»Im Übrigen gilt meine Aufforderung auch für Sie.« Sie ging persönlich zur Tür und hielt sie auf. »Raus!«
Sebastian Klotz zögerte kurz. Dann straffte er die Schultern und folgte ihrer Anweisung.
»Sie haben recht. Höchste Zeit für meinen Termin in der städtischen Klinik.« Geschäftig ging er an ihr vorbei. »Wir sehen uns heute Abend. Ich hole Sie ab.« Dann war er verschwunden.
Kopfschüttelnd wandte sich Wendy an ihre Kollegen.
»Ich glaub, ich bin reif für eine Kur«, stöhnte sie und sank unter dem Gelächter ihrer Mitarbeiter auf ihren Schreibtischstuhl.
*
Wie jeden Vormittag machte Mario Cornelius auch an diesem Tag einen Abstecher in die Bäckerei seiner Verlobten Marianne. Doch anders als sonst begrüßte sie ihn nicht mit fröhlicher Miene und einem frechen Spruch auf den Lippen. Ganz im Gegenteil servierte sie ihm sichtlich deprimiert ein Stück Apfelkuchen zum Kaffee.
»Mein Auftritt vor Holzmann war dermaßen peinlich, das kannst du dir nicht vorstellen. Dabei war ich felsenfest davon überzeugt, die Rechnung bezahlt zu haben.« Sie blieb vor ihm stehen und schüttelte den Kopf. »So was passiert mir doch sonst nicht.« Nachdem sie den Teller vor ihm abgestellt hatte, zückte sie einen feuchten Lappen, um über die drei übrigen Tische zu wischen, die sie für Gäste in einer Ecke des kleinen Verkaufsraums aufgestellt hatte.
In erster Linie versorgte Marianne die Kurklinik mit Kuchen, Gebäck und Torten. Nebenbei frönte sie ihrer großen Leidenschaft, der Tortenkunst. Nach Kundenwunsch zauberte sie fantasievolle Motivtorten in allen erdenklichen Farben und Formen. Vom Prinzessinnenschloss bis zu originalgetreuen Porträts der Beschenkten war nichts unmöglich. Doch selbst für ihre aktuelle Bestellung – eine Tennisschläger-Torte für einen jungen Patienten – hatte sie im Augenblick keinen Sinn. »Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.«
Mario steckte eine Gabel voll Apfelkuchen in den Mund. Genüsslich schloss er die Augen.
»Wenn ich fett werde, bist nur du dran schuld.« Er seufzte, ein Lächeln auf dem Gesicht. »Und was deine Vergesslichkeit momentan angeht: Ich denke schon, dass du weißt, woran’s liegt.«
Marianne trocknete den letzten Tisch, ehe sie zu ihrem Verlobten zurückkehrte.
»Du hast recht«, gab sie zögernd zu. »Stell dir vor: Mama hat heute früh kurzerhand ihre Haushälterin samt Ehemann rausgeworfen.«
Mario zog eine Augenbraue hoch.
»Warum das denn?«
»Sie hat sie im Verdacht, einen Seidenschal gestohlen zu haben, den Papa ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Dabei bin ich ganz sicher, dass er in irgendeiner Schublade steckt.« Gedankenverloren sah sie durch Mario durch. »Am liebsten würde ich sofort hinfahren und nachsehen.«
»Und warum tust du es nicht?«
»Aber ich kann doch hier unmöglich …«
»Marie!« Marios Stimme war zärtlich, als er den Arm um die Hüfte seiner Verlobten legte und sie auf seinen Schoß zog. »Für mich bist du unersetzlich.« Er küsste sie sanft auf die Wange. »Aber die Bäckerei bricht nicht gleich zusammen, wenn du mal ein paar Stunden nicht hier bist.«
»Ich weiß.« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Dummerweise geht es nicht nur um ein paar Stunden. Wenn Mama ganz allein ist, braucht sie jemanden, der öfter nach ihr sieht.«
Mario griff nach einer von Mariannes krausen Haarsträhnen und spielte gedankenverloren damit.
»Wir haben doch Felix. Der kann Büro und Verkauf übernehmen, wenn du nicht hier bist. Und für die Backstube organisiere ich dir eine Aushilfe aus der Bäckerei in der Stadt.« Er lächelte sie an. »Na, wie klingt das?«
Marianne lächelte zurück.
»Schon viel besser«, seufzte sie und lehnte sich an ihn. »Was täte ich nur ohne dich?«
»Zumindest müsstest du weniger backen.« Grinsend rieb sich Mario den leicht gewölbten Bauch. »Hast du noch ein Stück von diesem unglaublichen Kuchen? Ich brauch dringend noch mehr Nervennahrung, bevor ich mich wieder mit den Quälgeistern rumschlage.«
»So schlimm zur Zeit?« Marianne rutschte von seinem Schoß und erfüllte den Wunsch nach einem zweiten Stück Apfelkuchen.
»Zumindest so schlimm, dass ich jedes Mal staune, wie frech manche kranken Kinder sein können. Nicht auszudenken, wie die sich erst benehmen, wenn sie gesund sind.« Mario dachte kurz darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber solange du mich so gut versorgst, halte ich durch. Versprochen.«
Marianne stellte den Teller vor ihn hin und beugte sich über ihn, um ihn zu küssen. Ihr krauses Haar fiel über beide Gesichter.
»Keine Angst! An meiner Seite kann ein Mann vielleicht verrückt werden.« Sichtlich getröstet, zwinkerte sie ihm zu. »Aber verhungern muss er mit Sicherheit nicht.«
*
Dr. Daniel Norden hatte die ersten Patienten behandelt, als ihn ein Notruf aus dem Gymnasium ereilte, der ihn sehr wunderte.
»Robin Querndt? Aber den hab ich doch gestern Abend mit Verdacht auf Appendizitis in die Behnisch-Klinik geschickt«, erwiderte er, nachdem die Lehrerin ihm den Vorfall kurz geschildert hatte. »Die Anzeichen waren eindeutig. Holen Sie einen Krankenwagen. Ich rufe in der Klinik an und sage Bescheid, dass er nicht wieder entlassen wird.« Seine Miene sprach Bände, als er das Telefonat beendete, um gleich im Anschluss die Nummer seiner Frau in der Klinik zu wählen.
»Lammers«, meldete sich eine unerwartete Stimme.
»Hier spricht Norden«, antwortete er kurz angebunden. »Ich möchte meine Frau sprechen.«
»Sie hat ihr Telefon offenbar umgestellt. Wahrscheinlich ist sie im OP«, erwiderte Volker. »Kann ich Ihnen helfen?«
Daniel überlegte nicht lange.
»Es geht um einen Patienten, Robin Querndt. Ich hab den Jungen gestern Abend mit Verdacht auf Appendizitis in die Klinik geschickt. Heute ist er mit massiven Beschwerden in der Schule zusammengebrochen. Wer hat seine Entlassung zu verantworten?«
»Das war ich«, gestand Lammers ohne Zögern. »Der Lügenbaron schreibt heute eine Mathe-Schulaufgabe, der er mit dieser Ausrede entgehen wollte. Ich war es, der ihn durchschaut und ihm die Suppe gründlich versalzen hat.«
»Ach ja?« Einmal mehr verstand Dr. Norden seine Frau. »Seltsam, dass er hoch fiebert und sich pausenlos erbricht. Ich habe die Lehrerin angewiesen, ihn sofort in die Klinik zu schicken. Und wehe, Sie weisen ihn ein zweites Mal ab …«
»Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich!« Lammers schnalzte mit der Zunge. Niemand durfte so mit ihm sprechen. Schon gar nicht der Ehemann seiner ungeliebten Chefin. Augenblicklich sann er auf Rache. »Wenn Sie sich daheim auch so aufführen, ist es kein Wunder, dass Ihre Frau Überstunden macht und Ihre Kinder in Scharen aus dem Haus rennen«, erklärte er bedeutungsschwer.
Wie beabsichtigt, war Daniel irritiert.
»Wie meinen Sie das?«
Lammers lachte. Er wusste, dass er ihn an der Angel hatte.
»Schon okay. Sie müssen sich nicht vor mir zieren. Es hat sich längst rumgesprochen, dass Ihre Anneka demnächst für ein Jahr nach Neuseeland geht. Klug von der Kleinen. Ist ja eh die meiste Zeit allein daheim.« Nie im Leben hätte er verraten, dass er das Gespräch zwischen Mutter und Tochter belauscht hatte.
Die Worte fühlten sich an, als hätte Daniel aus den Nichts heraus eine Faust in den Magen bekommen.
»Anneka ist kaum zu Hause, weil sie arbeiten geht«, erinnerte er Lammers. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er sich jede Einmischung verbat. Gleichzeitig haderte er mit sich. Sollte er zu erkennen geben, dass ihm diese Pläne neu waren?
»Hab ich Ihnen schon erzählt, dass ich mal ein paar Monate dort gearbeitet hab?«, fuhr Volker launig fort. »Das war eine