Wohnung ein Labor zur Herstellung synthetischer Drogen betrieben. Für Pocher war der Fall abgeschlossen, und er hatte auch die Kollegen darüber informiert, dass er dafür jetzt nicht mehr zuständig sei.
Eine Woche später drückte er in Hürth die Schulbank, paukte Fachvokabular wie Mord und Totschlag, Struktur der Nationalpolizei, juristische Terminologie, was für ihn aber nur wie eine Wiedererinnerung an seine Zeit an der Uni von Nizza war, Verhörmethoden und aktuelle Politik. Zur Abwechslung gab es zwischendurch französischsprachige Krimikomödien zu sehen, unter anderem einen Filmklassiker mit Louis de Funès als Gendarm von Saint-Tropez.
Seine Noch-Frau hatte sich inzwischen offenbar damit abgefunden, dass er für drei Monate ins Ausland gehen würde. Die Kinder waren wieder etwas besser drauf. Inzwischen hatten auch für Jens die Sommerferien begonnen. Er wollte zusammen mit seiner Mutter und einem ihrer Arbeitskollegen an die Nordseeküste. Er dürfe auch einen Freund mitnehmen. „Wir haben in Büsum ein Appartement gebucht“, sagte Jens, als die Kinder an einem Wochenende bei ihm zu Besuch und sie zum Döner im Nachbarhaus gegangen waren. „Nächsten Samstag, glaube ich, geht es schon los. Und danach habe ich noch eine Woche Trainingslager im Sauerland.“
Jasmin und Jonas wussten noch nicht so genau, was sie mit den Sommerferien anfangen sollten. Nach Büsum wollten sie jedenfalls nicht. Pocher bot Jasmin an, dass sie so lange sein Auto, einen silberfarbenen Toyota, haben könnte. Sie müsse ihn dafür aber am Montag zum Flughafen bringen, zum Flughafen nach Hahn, ergänzte er. Offenbar hatte es von Köln aus keine passende Verbindung gegeben. Die Polizeidirektion hatte die Entfernung zu dem Flughafen im Hunsrück für zumutbar gehalten, und von dort gab es freitags und montags Direktflüge nach Montpellier, die zudem preisgünstig waren.
3.
Pocher ließ sich entspannt in den Sessel sinken, als die entsprechenden Zeichen zur Anschnallpflicht mit einem Signalton erloschen. Wenigstens versuchte er, sich zu entspannen. Der Kriminalhauptkommissar schwebte hoch über Europa einem neuen Aufgabengebiet entgegen. Er hatte keine Ahnung, was ihn dort erwartete. Es war schon einige Jahre her, dass er zuletzt in Frankreich gewesen war. Barbara, die Kinder und er hatten sich ein Wohnmobil gemietet und waren drei Wochen lang durch die Provence gefahren und an der Côte d’Azur entlang. Sie waren in Grasse gewesen, in Nizza, Cannes, Saint-Tropez und Sanary-sur-Mer.
In den vergangenen Jahren war er aber nicht mehr dazu gekommen zu verreisen. Seit er sich von seiner Frau getrennt und eine eigene Wohnung auf der anderen Rheinseite gemietet hatte, herrschte chronischer Geldmangel. Er hatte es sich einfach nicht mehr leisten können, innerhalb von zwei oder drei Wochen ein paar tausend Euro zu verjubeln. Außerdem unterstützten sie ihre anspruchsvollen Kinder finanziell, um ihnen einen angenehmen Start ins eigene Berufsleben, also unter anderem ein Studium, zu ermöglichen. Dazu waren die Kinder in einem Alter, in dem sie ohnedies nicht mehr mit den Eltern Urlaub machen wollten. Deshalb wunderte es ihn allerdings, dass Jens dann doch noch mal mit Barbara an die Nordsee gefahren war. Eine Notlösung vielleicht, dachte er, nach dem Motto: besser Nordseeurlaub als Köln wie immer.
Pocher ließ sich einen Kaffee einschenken, für den die Stewardess gleich 4,80 Euro abkassierte, und stellte den Becher auf das Ablagebrett. Er schaute aus dem Fenster. Mittlerweile mussten sie schon über Frankreich sein. Er versuchte, sich zu orientieren anhand der Flüsse und Autobahnen, die er ausmachen konnte. Die Wolkendecke war inzwischen aufgerissen, und Richtung Süden war leidlich klare Sicht.
4.
Es war einer der heißesten Tage des Sommers. Renée Lebrun hatte sich in einem dünnen Shirt mit Spaghettiträgern ins Büro gewagt. Monteure mit nackten Oberkörpern, die durch die Räume schlichen, starrten unverhohlen auf ihren roten, spitzenverzierten BH, der unter dem Spaghettiträger-Shirt kaum verborgen blieb. Der Kriminalbeamtin war es egal. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Die Klimaanlage war ausgefallen. Wenn es die Monteure nicht von ihrer Arbeit ablenkte, sollten sie sie ruhig einmal flüchtig anglotzen. Sie war nicht mehr die Jüngste, aber mit ihrer Figur brauchte sie nicht zu hadern.
Sie grübelte über eine Serie von Kindesentführungen. Drei Kinder waren spurlos verschwunden. Sie hatte noch keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib.
Pierre Moulin kam herein, ein kurzärmliges Hemd über der behaarten Brust weit geöffnet. Er fragte seine Kollegin, wann die Verstärkung aus Deutschland kommen würde.
„Gerd Pocher“, sagte Commandante Lebrun, und der Nachname klang wie „Pocker“: „Er soll heute oder morgen ankommen. Commissaire Lapin hat es mir gesagt. Meinst du, dass er uns in den Entführungsfällen weiterbringen kann?“
„Vielleicht hat er ja eine Idee“, meinte Pierre. „Aber ich denke, er muss sich erst einmal mit den Örtlichkeiten in Agde vertraut machen. Er kann sich ja noch nicht hier auskennen.“
„Außerdem muss er sich noch akklimatisieren. Das wird nicht einfach sein, solange die Klimaanlage nicht wieder läuft.“ Renée Lebrun verschränkte ihre nackten Arme hinter dem Kopf, um etwas Luft an die verschwitzten Haare in den Achselhöhlen zu bekommen, vergeblich. In dem Büro stand die Luft trotz weit geöffneter Fenster. Erneut trampelten die beiden halbnackten Monteure durch den Raum und schleppten eine Art Schrank aus Edelstahl hinaus.
„Der Konverter auf dem Dach muss ausgewechselt werden“, sagte einer der Monteure und pfiff anerkennend durch die Zähne, als er erneut und ungeniert auf ihren Busen starrte, der sich dadurch, dass sie die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte, aufgerichtet hatte, sodass der BH sich deutlich durch das verschwitzte Spaghettiträger-Top abzeichnete. Warum der Zugang zum Dach ausgerechnet durch ihr Büro führte, war ihr ein Rätsel. Aber offenbar war der Weg durch das Fenster und über eine Außentreppe einfacher als der offizielle Dach-Ausstieg vom Treppenhaus aus.
„Wir sollen am Anfang pfleglich mit ihm umgehen, aber wir sollen ihn auch nicht schonen. Der deutsche Kollege soll gleich in die Ermittlungsarbeit mit einbezogen werden“, sagte Renée. „Das hat Commissaire Lapin gesagt.“
Pierre hatte unterdessen Fotos von den Kindern besorgt und blätterte sie auf Renées Schreibtisch. „Lucas Grospièrre, 7 Jahre alt, aus Lyon, verschwunden am 22. Juli, er war in einem Ferienlager in der Nähe von Frontignan, zuletzt gesehen am 22. Juli in Frontignan.“
Das nächste Bild: „Hugo Martin, 5 Jahre alt, verschwunden am 24. Juli auf dem Weg von einer kirchlichen Veranstaltung, einer Kinderbibelwoche, in Agde. Er war auf dem Heimweg und ist von den Betreuerinnen zuletzt gesehen worden.“
Drittes Bild: „Raphaël Chapias, 7 Jahre alt, verschwunden am 25. Juli, ebenfalls auf dem Weg von einer Kinderbibelwoche nach Hause. Dort war er zuletzt gesehen worden. Seither fehlt von den Jungen jede Spur.“
„Wir haben den letzten Juli. Die Kinder sind also mehr als eine Woche verschollen“, resümierte Renée. „Meinst du, dass sie noch leben?“
„Ich habe ja manchmal wenig Phantasie“, sagte Pierre. „Aber ich befürchte, dass sie nicht entführt wurden, um Geld zu erpressen. Dann hätten sich die Verbrecher längst gemeldet. Außerdem ist bei den Eltern nicht viel zu holen.“
Renée betrachtete die Bilder der unschuldigen Kinder. „Sondern?“
„Missbrauch!“
Renée beugte sich wieder nach vorne und spürte, wie ihr angenehm kühlend ein paar Schweißperlen an Hals und Rücken hinunterrannen. „Du meinst Pädophilie?“
„Exactement“, meinte Pierre. „Ich mache mir Sorgen. Du weißt, ich habe selbst zwei kleine Kinder, bald drei.“
„Wie geht es Katja?“, fragte Renée beiläufig.
„Na ja, die Hitze setzt ihr schon etwas zu, aber sonst geht es ihr den Umständen entsprechend gut.“
„Wann ist es soweit?“
„Es kann jetzt jederzeit losgehen.“
„Wenn nicht augenblicklich diese verdammte Klimaanlage in Gang gesetzt wird, gebe ich uns hitzefrei.“ Renée versuchte sich mit dem Top Luft zuzufächern, indem sie es am unteren