»Du bist doch nur neidisch, weil du keinen Freund hast«, fauchte Josy und ließ ihre verdutzte Freundin stehen.
Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad musste sie wohl oder übel über Esthers Vorwurf nachdenken. Er hätte auch von Titus stammen können.
Natürlich hatte Esther recht. In den drei Monaten ihrer Beziehung war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht gesehen hatte. Sie wusste, dass er sich manchmal eingeengt fühlte. Trotzdem konnte sie nicht anders. Die Angst, er könnte sie für ein paar Stunden vergessen oder ohne sie Spaß haben, brachte sie fast um den Verstand. So radelte Josephine auch an diesem Tag wieder zur Bäckerei ›Schöne Aussichten‹. Es war ein herrlicher Tag ihm Hochsommer. Allen Menschen auf der Straße malte die Sonne ein Strahlen ins Gesicht. Luftige Kleider flatterten in einer milden Brise. Vögel zwitscherten, Kinderkreischen mischte sich mit fröhlichem Lachen. Von alledem bemerkte sie nichts. Völlig fixiert auf ihr Ziel trat sie in die Pedale und erreichte schließlich atemlos und verschwitzt das Café. Sie sprang vom Fahrrad und lehnte es an die Wand. Fahrig strich sie sich durchs Haar und biss sich auf die Lippen, damit sie in schönem Rot leuchteten. Wie immer wollte sie den Hintereingang in die Backstube benutzen, als ihr schon von weitem Stimmen und Gelächter entgegenschlug. Sie spähte um die Ecke und entdeckte die lustige Gesellschaft im Hinterhof. Zwischen großen Topfpflanzen und allerlei Gartengerät, Rosenbögen und Kletterwänden standen hübsch gedeckte Tische. Mit ihrem untrüglichen Gespür hatte Tatjana hier ein kleines Gartenparadies inmitten der Großstadt geschaffen, wo sich die Gäste – allesamt weiblich – offenbar sehr wohl fühlten. Schon wollte sich Josy an der Wand vorbeidrücken, als sie ihren Freund zwischen den Frauen entdeckte. Titus hielt ein leeres Tablett in der Hand und unterhielt sich angeregt mit einer hübschen Blondine. Schlagartig brannte Josys Herz lichterloh vor Zorn. Sie überlegte nicht lange und marschierte zielstrebig auf ihn zu.
Vertieft in das Gespräch mit Anneka Norden bemerkte Titus nichts von dem Unwetter, das sich hinter ihm zusammenbraute.
»Freut mich, dich endlich mal wieder zu sehen. Kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass wir hier zusammen gearbeitet haben.«
»Ist ja auch schon über ein Jahr her.« Anneka hielt die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie sich über das Wiedersehen genauso freute wie er. »Du hast dich ganz schön verändert. Auf der Straße hätte ich dich nur wegen der Mütze erkannt. Ist dir das nicht zu heiß?«
Titus lachte und wollte zu einer Antwort ansetzen. Aber dazu kam es nicht mehr.
»Kann ich dich kurz sprechen?«
Überrascht fuhr er herum und starrte seine Freundin an.
»Du bist schon hier?«
»Allerdings.« Es war Josephine anzusehen, dass sie ihn am liebsten an Ort und Stelle in Stücke gerissen hätte. »Also, was ist jetzt? Kann ich mit dir reden?«
»Schlecht. Mordsviel los im Augenblick.« Er zeigte auf die dicht besetzten Tische.
»Für die da hattest du auch Zeit«, konterte Josy mit einem abfälligen Blick auf Anneka.
Die durchschaute die Situation sofort, schenkte Titus ein mitleidiges Lächeln und wandte sich ab. Ein Eifersuchtsdrama war das Letzte, worauf sie Lust hatte. Da amüsierte sie sich lieber wieder mit ihren Mitschülerinnen.
Titus kochte vor Zorn.
»Komm!« Ohne sich nach seiner Freundin umzudrehen, bahnte er sich einen Weg, vorbei an Tischen und Stühlen. Unterwegs nahm er Bestellungen auf und stapelte benutztes Geschirr auf dem Tablett, das er der Aushilfe in die Küche brachte. »Machst du mir bitte drei Mal Apfelschorle, ein Wasser und zwei Kaffee?«, bat er Tatjana hinter der Theke. Danny war bei ihr. Während er sein Mittagessen verspeiste, ging er ihr zur Hand.
»Schon unterwegs«, versprach er.
»Ich bin gleich wieder da!« Titus verdrehte die Augen gen Himmel, was Tatjana auf diese Entfernung nur erahnen konnte. Bei einem Unfall erblindet, hatte sie nach Jahren durch eine Operation einen Teil ihres Augenlichts zurückbekommen. Von der völligen Blindheit geblieben waren ihr die fast mystisch geschärften übrigen Sinne, die ihre Umwelt regelmäßig in Erstaunen versetzten. So nahm es nicht wunder, dass es sein Tonfall war, der sie tiefer blicken ließ.
»Bleib nicht zu lange weg«, rief sie ihm zu. »Du weißt ja, dass ich dich brauch.«
Titus verstand diese versteckte Hilfe und lächelte.
»Gib mir fünf Minuten.« Damit verschwand er hinter dem roten Samtvorhang in der Backstube.
Josy folgte ihm mit gesenktem Kopf. Mit einem Schlag war ihre Wut verraucht.
»Also!« Titus fuhr herum. Er stemmte die Hände in die Hüften und bebte vor Zorn.
»Es tut mir leid.« Josephines Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Ihr Freund schnappte nach Luft.
»Es tut dir leid?«, wiederholte er ungläubig. »Vorgestern war die Mehllieferantin verdächtig, mich anzugraben. Gestern hast du einen Aufstand wegen einer Aushilfe für die Backstube gemacht. Heute ist es Anneka. Wenn du so weitermachst, bin ich meinen Job hier bald los. Dann hast du einen arbeitslosen Freund. Ist es das, was du willst?«
Am liebsten wäre Josy im Erdboden verschwunden.
»Natürlich nicht.« Sie war den Tränen nahe. »Aber … aber … wenn dich die Frauen ständig anmachen … Das halt ich nicht aus.«
»Träumst du eigentlich?«, schimpfte Titus. »Kein Mensch macht mich an. Wir unterhalten uns ganz normal. Du hast doch echt ein Problem!«
»Ich will dich halt nicht verlieren«, beteuerte sie. »Ich lieb dich doch.« Dieses Bekenntnis hatte noch immer gewirkt. Aber diesmal hatte Josephine den Bogen überspannt.
Titus musterte sie kalt.
»Du verwechselst da was. Das ist keine Liebe. Das ist krank.«
Aus der Bäckerei klang Dannys Ruf hinüber in die Backstube. Die Getränke warteten darauf, verteilt zu werden. Um das Grummeln im Magen fürs Erste zu beruhigen, nahm er eine Handvoll Nüsse, die in einer Schale auf der Arbeitsplatte standen. Ein paar davon warf er in den Mund.
»Du hast es gehört. Ich muss arbeiten.« Ohne seine Freundin noch eines Blickes zu würdigen, ging Titus an ihr vorbei durch den roten Vorhang. Josy blieb allein zurück, verzweifelt und ratlos, wie sie ihren neuerlichen Fehler diesmal in Ordnung bringen sollte.
*
Dr. Felicitas Norden saß an ihrem Schreibtisch in der Klinik, als sie der Notruf erreichte.
»Jugendliche Patientin mit akuter Atemnot, Husten und Erbrechen«, lautete die Information aus der Notaufnahme.
»Ich komm sofort rüber«, versprach sie und machte sich auf den Weg. In der Ambulanz traf sie auf den Freund ihrer Tochter Anneka. Der junge Rettungsassistent rollte die Patientin auf der Liege herein. »Noah!«, begrüßte Fee ihn erfreut. Zu gern hätte sie sich mit ihm unterhalten. Doch zunächst galt ihr Interesse dem Mädchen mit der Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. »Was fehlt ihr?«
»Sie heißt Melanie Platz, ist fünfzehn und klagt über stärker werdenden Husten mit weißem Auswurf. Außerdem musste sie sich in letzter Zeit öfter erbrechen. Durchfall und Atemnot sind trotz Behandlung eines Kollegen immer schlimmer geworden.«
»Wie hat er sie behandelt?«
»Mit einem Antibiotikum«, erteilte Noah die gewünschte Auskunft. »Außerdem hat er ihr einen Inhalator verschrieben.«
»Ohne der Erkrankung auf den Grund zu gehen?« Skeptisch zog Dr. Norden eine Augenbraue hoch.
Noah zuckte mit den Schultern.
»Im Augenblick hat sie sehr starke Brustschmerzen. Außerdem hat sie mir von einer Zecke erzählt, die sie vor ungefähr einer Woche auf ihrem Bauch gefunden hat.«
»Gut. Dann schauen wir sie uns mal an.« Fee hob die Hand, und Schwester