Christine«, sagte er schließlich. »Fehlt dir etwas?« Sie zuckte die Achseln und schüttelte mit halbem Lächeln den Kopf. Er wollte sie nicht weiter ausfragen, holte tief Atem und fühlte, wie die frische Waldesluft seinen Brustkorb weitete. Über ihnen sprang ein Eichhörnchen von Ast zu Ast, und von ferne hörte man das Klopfen eines Spechts.
»Man müßte viel öfter solche Ausflüge machen!« sagte er. »Ich bin zwar schon immer viel gewandert – aber meistens allein. Mit dir und deinen Kindern ist es so viel schöner!«
Christine fühlte eine wehmütige Freude über seine Worte. Sie wünschte, daß er weiterreden würde, aber gleichzeitig drängte sie eine innere Stimme, endlich auszusprechen, was sie sich vorgenommen hatte.
»Sven wollte auch mitkommen«, sagte sie so leichthin, wie sie konnte.
»Und wer ist Sven? Ach ja, dein Untermieter«, sagte er ohne großes Interesse und stieß plötzlich einen Laut der Überraschung aus. »Sieh mal! Da sind ja Erdbeeren! Die Kinder haben sie wohl vor lauter Hast übersehen!« Und ehe Christine antworten konnte, hatte er sie an der Hand gefaßt und vom Wege ab zu einer kleinen Böschung gezogen, an der Dutzende der zarten grünen Pflänzchen wuchsen. Die kleinen Walderdbeeren waren schon dunkelrot und dufteten köstlich.
Beide wollten sich hinhocken und mit dem Pflücken beginnen, als Christine unversehens in ein Erdloch trat, das zu einem verlassenen Fuchsbau gehörte, und das Gleichgewicht verlor. Instinktiv streckte er die Arme aus, und sie taumelte an seine Brust. Er schloß die kräftigen Arme fester um sie und fühlte, wie ihr schlanker Körper bebte. »Christine«, sagte er leise, »sieh mich an.«
Fast willenlos hob sie den Kopf zu ihm empor. Sie legte die Hände an seine Brust, als ob sie ihn von sich stoßen wollte, aber es war, als ob alle Kraft sie verlassen hätte. »Christine, Liebste!« flüsterte er und küßte sie leidenschaftlich auf die roten Lippen.
Sie schloß verwirrt die Augen und fühlte ein unaussprechliches Glücksgefühl in sich aufsteigen. Nur einen Augenblick lang – dann riß sie sich wie erwachend los und trat einen Schritt zurück. Verwundert und erschrocken sah er sie an. Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur einen wehen Laut zustande. Dann wandte sie sich um und begann zu laufen.
»Christine!« hörte sie ihn hinter sich rufen. »Bitte, komm zurück!« Der sehnsüchtige Ton seiner Worte tat ihr weh, und sie rannte schneller, um sie nicht mehr hören zu müssen. Erst lief sie ziellos durch den Wald. Ihre hastigen Schritte schreckten die Vögel auf, daß sie von ihren Ästen flatterten. Dann schätzte sie an dem Sonnenstand die Richtung ab, in der sich der Parkplatz befinden mußte, und eilte darauf zu.
Sie fühlte immer noch seinen Mund brennend auf dem ihren, und ihr war, als würde sie diese Empfindung nie wieder verlieren, als hätte sie sich ihr für ewig eingeprägt. Ihr Herz klopfte wie rasend. Sie sah Christoph vor sich, sah seinen Blick voll leidenschaftlicher, zärtlicher Liebe, und dann mußte sie an Sven denken, der zu Hause fleißig an seiner Kampagne arbeitete und auf ihre Rückkehr wartete. Hatte sie sich vor wenigen Wochen nicht noch gewünscht, Sven möchte sie heiraten? Wieviel sich doch in dieser kurzen Zeit in ihrem Herzen verändert hatte!
Christine hatte den Saum des Waldes erreicht und trat aus dem Tannendickicht hervor. Ihr und Christophs Wagen standen nebeneinander. Kurz dachte sie an die Kinder, an Onkel Heinrich und Frau Falkenroth; der Platz in dem anderen Auto würde nicht für alle reichen. Aber sie fühlte, daß sie sofort nach Hause fahren mußte. Keine Sekunde länger konnte sie diese Ungewißheit ertragen. Nur eine Aussprache mit Sven würde ihr Klarheit über ihre Gefühle verschaffen, sie aus dieser tiefen Verwirrung des Herzens retten!
Christine ließ den Motor an und fuhr eilig in die Stadt zurück.
*
Sven und Bernadette waren an diesem Tag spät aufgestanden. Erst gegen elf Uhr ging das junge Mädchen laut gähnend in die Küche hinunter, um das Frühstück vorzubereiten. Bald darauf gesellte sich Sven zu ihr und setzte Kaffee auf.
»Endlich mal ein ganzer Tag ungestört mit dir!« seufzte Bernadette und legte ihm zärtlich die Arme um den Hals. »Ich kann den Urlaub kaum erwarten. Sonne, Strand, Meer… und Musik! Ist es eigentlich wirklich ein Fünf-Sterne-Hotel?«
»Tja, das ist es, Schatz. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Urlaub wirklich klappt. Wir haben in der Agentur einen neuen Auftrag hereinbekommen, und als zukünftiger Textchef kann ich mich da nicht so einfach in die Karibik verdrücken.« Er merkte selbst, daß es nicht sehr überzeugend klang. Bernadette zog einen Schmollmund. »Och, das ist doch nicht dein Ernst? Du hast es mir versprochen! Komm, sag, daß wir fahren!« Und sie legte ihm schmeichelnd die Arme um den Hals.
»Wahrscheinlich schon«, sagte Sven ausweichend.
»Aber natürlich fahren wir! Denk nur, wie herrlich das wird! Nur wir beide, niemand sonst… zwei Wochen unter Palmen…« Sie geriet ins Schwärmen. Es würde nicht gerade leicht sein, mit ihr Schluß zu machen, dachte Sven verdrießlich.
»Können wir nicht später darüber reden? Ich bin noch so müde!« sagte er ausweichend.
Nach dem Frühstück legten sie sich im Garten in die warme Junisonne. Sven nippte an einem Fruchtcocktail, schloß die Augen und ließ sich von Bernadette den Rücken mit Sonnenöl einreiben. Er genoß die vollkommene Ruhe. Nur noch ein paar Minuten, dann würde er es ihr sagen. Nur ein paar Minuten…
Bernadette stellte die Tube mit Sonnenöl plötzlich beiseite und stand auf. »Weißt du was? Ich hab Lust, dir was vorzusingen«, rief sie und eilte davon, um ihre Gitarre zu holen. Sven stöhnte auf. Jetzt würde er erst mal nicht mit ihr reden können. Ganz zu schweigen davon, daß Bernadettes Gesang bei aller Liebe kein großes Vergnügen war. Schon kam das junge Mädchen zurück, stimmte die Gitarre und begann lauthals ein
Beatles-Lied zu singen.
Die Vögel in den Bäumen über ihnen flogen erschreckt davon. Sven lag regungslos in seinem Liegestuhl und vergrub den Kopf in den Armen. Der Gesang ging ihm auf die Nerven. Er hatte Lust, Streit mit Bernadette anzufangen. Ja… und war das nicht überhaupt eine gute Idee? Sich auf keine langen Debatten einlassen, sondern einen handfesten Krach vom Zaun brechen? Vielleicht wäre Bernadette so wütend, daß sie sofort das Haus verlassen würde. Eleganter konnte er sie kaum loswerden!
»Meine Güte!« Mit anklagender Miene setzte er sich auf. »Das ist ja nicht auszuhalten. Es klingt grauenhaft!« Sie verstummte und starrte ihn mit offenem Mund an. »Was hast du da gesagt?!«
»Deine Stimme klingt wie ein rostiges Garagentor. Die Beatles würden sich im Grab umdrehen.«
»Du bist ja reizend!« Beleidigt stand sie auf und ging ins Wohnzimmer. Sven sprang auf und eilte ihr hinterher. »Hör mal, ich wollte dich nicht kränken. Du gibst dir ja alle Mühe. Es klappt nur halt nicht so, aber ich habe dich doch trotzdem gern!« Genau wie er erwartet hatte, wurde sie jetzt erst richtig zornig. Zuvor hatte sie noch halb geglaubt, er mache nur einen schlechten Witz. Tränen der Wut traten in ihre grünlichen Augen. »Ach ja? Du hast mich gern, nur meine Stimme nicht, was?«
»Na ja, stumm wärst du mir lieber«, sagte er mit einem kühlen Lächeln. Sie biß sich auf die Lippen. »Sonst hast du immer gesagt, ich sei ein großes Talent!«
»Tja, Liebe macht eben nicht nur blind, sondern manchmal auch taub. Aber nimm mir das nicht übel. Weißt du, mir würde es schon reichen, wenn du hier im Haus nicht singst.«
»Das ist ja wohl die Höhe! Du bist… hach, ich kann gar nicht sagen, wie eklig du bist! Ich verlasse dieses Haus sofort! Keine Sekunde lebe ich länger mit dir unter einem Dach!«
Bernadettes schrille Stimme hatte das Geräusch der sich öffnenden und wieder schließenden Haustür übertönt. Sven spielte seine Rolle weiter. »Schatz, sei doch vernünftig«, sagte er heuchlerisch. »Wenn du mit der Singerei aufhören würdest… schau mal, wir beide haben es doch so schön miteinander.«
»Halt den Mund, du geschmackloser Schuft!« schrie Bernadette mit zornrotem Gesicht. »Ich wollte, ich hätte mich nie mit dir eingelassen!« Sie riß die Tür zur Diele auf – und blieb wie angewurzelt