steckte. Wie doof kann man nur sein, dachte Pocher, einen Drogendeal an einem Ort zu vollziehen, der bekanntermaßen von Kameras überwacht wird. Wie sich später herausgestellt hatte, waren in dem Beutel tausend Ecstasy-Pillen gewesen. Sie hatten den Jungen geschnappt, suchten aber immer noch nach dem vermeintlichen Verkäufer.
In Gedanken war Pocher mit einem Mal woanders. Er stellte sich vor, seinen Job an der südfranzösischen Küste auszuüben, befristet zwar, aber das hatte schon etwas Verlockendes! Ein solcher Tapetenwechsel würde ihm vielleicht guttun, ihn nach vorne bringen, ihm neue Lebensimpulse geben, er fühlte sich in einer emotionalen Sackgasse. Er machte mehr oder weniger Dienst nach Vorschrift, gab zwar sein Bestes, um Licht ins Dunkel der Kölner Unterwelt zu bringen, aber nach Feierabend zog er sich mehr und mehr zurück, vernachlässigte den Kontakt zu seiner Familie, den es trotz räumlicher Trennung immer noch gab. Er war zum Einzelgänger geworden, widmete sich seiner Musik, um nicht gänzlich zu veröden in seiner Isolation, suchte nach Auswegen aus der gefühlten Einsamkeit, obschon es immerhin noch Kontakte und Begegnungen gab mit seiner Familie und den Geschwistern und Eltern von Barbara. Seine eigene Lieblingsschwester, zu der er ein sehr vertrautes Verhältnis hatte, lebte in Neuseeland und hatte gerade selbst arge Probleme damit, dass ihr Mann einen heftigen Schlaganfall erlitten hatte. Und seine Kollegen wollte er nicht damit behelligen, dass er unter einem gewissen Leidensdruck stand, denn seit der Trennung von Barbara war er so gut wie nicht mehr mit dem anderen Geschlecht zu einer zufriedenstellenden Berührung gekommen.
Es hatte zwischenzeitlich nur eine Fast-Affäre gegeben, ausgerechnet mit einer Kollegin, aber kurz bevor er dazu bereit gewesen war, ihr ernsthafte Avancen zu machen, hatte sie sich versetzen lassen, ausgerechnet nach Düsseldorf!
Er war später in seiner kleinen Wohnung in Mülheim, in einem ziemlich heruntergewirtschafteten und unscheinbaren Mehrfamilienhaus auf der anderen Rheinseite. Die Mehrheit der Mieter, schätzte er, waren türkische Familien. Er ging im Wohnraum auf und ab und rief Barbara an, seine Noch-Frau. Nach mehrmaligem Tuten nahm jemand am anderen Ende der Leitung den Hörer ab. „Hallo?“, vernahm er die Stimme seiner Tochter.
„Hier ist der Papa. Ist die Mama da?“
Er hörte seine Tochter rufen: „Mama! Papa ist am Telefon!“ Außerdem vernahm er übliches Geschirrklappern, Musik und das Gerede seines Sohnes im Hintergrund. Es hörte sich an, als wenn noch mehr Leute im Haus wären. Dann gab es ein kratzendes Geräusch.
„Schön, dass du anrufst“, sagte Barbara, „hast du vergessen, dass du versprochen hattest, Jens vom Training abzuholen? Wer hat ihn wohl abgeholt? Ich natürlich. Außerdem hast du gesagt, dass du am Wochenende die Steuererklärung fertig machen wolltest. Und wo bist du geblieben? Ich sitze auf dem ganzen Scheißkram und warte vergeblich, dass du ein Lebenszeichen von dir gibst. Die Kinder brauchen dich, Mensch, die schlagen hier völlig über die Stränge. Jens weigert sich, seine Hausaufgaben für die Schule zu machen, Jasmin sitzt seit dem Abitur hier herum und weiß nicht, was sie nun anfangen soll. Du kriegst ja gar nichts mehr mit. Weißt du überhaupt, dass sie ein Bewerbungsgespräch beim Stadtanzeiger einfach hat platzen lassen? Und Jonas war neulich hier. Da habe ich ihn gebeten, ein paar Dinge einzukaufen. Nö, war die Antwort. Jonas hat ja eine Bude in Tübingen, aber ich habe ihn schon zurechtgestutzt, dass er hier auch im Sinne der Gemeinschaft Dinge zu erledigen hat, wenn er in Köln ist. Und wer räumt die Spülmaschine ein, wenn wir gegessen haben? Was meinst du? Alles bleibt an mir hängen. Und du verpisst dich einfach in deine Arbeit. Ich hasse dich! Vor zwei Wochen hattest du versprochen, dich um die kaputte Regenrinne zu kümmern. Was ist passiert? Nichts!“
„Ich hatte einen Sondereinsatz“, versuchte Pocher, dazwischenzukommen.
„Deine Sondereinsätze kannst du dir in die Haare schmieren. Wenn du dich nicht mehr um deine Kinder kümmerst, dann sind die weg vom Fenster. Jasmin ist einfach noch zu unentschlossen und weiß nicht, ob sie nicht doch lieber studieren möchte. Aber Jens ist am schlimmsten. Der hat alle Chancen und nutzt sie nicht. Statt Schularbeiten zu machen und sich aufs Abitur vorzubereiten, ist der nur noch am Chatten und Chillen. Ich halte das nicht mehr aus. Ich habe Jens gesagt, er soll zu dir ziehen. Darauf hat er mich nur angegrinst und gesagt, okay, dann ziehe ich zu Papa. Willst du das? Willst du, dass aus Jens ein Versager wird, ein Totalverweigerer?“
„Nein“, wendete Pocher ein. „Natürlich nicht.“
„Wo bleibst du denn, um aus den Kindern fröhliche, erfolgreiche Menschen zu machen? Immer wieder muss ich erleben, dass deine Versprechen nicht eingehalten werden, dass du mit Jens Hausaufgaben machen willst, dass du mich unterstützt bei der Bewältigung des Alltagskrams und bei der Erziehung der Kinder. Das sind doch auch deine Kinder! Kannst du Jens nicht mal sagen, dass er jetzt seine Hausaufgaben erledigen soll?“
„Gib mir Jens ans Telefon“, sagte Pocher, obgleich er eigentlich etwas anderes mitteilen wollte. Nach einer Weile sprach er seinem Sohn ordentlich ins Gewissen, er versuchte es wenigstens. Und er bekam ihn in der Tat dazu, seine Freunde nach Hause zu schicken, der Sohn versprach, danach sich noch auf die Englischarbeit am nächsten Tag vorzubereiten. „Du weißt, wenn du nicht machst, was ich sage, schicke ich die Polizei“, fügte er noch scherzhaft an. „Gibst du mir noch einmal die Mama?“
Dann griff Barbara nach dem Telefonhörer: „Ja!“
„Ich bin versetzt worden“, fügte Pocher nach einer Kunstpause hinzu, und es gelang ihm nicht, es ganz sachlich auszudrücken, sondern er schlug unbewusst einen Neid weckenden Ton an. „Nach Südfrankreich!“
„Was? Du verpisst dich auch noch aus Köln? Wie soll ich das verstehen? Gut, Jens‘ Freunde sind gerade weg, und vielleicht macht er noch eine halbe Stunde Englisch. Du wirst hier gebraucht, verstehst du? Und jetzt sagst du mir, dass du nach Südfrankreich gehst.“
„Es ist eine Dienstreise, Anweisung von oben“, sagte Pocher.
„Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst!“
Er konnte durch den Telefonhörer spüren, dass seine Noch-Frau den Tränen nahe war, vor Wut und Verzweiflung.
„Verpiss dich doch, du Arschloch!“, sagte sie und legte den Hörer auf. Er hatte noch ein Kitzeln im Ohr, das er immer bekam, wenn er lange mit seiner Noch-Frau telefoniert hatte.
2.
Am nächsten Morgen klopfte Gerd Pocher pünktlich um neun Uhr an der Bürotür von Polizeioberrat Schmidt. „Ich mache das“, sagte er.
„Jut“, sagte Schmidt, „sehr gut.“ Er deutete Pocher an, Platz zu nehmen. „Sie helfen uns gewissermaßen aus der Verlegenheit. Wir hatten schon lange einen Kollegen für den Austausch vorgesehen. Aber der ist kurzfristig abgesprungen, gesundheitsbedingt.“ Schmidt beugte sich vor und ergänzte leise und ernsthaft. „Angeschossen.“
„O, tut mir leid, ist es ernsthaft? Wen hat es getroffen?“, fragte Pocher nach.
„Er wird durchkommen, Kriminalhauptkommissar Klaus-Peter Gimnich.“
Während Pocher etwas erschrocken und betroffen dreinschaute, Gimnich war nämlich der wesentliche Grund gewesen, um seinerzeit in die Drogenabteilung zu wechseln, kehrte Schmidt zum eigentlichen Thema zurück.
In fünf Wochen, Ende Juli, sollte es nämlich schon losgehen. „Wir werden die Kollegen in Montpellier informieren. Pocher, Sie machen diese Woche normal Dienst und Übergabe, die letzten Berichte und so weiter. Ab kommender Woche sind Sie freigestellt. Wir haben einen Crashkursus in Französisch für Sie gebucht und am 31. Juli einen Flug nach Montpellier. Dort wenden Sie sich bitte an eine Frau Lapin bei der Polizei Judizi-ähm …“
„D’accord“, sagte Pocher. „Police judiciaire, auf Deutsch: Kriminalpolizei.“
„Sie können ja doch mehr Französisch als fünf Scheiben Schinken“, lachte Schmidt. In Pochers Personalakte war freilich vermerkt gewesen, dass er während seines am Ende abgebrochenen Jurastudiums zwei Semester in Frankreich gewesen war.
Es war purer Zufall gewesen, dass Pocher im Treppenhaus in dem heruntergekommenen Mietshaus in Mülheim jenem Mann begegnet war, den er als den Ecstasy-Verkäufer