Patricia Vandenberg

Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman


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      »Sie hätten noch eine Weile bleiben sollen«, entfuhr es Daniel.

      Lammers horchte auf.

      »Wie meinen Sie das?«, fragte er.

      »Na, Menschenkenntnis, Toleranz, Reife … diese Eigenschaften sind bei Ihnen ja durchaus noch ausbaufähig.«

      Dr. Lammers lachte. Es klang wenig belustigt.

      »Schon gut, lassen Sie Ihre Enttäuschung ruhig an mir aus. Ich wär auch sauer, wenn meine Tochter mir so wichtige Entscheidungen nicht persönlich mitteilte. Andererseits sind Sie und Ihre Frau an diesem Verhalten selbst schuld. Wer sich so wenig um seine Brut kümmert, muss sich nicht wundern.«

      Inzwischen hatte sich Daniel Norden nicht nur von seinem Schrecken erholt. Er zweifelte auch daran, dass Anneka tatsächlich nach Neuseeland gehen wollte. Die Falten auf seinem Gesicht glätteten sich.

      »Vielen Dank für Ihre Einschätzung. Im Übrigen hätte es Ihren Fähigkeiten mit Sicherheit gut getan, den Rest Ihres Lebens im Ausland zu verbringen«, erwiderte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Aber zum Glück sind Ihre chirurgischen Qualitäten davon ja nicht betroffen. Übrigens müsste Robin Querndt jeden Moment bei Ihnen eintreffen. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sich diesmal adäquat um ihn kümmern würden.« Ohne Volker Lammers noch einmal zu Wort kommen zu lassen, beendete er das Telefonat. Gleich im Anschluss versuchte er, zuerst seine Frau und dann Anneka auf dem Handy zu erreichen. Doch beide Male ging nur der Anrufbeantworter dran, und so musste er sich wohl oder übel bis später gedulden.

      *

      Anneka wollte gerade die Tür des Cafés ›Schöne Aussichten‹ öffnen, als ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Mit einem »Pfft!« Steckte sie es wieder ein und betrat die Bäckerei mit dem angeschlossenen Café.

      Tatjana stand hinter dem Tresen und wischte mit einem feuchten Lappen über die Theke. Der erste Ansturm war vorbei, und es war noch etwas Zeit, bis die Mittagsgäste über ihre Köstlichkeiten herfallen würden. Als die Schwester ihres Freundes eintrat, hob sie noch nicht einmal den Kopf.

      »Willst du nicht rangehen, Anneka?«, fragte sie und wandte sich ab, um die Kaffeemaschine einzuschalten.

      Die Arzttochter stutzte, ehe sie an den Tresen trat.

      »Das ist Dad. Auf den habe ich gerade keine Lust«, murrte sie und machte keinen Hehl aus ihrer schlechten Laune. »Und woher weißt du eigentlich, dass ich es bin? Manchmal glaube ich, dass du in Wirklichkeit ganz gut sehen kannst.«

      Statt sich über diesen Verdacht zu ärgern, lachte Tatjana auf.

      »Du musst mit Danny verwandt sein. Der denkt das auch immer mal wieder.« Die Kaffeemaschine zischte und brodelte. »Aber ich sage euch was: Aus euch spricht nur der Neid, dass ihr nicht halb so sensibel seid wie ich.«

      Die Doppeldeutigkeit dieser Botschaft blieb Anneka nicht verborgen.

      »Wahrscheinlich hast du sogar recht«, murmelte sie. »Tut mir leid.«

      »Alles gut.« Tatjana stellte ein großes Glas Latte Macchiato auf den Tresen. »Geh schon mal rüber. Ich komme gleich zu dir.« Mit einem Nicken des streichholzkurzen Blondschopfs deutete sie hinüber ins kleine Café.

      Anneka stellte keine Fragen mehr und suchte sich einen kleinen Tisch in der Ecke. Während sie wartete, bewunderte sie wieder einmal die fantasievolle Einrichtung des Cafés, die bei der silbernen Metalldecke mit gehämmerten Ornamenten begann, sich über bunt zusammengewürfelte Tische und Stühle bis hin zur ständig wechselnden Dekoration erstreckte. An den Wänden hingen Bilder junger, noch unbekannter Künstler, in jeder Ecke standen Skulpturen. Egal, wie oft man das Café auch besuchte: Wo man hinsah, gab es Neues zu entdecken und zu kaufen. Das war neben den Köstlichkeiten aus Tatjanas Backstube ein weiterer Grund für die Beliebtheit des kleinen Cafés.

      Die Ablenkung kam Anneka gerade recht, und sie war völlig versunken in ihre Betrachtungen, als Tatjana ein Tablett auf den Tisch stellte.

      »Raus mit der Sprache!« Sie ließ sich auf das kleine Sofa gegenüber fallen. »Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«

      Diese Frage konnte Anneka nicht sofort beantworten.

      »Woher weiß du eigentlich immer, was deine Gäste gerade brauchen?« Mit großen Augen bestaunte sie den riesigen Windbeutel, aus dem die watteweißen Sahnefüllung, vermischt mit dunkelroter Kirschsauce, hervorquoll.

      »Das ist mein Job.« Tatjana zwinkerte Anneka zu. »Aber ich verrate dir ein Geheimnis: Bisher kenne ich niemanden, der meinem Windbeutel widerstehen konnte.«

      »Wundert mich nicht.« Anneka leckte einen Klecks Sahne vom Finger, den sie vom Teller stibitzt hatte. Ihre Miene war schon nicht mehr so düster wie noch am Anfang. Genau wie ihr Tonfall.

      Tatjanas Gesicht strahlte Zufriedenheit aus.

      »Schön! Jetzt, da wir das geklärt haben, können wir uns dem Grund für deine schlechte Laune zuwenden. Lass mich raten: Du hast mit deinen Eltern über deine Pläne gesprochen.«

      Inzwischen hatte Anneka es aufgegeben, sich zu wundern.

      »Stimmt auffallend. Ich war bei Mum. Wie Danny schon vermutet hat: Das hätte ich mir echt sparen können.« Sie schob ein Stück Windbeutel in den Mund und kämpfte mit der üppigen Sahnefüllung.

      »Was hat sie denn gesagt?«

      »Kamf fu fir ja fenken«, nuschelte sie und trank einen Schluck Milchkaffee. Im Anschluss zählte sie die Argumente ihrer Mutter auf. »Sie ist auf Dads Seite. Manchmal finde ich die Loyalität glücklicher Paare richtig ätzend.«

      Lächelnd legte Tatjana den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.

      »Du unterschätzt unser Geschlecht«, machte sie ihre schwesterliche Freundin auf die Tatsachen aufmerksam. »Natürlich ist deine Mutter loyal. Aber sie hat auch ihren eigenen Kopf und ist imstande, ihre Vorstellungen durchzusetzen.« Sie musterte Anneka mit durchdringendem Blick. »Du solltest ein bisschen Geduld haben. Fee wird deinen Dad überzeugen! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

      Annekas Augen waren schmal geworden.

      »Woher weißt du das?«

      »Wollen wir wetten?« Glucksend hielt Tatjana ihr die rechte Hand hin.

      »Um was?«

      »Um einen Besuch im besten Café von Auckland.«

      »Einverstanden!« Lachend schlug Anneka ein, und während sie den Rest des Windbeutels aufaß, wunderte sie sich, wohin ihre schlechte Laune so schnell verschwunden war.

      *

      Gegen Mittag parkte Marianne Hasselt den Wagen vor dem Haus, das ihre Mutter bewohnte, seit sie denken konnte. Ein Teppich aus Efeu bedeckte die Mauern. Von den Fensterläden blätterte die Farbe ab. Die zahllosen Sprossenfenster blickten schläfrig auf die ruhige Nebenstraße. Eine Weile blieb Marianne im Wagen sitzen und betrachtete ihr früheres Zuhause.

      Wie immer hatte die Fahrt hierher eine Stunde gedauert. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Marianne sie zwei Mal pro Woche auf sich genommen, um nach dem Rechten zu sehen und ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten. Trotzdem klopfte ihr Herz vor Aufregung und Sorge. Statt dass Emilie den Verlust langsam verarbeitete und sich an ihr neues Leben gewöhnte, schien alles immer nur noch schlimmer zu werden. Doch es nützte alles nichts. Marianne gab sich einen Ruck und stieg aus. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Als sie auf den runden Klingelknopf drückte, spitzte sie die Ohren. Es dauerte einen Moment, bis die Holzstufen innen knarrten und ächzten. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet. Sie quietschte in den Angeln. Dieses Geräusch passte zu der Gestalt, die dahinter erschien. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Gespenst denn mit einem menschlichen Wesen.

      Als Marianne ihre Mutter in der fleckigen Kittelschürze und mit den wirren Haaren sah, musste sie einen Schrei unterdrücken. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

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