ich bin immer nur in den schlesischen Bergen gewesen, in dem schönsten Lande, das es in der ganzen Welt gibt.«
»Oh, die große Ostsee und Pommern sind auch sehr schön.«
»Harfen-Karle«, rief eins der Kinder, »möchtest du uns nicht was spielen und singen?«
»Spiele und singe nicht mehr vor Leuten, bin ein alter Mann.«
»Ach, Harfen-Karle, der Großvater sagt, du hast immer so schön gespielt und gesungen. Sieh mal, dort steht doch noch deine Harfe. Ach, lieber Harfen-Karle, spiele uns doch ein Lied!«
»Hab' viele tausend Lieder gespielt und gesungen, in der Hampelbaude, in der Peterbaude und in allen den anderen Bauden, die ihr ja auch kennt. Aber jetzt ist der Harfen-Karle ein alter Mann, der nicht mehr recht kann.«
Mit ausgestrecktem Finger wies Pommerle auf die große Harfe, die an der Wand lehnte.
»Kannst du darauf spielen?«
Der Alte nickte. »Über siebzig Jahre habe ich darauf gespielt und tue es jetzt auch noch; aber es will nicht mehr recht gehen.«
Immer stärker schlug der Regen gegen die kleinen Scheiben.
»Der Rübezahl ärgert uns wieder mal«, meinte Minna. »Er hat es nicht gern, wenn man ihm die roten Beeren abpflückt, er will alles für sich behalten.«
»Dabei soll es doch gar keinen Rübezahl geben«, sagte Pommerle, »er ist auch nur so ein Sagenmann, genau wie der Kilian.«
Ein Sturm der Entrüstung brach los. Alle Kinder meinten, daß es ganz gewiß den Rübezahl gäbe, gar zu oft habe man ihn schon gesehen. Pommerle erinnerte sich selbst an seine Begegnung mit dem vermeintlichen Rübezahl. Doch hatte es sich später herausgestellt, daß jener Mann nicht der Berggeist, sondern ein freundlicher Tourist gewesen war, der ihm damals in seiner Not geholfen hatte.
»Bei euch in Pommern gibt es natürlich keinen Rübezahl, der lebt doch nur hier in seinen Bergen. Ihr habt eben nicht so was Schönes dort.«
»Wir haben die Stine«, rief Pommerle, »die Stine kann noch viel mehr als euer Rübezahl!«
»Dann ist die Stine auch nur eine Sagenfrau!«
Pommerles Augen glühten auf. »Die Stine ist gar keine Sagenfrau, die Stine wohnt bei uns im Wasser, sie weiß alles ganz genau. Der Vater hat gesagt, sie ist da, und dann ist sie auch da!«
Die schlesischen Mädchen verteidigten ihren Berggeist. Man kam ziemlich hart aneinander, bis Pommerle schließlich klein beigab und erklärte:
»Na, vielleicht ist er doch keine Sage, der Rübezahl. Ich werde ihn mal rufen, vielleicht kommt er. Aber dann muß er mir viele blanke Fünfmarkstücke und ein Schloß schenken.«
Der alte Harfner hatte die Unterhaltung der kleinen Mädchen schweigend mit angehört. Er setzte sich jetzt mitten unter die Kinderschar und sagte langsam:
»Was nützt euch alles Geld und ein Schloß. Ich habe es auch nicht und bin mein Leben lang glücklich und zufrieden gewesen.«
»Wenn man viel Geld hätte, könnte man noch glücklicher sein«, meinte Minna.
Da stand der alte Harfner auf, ging in die Zimmerecke und holte die Harfe hervor. Die Kinder schlugen begeistert in die Hände.
»Willst du uns was singen?«
Der Alte nickte. Er nahm die Harfe zwischen die Knie. Da wurde es mäuschenstill in dem Raum. Pommerles Augen hingen wie gebannt an den langen, dünnen Fingern, die in die Saiten griffen und ihnen gar liebliche Töne entlockten. Und jetzt begann der Alte zu singen. Wohl war seine Stimme heiser und brüchig, aber es klang doch noch ganz gut.
»Ich bin gar sehr ein armer Mann
Und bleib's gewiß auch immer.
Allein ich will nicht schrei'n und klag'n,
Den andern geht's viel schlimmer.
Ich bin gesund und wohlgemut,
Und das ist wohl das größte Gut.
Zur Arbeit, nicht zum Müßiggang,
Hat mich der Herr geschaffen,
Drum will ich auch mein Leben lang
Die Kräft' zusammenraffen.
Ich bin gesund und wohlgemut,
Und das ist wohl das größte Gut.«
Noch einmal einige schöne Akkorde; dann erhob sich der Alte und stellte die Harfe wieder in die Ecke.
Die Kinder waren mäuschenstill geworden. Soeben noch waren tausend Wünsche von ihren Lippen gekommen, Wünsche nach Geld und Gut, nach Schlössern, schönen Kleidern und anderen Dingen; nun hatte ihnen der alte Harfner davon gesungen, daß man auch in der Armut glücklich und zufrieden sein könne, wenn man nur gesund sei und frohen Mut habe.
Pommerle hörte plötzlich wieder die Stimme der Tante. Heute mittag, als sie ihr vom Hausberg erzählt hatte, hatte die Tante auch gesagt, daß Zufriedenheit das höchste Gut sei, was man sich wünschen könne. Pommerle nahm sich vor, nicht wieder begehrlich nach blanken Fünfmarkstücken auszuschauen. Der alte Mann hatte davon gesungen, daß es anderen noch viel schlechter gehe. Pommerle hatte mit seinen neun Jahren schon manchen Blick ins Elend tun dürfen.
»Ich bin gesund und wohlgemut,
Und das ist wohl das größte Gut.«
Leise wiederholte Pommerle die beiden letzten Zeilen des Liedes. Diese Worte wollte es sich gut merken. Und wenn der Jule, der Spielgefährte, der seit wenigen Wochen bei Meister Reichardt in der Lehre war, wieder einmal ein so mürrisches Gesicht machte, wollte ihm Pommerle von diesem Lied erzählen. Wie war es doch gleich gewesen?
»Zur Arbeit, nicht zum Müßiggang,
Hat mich der Herr geschaffen.«
Ob der alte Mann auch heute noch arbeitete? Die anderen hatten doch gesagt, er säße immerzu in der Sonne. Pommerle hatte plötzlich für den Harfen-Karle ein brennendes Interesse gewonnen. Er war zweiundneunzig Jahre alt, also viel, viel älter als der Onkel Professor.
Währenddessen waren die anderen Kinder wieder in lebhaftem Gespräch mit dem Harfner. Staunend hörte Pommerle an, daß der Alte fast täglich in den Wald ging und Beeren und Kräuter suchte.
»Der Onkel sucht auch Grünzeug«, rief Pommerle begeistert aus.
»Weiß ich, kleines Pommerle, aber ich suche Kräuter und Wurzeln für die Apotheke. So ein alter Mann, wie ich, der weiß, was den Menschen gut tut, was ihnen hilft, wenn sie krank sind. Bin in meinem langen Leben nicht oft krank gewesen, und wenn es mal geschah, habe ich mir immer selber zu helfen gewußt. Der Wald ist der größte Wunderdoktor der Welt.«
»Was holst du denn im Walde?« forschte Pommerle interessiert.
»Allerlei Kräuter, aus denen man guten Tee kocht, wenn du Halsschmerzen oder Bauchweh oder sonst etwas hast. Und manches Kraut ist giftig. Das Gift bekommen dann solche Leute ein, die schwere Leiden haben. Aber das versteht ihr kleinen Kinder heute noch nicht, das lernt ihr erst viel später. – Kommt mal her, ich will euch mal meine Vorräte zeigen.«
Dann sahen die Kinder etwas ganz Neues. In Blechdosen, Tüten, kleinen Kästchen und anderen Behältern lagen getrocknete Blätter und Wurzeln. Die verschiedensten Düfte entströmten diesen Behältern. Ungezählte Fragen wurden laut, und mitunter lachte die kleine Schar ungläubig, wenn der alte Harfner berichtete, daß man aus dieser trockenen Pflanze ein schlimmes Gift bereite, durch das die Menschen sterben und auch gesund werden könnten.
Am aufmerksamsten hörte wohl Pommerle zu. Der Onkel hatte ihm schon manche Pflanze gezeigt. Es kannte auch die verschiedenen Namen der Gewächse; aber diese Kräutersammlung hier war ihm etwas ganz Neues.
»Kann der Onkel auch mal zu dir kommen und sich hier belernen?«
Der Harfner lachte. »Dein Onkel ist ein gar kluger und gelehrter Mann,