Dann setzte sie sich mit Heinrich in den Garten, und Florentine trabte mit Begeisterung davon, um Blumen für ihren Großonkel zu pflücken.
Der alte Herr erzählte von den Freunden, die er besucht hatte, und lobte besonders das gemütliche Heim eines ehemaligen Schulkameraden, der sich mit seiner Frau auf dem Lande zur Ruhe gesetzt hatte. »Manchmal denke ich, daß mir meine Wanderexistenz auf Dauer nicht mehr zusagt!«
Es klingelte an der Haustür. Christine öffnete und ließ Frau Falkenroth herein, die auf dem Rückweg vom Friseur einen kleinen Vormittagsbesuch machen wollte. Mit ihrem immer noch vollen Haar, den frischen roten Wangen und der schlanken, hochgewachsenen Gestalt sah sie weit jünger aus, als sie war. Christine bat sie in den Garten und stellte ihr Heinrich Zott vor. Der alte Kavalier sprang sofort auf und verbeugte sich tief, und als Florentine mit einem Gänseblümchenstrauß herbeieilte, trug er ihr sofort auf, für Frau Falkenroth einen noch viel schöneren zu pflücken.
»Das hätte ich sowieso gemacht!« meinte Florentine. Frau Falkenroth lächelte. »Sie haben wirklich Glück mit Ihren Großnichten und -neffen«, meinte sie. »Ich habe leider überhaupt keine Kinder in meiner Verwandtschaft, und dabei könnte ich mir nichts Schöneres vorstellen!«
Die beiden kamen ins Plaudern. Schnell stellten sie fest, daß sie viele gemeinsame Vorlieben hatten. Auch Frau Falkenroth reiste gerne und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Heinrich Zott ihr von seiner Reise in die Mongolei berichtete. »Dazu hätte ich auch einmal Lust!« sagte sie nur. Der alte Herr staunte. »Sie sind die erste Frau, die mir das sagt«, rief er aus. »Nicht einmal meine junge Nichte hier kann ich für einen solchen Abenteuerurlaub begeistern.«
»Nun, mir würde das Spaß machen«, sagte Frau Falkenroth unternehmungslustig. »Aber nur ab und zu, natürlich – zu Hause ist es schließlich auch schön. Man darf nur nicht zum Stubenhocker werden. Ich mache am Wochenende immer lange Spaziergänge.«
»Ich auch!« sagte Onkel Heinrich begeistert. »Wie wäre es, wenn wir einmal zusammen auf die Wanderschaft gingen?«
»Eine hervorragende Idee!« fand die alte Dame. »Wir könnten einen richtigen Familienausflug machen, mit den Kindern. Hätten Sie nicht Lust mitzukommen?« wandte sie sich an Christine. »Ich würde mich freuen – und mein Sohn sicher auch.«
Christine zögerte. Sie hätte zu gern ja gesagt, aber sie dachte an Svens eifersüchtigen Ausbruch zurück. Vielleicht wollte Sven sogar mitkommen? Dann würde Christoph erfahren, in welchem Verhältnis sie wirklich zu ihrem Untermieter stand. Sie scheute vor diesem Gedanken zurück und schalt sich innerlich einen Feigling. Schließlich war sie doch in Sven verliebt – oder etwa nicht? Und früher oder später mußte Christoph das ohnehin erfahren.
Kaum war Sven am Abend nach Hause gekommen – im Vergleich zur letzten Zeit erstaunlich pünktlich, wie ihr auffiel –, erzählte sie ihm von der geplanten Unternehmung und bat ihn mitzukommen.
Sven überlegte blitzschnell. Heimlich hatte er Bernadette, die am Samstag ihren freien Tag hatte, schon versprochen, mit ihr etwas zu unternehmen. Natürlich konnte er das absagen. Aber war das nicht eine günstige Gelegenheit, mit ihr Schluß zu machen und ihr möglichst schonend beizubringen, daß aus dem Karibik-Urlaub nichts werden würde? Schonend mußte es schon sein, denn Bernadettes Temperament war unberechenbar. Ihm schauderte bei dem Gedanken, was sie eventuell verraten könnte.
»Nun? Willst du mitkommen?« fragte Christine ungeduldig.
Er räusperte sich. »Hm, weißt du, am Montag müssen wir unser Konzept für die Waschmittelkampagne abliefern. Da werde ich am Wochenende viel zu tun haben, auch wenn ich das zu Hause erledigen kann. Aber ab nächster Woche habe ich dann wieder viel mehr Zeit für dich – und auch für die Kinder«, fügte er großmütig hinzu.
Christine war heimlich erleichtert, daß er nicht mitkommen konnte. Sicher würde sie bei dem Ausflug eine Gelegenheit finden, Christoph gegenüber diskret zu erwähnen, wie die Dinge zwischen ihnen standen.
*
Die kleine Gesellschaft brach schon in aller Frühe auf. Verteilt auf Christines und Christophs Wagen, wollten sie zu einem bekannten Aussichtspunkt der Gegend fahren und von dort zu einem weiten Rundweg aufbrechen. Frau Falkenroth hatte eine erstaunliche Anzahl von Picknickkörben und Flaschen eingepackt. Die Kinder stritten sich, wer bei Christoph im Auto mitfahren durfte, bis Julia großmütig nachgab und sich auf den Rücksitz von Christines Wagen fläzte.
Um diese Zeit waren erst wenige Autos unterwegs, so daß sie ihr Ziel rasch erreichten. Onkel Heinrich stieg aus und betrachtete begeistert die Aussicht über die ebenen Felder und Wiesen. Erika Falkenroth stellte sich neben ihn und ließ sich die Flurnamen erklären. Auch die Kinder hörten zu. Christine blickte gedankenverloren in die Ferne und fuhr leicht zusammen, als Christoph Falkenroth zu ihr trat.
»Ich muß oft an den Abend neulich denken«, sagte er leise. »Es ist sonderbar… es ist, als
hättest du durch deine bloße
Anwesenheit das ganze Haus
verwandelt. Erst jetzt fühle
ich mich wirklich heimisch darin.«
Ihr Puls beschleunigte sich, und sie fühlte ein warmes Glücksgefühl in sich aufsteigen. Aber dann dachte sie daran, was sie ihm zu sagen hatte, und zog schmerzlich die Brauen zusammen. Christoph ließ seine Augen nachdenklich auf ihrem Gesicht ruhen. Er hätte sie gern gefragt, was sie bedrücke, aber er fürchtete, aufdringlich zu erscheinen.
»So, jetzt geht’s aber los!« rief Onkel Heinrich laut. »Wir gehen in Richtung Westen, da kommt nach ein paar Kilometern ein Kinderspielplatz, wo man auch picknicken kann. Was meint ihr, können wir die ganzen guten Sachen, die die liebe Frau Falkenroth uns eingepackt hat, bis dahin tragen?«
»Na klar!« riefen die Kinder einstimmig. Der Proviant wurde verteilt, und die kleine Prozession marschierte los. Zuerst durchwanderten sie ein dichtes Tannengehölz. Es war kühl und dämmerig, und der Boden war mit feinen Nadeln bestreut. Vorneweg gingen mit weit ausholenden Schritten Heinrich Zott und Erika Falkenroth, dann folgte Christoph, um den sich die Kinder drängten. Christine bildete die Nachhut und hielt ein wenig Abstand zu den anderen.
Trotzdem hörte sie, wie Julia schuldbewußt zu dem Professor sagte: »Wir haben den Brief immer noch nicht gefunden!«
Christine hörte seine Antwort nicht, aber der Gedanke an das verschwundene, kostbare Dokument verstärkte ihre bedrückte Stimmung noch zusätzlich. Florentine sah sich nach ihrer Mutter um und lief schnell zu ihr. Christine lächelte ihrer kleinen Tochter zu und faßte sie an der Hand. Sie nahm sich ganz fest vor, dem Mann, zu dem sie sich auf so unerklärliche Weise, mit fast schmerzhafter Sehnsucht hingezogen fühlte, bei der erstbesten Gelegenheit zu erzählen, daß sie gebunden sei.
Nach einer knappen Viertelstunde kamen sie aus dem Tannendunkel in eine helle Buchenwaldung. Alles war licht und grün, und die Sonne malte durch die Zweige hindurch Muster auf den Waldboden. Auf dem Picknickplatz, der von mächtigen Buchen überschattet wurde, waren keine anderen Ausflügler zu sehen. Onkel Heinrich baute den mitgebrachten Gaskocher auf, um Kaffee zu kochen, aber das Gerät funktionierte nicht. »Es geht doch auch ohne«, sagte Frau Falkenroth. »Ich habe Tee in einer Thermoskanne dabei.«
Aber der alte Mann bestand auf dem Kaffee, an den er gewöhnt war. »Wir kriegen schon ein Feuerchen zustande, die Kinder müssen bloß ein paar dürre Zweige im Wald sammeln«, meinte er. Julia und Markus, die sich sofort auf die Schaukeln auf dem Spielplatz gestürzt hatten, schwangen sich sofort herab. Sie waren von der Aussicht begeistert, zu dem Festmahl etwas beitragen zu können.
»Und wie wäre es, wenn ihr auch gleich ein paar Walderdbeeren sammeln würdet?« schlug Frau Falkenroth vor. »Sie müßten gerade reif sein. Geht nur alle los, wir alten Leute bereiten den Rest vor.«
»Eine gute Idee!« rief Christoph aus und war mit zwei Schritten an Christines Seite. Zusammen mit den Kindern gingen sie einen schmalen Waldpfad entlang. Aber schon bald liefen die Kinder voraus, um als erste eine Stelle mit Walderdbeeren zu finden. Christoph sah die schöne Frau an, die mit niedergeschlagenen Augen an seiner