdruck hochnäsiger Eigensinnigkeit verlieh, war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden und sah aus wie achtundzwanzig, während die zwei Jahre jüngere Berthe eine unversehrte kindliche Anmut bewahrte, denn sie hatte zwar dieselben Züge, aber sie waren bei ihr feiner und blendend weiß, und ihr drohte nur die plumpe Maske, die in der Familie um die Fünfzig herum zum Vorschein kam.

      »Wenn du uns bloß alle drei ansehen wolltest!« schrie Frau Josserand. »Und laß um Gottes willen deine Schreiberei sein, die geht mir auf die Nerven!«

      »Aber, meine Beste«, sagte er friedfertig, »ich mache doch Streifbänder.«

      »Ach ja, deine Streifbänder zu drei Francs das Tausend! – Wenn du hoffst, etwa deine Töchter mit diesen drei Francs unter die Haube zu bringen!«

      Der vom spärlichen Schimmer der kleinen Lampe beleuchtete Tisch war in der Tat mit breiten Bogen grauen Papiers übersät, mit bedruckten Streifbändern, die Herr Josserand für einen großen Verlag, der mehrere periodisch erscheinende Zeitschriften herausgab, ausfüllte. Da sein Gehalt als Kassierer keineswegs ausreichte, verbrachte er ganze Nächte mit dieser undankbaren Arbeit, sich verbergend, von Scham erfaßt bei dem Gedanken, man könnte die Geldverlegenheit der Familie entdecken.

      »Drei Francs sind drei Francs«, erwiderte er mit seiner schleppenden und müden Stimme. »Diese drei Francs da erlauben euch, zusätzlich Bänder für eure Kleider zu kaufen und euren Gästen beim Dienstagsempfang Kuchen anzubieten.«

      Ihm tat dieser Satz sofort leid, denn er fühlte, daß er Frau Josserand mitten ins Herz, in die empfindliche Wunde ihres Stolzes traf. Eine Woge von Blut färbte ihre Schultern purpurrot, sie schien nahe daran, in rächende Worte auszubrechen; dann stammelte sie, mühsam nach Würde ringend, lediglich: »O mein Gott! O mein Gott!« Und sie blickte auf ihre Töchter, sie zerschmetterte ihren Mann herrisch mit einem Zucken ihrer gewaltigen Schultern, als wolle sie sagen: He! Hört ihr, was er sagt? So ein Blödling!

      Die Töchter schüttelten den Kopf.

      Da der Vater sich geschlagen sah, legte er widerstrebend seine Feder hin und faltete die Zeitung »Le Temps9« auseinander, die er jeden Abend aus dem Büro mitbrachte.

      »Schläft Saturnin?« fragte Frau Josserand schroff; sie sprach von ihrem jüngsten Sohn.

      »Schon lange«, erwiderte ihr Mann. »Adèle habe ich auch weggeschickt ... Und Léon, habt ihr ihn bei Dambrevilles gesehen?«

      »Mein Gott noch mal! Er schläft ja dort!« brachte sie in einem grollerfüllten Schrei hervor, den sie nicht unterdrücken konnte.

      Vor Überraschung war der Vater so naiv hinzuzufügen: »Ach, glaubst du?«

      Hortense und Berthe waren taub geworden. Über ihre Lippen huschte jedoch ein leises Lächeln, und sie taten so, als beschäftigten sie sich mit ihren Schuhen, die in einem jämmerlichen Zustand waren.

      Um abzulenken, suchte Frau Josserand einen anderen Streit mit ihrem Mann: sie bat ihn, er solle seine Zeitung jeden Morgen wieder mitnehmen und sie nicht einen ganzen Tag lang in der Wohnung herumliegen lassen wie zum Beispiel gestern; ausgerechnet eine Nummer, in der etwas über einen abscheulichen Prozeß gestanden habe, was seine Töchter hätten lesen können. Daran erkenne sie genau seinen geringen sittlichen Wert.

      »Na, gehen wir schlafen?« fragte Hortense. »Ich, ich habe Hunger.«

      »Oh, und