Dieter A. Binder
Frühgeschichte
oder
Wie man Freimaurer wird
Im „Goose and Gridiron“ unweit von St. Paul’s Cathedral, einem Wirtshaus der einfachen Leute, trafen am 24. Juni 1717 die Vertreter von vier Logen zusammen, die erstmals eine Großloge, also einen Dachverband für ihre geselligen Zusammenkünfte beschlossen. Diese Männer, wohl zumeist Kleinbürger, pflegten Traditionen aus dem Bauhandwerk, wiewohl viele von ihnen aus anderen Berufen kamen und ihm Umfeld der ersten Großloge keine Steinmetze zu finden waren. Zur Führung dieser „Großloge von London und Westminster“ wählten sie Anthony SAYER, der als Gentleman galt, den Zimmermann Jacob LAMBALL und den Kapitän Joseph ELLIOT. Entscheidend war, dass sich diese neue Organisationsform gesellschaftlich rasch durchzusetzen vermochte.
Zunächst versammelten sich einfache Bürger und pflegten eine rituell geregelte Geselligkeit. Als 1719 der 1683 in La Rochelle geborene und nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes nach England emigrierte John Theophilus DESAGULIERS (gest. 1744) zum dritten Großmeister gewählt wurde, veränderte sich das soziale Spektrum schlagartig. Aus dem Zusammenschluss eher kleinbürgerlicher Leute wurde ein „gesellschaftliches Ereignis“. Schon 1721 wurde John Duke of MONTAGU (1690-1749) Großmeister einer Großloge mit 16 Logen, 1725 zählte man 52, 1732 bereits 109 Logen. James ANDERSON (um 1680-1739), der 1723 die „Alten Pflichten“, das freimaurerische Grundgesetz, formulierte, schuf in enger Zusammenarbeit mit DESAGULIERS die bis heute gültigen Grundregeln der Freimaurerei. Diese nahmen trotz des Zustroms aus der aristokratischen Welt und aus den Herrscherhäusern – 1731 wurde FRANZ STEPHAN von LOTHRINGEN (1708-1765),7 1737 Frederick Prince of WALES (1707-1751), 1738 FRIEDRICH von PREUSSEN (1712-1786) aufgenommen – die Überwindung der ständisch strukturierten Gesellschaft vorweg. Gleichzeitig aber etablierten diese Aufnahmen vielfach die enge Bindung einzelner Großlogen an das jeweilige Herrscherhaus, die in Skandinavien bis in die jüngste Vergangenheit, in England bis in die Gegenwart anhielt.
In den angesprochenen „Alten Pflichten“ heißt es unter anderem über die Voraussetzungen, die Aufnahmewerber zu erfüllen haben: „Sie sollen also gute und redliche Männer sein, von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugung sie sonst vertreten mögen. So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften […].“8
Und weiter heißt es: „Die als Mitglieder einer Loge aufgenommenen Personen müssen gute und aufrichtige Männer sein, von freier Geburt, in reifem und gesetztem Alter, keine Leibeigenen, keine Frauen, keine sittenlose und übelbeleumdeten Menschen, sondern nur solche von gutem Ruf.“9 In den „General Regulations“ werden diese erforderlichen Voraussetzungen zusätzlich erläutert: Im Regelfall darf niemand unter 25 Jahren sein,10 eine „sorgfältige Überprüfung des Rufes und der Eignung des Suchenden“ muss stattgefunden haben,11 und niemand kann ohne „einstimmige Zustimmung“12 aller „anwesender Brüder der Loge“ aufgenommen werden.
Die Erfindung der Freundschaft, die charakteristische Verbindung von Freundschaft und Geselligkeit, von der Maurice AYMARD spricht,13 steht am Beginn des „geselligen“ [18.] Jahrhunderts.14 Er hebt dabei hervor, dass die „Freundschaft zwischen zwei Menschen, die sich aus freien Stücken füreinander entschieden und lediglich ihre Beziehung im Sinne hatten […] außergewöhnlich und einzigartig“ war.15 Trat nun ein Mann, der schon in einem konkreten Freundschaftsverhältnis zu einem anderen Mann stand, zu einem dritten in ein solches Beziehungsgeflecht, so hatte er darüber seinen Freund zu informieren, um gleichsam dessen Zustimmung zu erhalten, denn durch diesen Schritt wurde auch der bisherige Freund in eine neue Konstellation einbezogen.16 Nichts anderes findet sich im letzten angeführten Verweis: Bruder in einer Loge kann nur der werden, den das Beziehungsgeflecht innerhalb des Tempels der hier Versammelten akzeptiert. Adolph Freiherr KNIGGE (1751-1796) hält in seinem „Umgang mit Menschen“ in diesem Konnex ein gruppendynamisches Prinzip fest: „Übrigens rathe ich, wenn man sich soweit in seiner Gewalt haben kann, mit so wenigen Leuten wie möglich vertraulich zu werden, nur einen kleinen Cirkel von Freunden zu haben und diesen nur mit äußerster Vorsicht zu erweitern.“17
Die „reine Lehre“ und der Bau am „Tempel“18 waren und blieben weitestgehend eine männliche Domäne, denn, so Michael Andreas RAMSAY (1686-1743) in seinem „Discours“ 1737, „im Interesse der Reinheit unserer Maximen und Sitten“ hätten die Frauen draußen zu bleiben.19 Trotz des säkularisierten Erziehungsideals formte das Bild des Tempels auch die Vorstellung vom „spekulativen Maurer“. Dessen Bild entspricht zum einen dem sozialen Selbstverständnis der Entstehungszeit –„ein Mann und von freier Geburt“– und übernimmt zum anderen das Bild des Priesters, wie es durch die Opfervorstellungen des Alten Testaments20 geprägt worden ist. In den Alten Landmarken heißt es daher: „Die Anwärter für die Aufnahme müssen Männer sein, ohne körperliche Mängel oder Verstümmelungen, frei von Geburt, großjährig und von gutem Leumund; Frauen, Krüppel und Sklaven können nicht beitreten.“21 Ergänzt man dieses Bild mit einem externen Modell, nämlich jenem des Gentlemans,22 so kommt man zu einer erstaunlichen Übereinstimmung.
Das Symbol des Salomonischen Tempels
Ein Exkurs zum Ritual
Anton KREIL,23 Professor am Theresianum in Wien, wandte sich emphatisch anlässlich einer Lichtgebung, der Initiationen eines neuen Mitglieds also, in der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ an seine Brüder und den eben aufgenommenen Lehrling: „Ueberall also Scheintugend oder Aftertugend; überall Verführung oder Mißhandlung, Betrug, Heucheley, Gleisnersinn, ewiges Untergraben, und Uebervortheilen, freche Gewaltthätigkeit, überall die verschämte Ehrlichkeit im Gedränge, überall das unverschämte Laster im Triumphe. So Brüder! so stehts mit unserm Tempelbau. Werft Eure Kelle weg, zerreißt eure Schürzen, zertrümmert Zirkel und Winkelmaaß. Wozu sollen uns diese Werkzeichen, seitdem das verschmitzte Laster das Geheimniß gefunden hat, sie zu verfälschen, seitdem der Eckstein geborsten ist? Wenn wir uns aber vom Kampfe zurückziehen, wer wird sich um die Sache der Tugend annehmen? wer die Unschuld schützen? wer die Thränen der bedrängten Waisen, der hilflosen Mündel trocknen? die Rechte der gekränkten Menschheit wider ihre Unterdrücker vertheidigen? Wer wird dem Arme des Boshaften Einhalt thun, dass er seinen Streich nicht vollende? Auf Brüder! rettet, was noch zu retten ist. [… So wirket im Stillen, bringt Stützen dem Tempel, der uns izt noch immer nachsinkt!“24
Das Bild des Tempels, der in Gefahr ist, einzustürzen, evoziert zum einen das Bild eines Bauwerkes, an dem mit Maurerwerkzeug gearbeitet wird, zum anderen das Bild einer moralisch verkommenen Welt, zu deren Rettung Menschen aufgerufen werden. In der dieser Ansprache vorangegangenen Initiation wird der Suchende mit dem Bild des Tempels vertraut gemacht.
Der Meister vom Stuhl erklärt dem Lehrling die Symbole, die er auf der Lehrlingstafel findet. Nach dem Hinweis auf das Handwerksgerät führt die Erklärung zu einem zweiten Motivkranz:„Noch sehen sie hier Hieroglyphen,25 die wir Salomo’s Tempel entlehnt haben […]. Der mosaische Fußboden,26 so schön als fest, ist das Sinnbild der Grundlage, die wir bey denen suchen, welchen wir die Pforte unseres mystischen Tempels öffnen wollen. Festigkeit des Karakters, und der Wunsch, ihre Seele unaufhördlich zu verschönern, muß unsere Suchende vor andern auszeichnen. Die Schnur mit Fransen diente im Tempel Salomo’s den Vorhang zuzuziehen, der das Allerheiligste verhüllte: statt dieses Vorhanges erblicken sie sie auch hier.27 Verschwiegenheit ist der Vorhang, der unser Heiligthum vor der Entweihung sichert. Die zur linken stehende Säule, mit dem Buchstaben I bezeichnet, ist die Abbildung der Säule im Vorhofe des Salomonischen Tempels, an welcher, der Tradition zu Folge, während des Tempelbaues die Lehrlinge ihren Lohn zu empfangen pflegten.28 Das Wort ihres Grades erinnere sie ohne Unterlaß: dass der Lohn ihrer Arbeit in dem beseeligenden Bewußtseyn, seine Pflicht gethan zu haben,29 bestehen müsse.“30
Das im Ritual angesprochene Bild des Tempels als Symbol für die Menschheit, an deren Vervollkommnung der einzelne zu arbeiten hat, findet sich naturgemäß auch in modernen Ritualen und Lehrgesprächen:
„Warum