Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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er hatte seinen Freund verhöhnt. (Die Niedrigen, die Verfemten, zu denen auch die Krüppel gehören, können sich nur selten des schadenfrohen Triumphes erwehren, wenn ein Wohlgeborener, und sei es auch ihr Freund, zu ihnen hinabgestoßen wird.) Hagop hatte es zwar versucht, seinen Verrat bei der Verfolgung Stephans durch die Horde wiedergutzumachen. Dies aber genügte nicht mehr. Mehr noch als das Schuldgefühl erfüllten Hagop schwere Sorgen. Er ahnte alles voraus. Mit seiner wilden Gelenkigkeit die Stadtmulde und alle Versammlungsplätze der Jugend um und um hüpfend, hatte er Stephan schon seit Stunden gesucht. Nicht einmal vor dem frechen Wagnis war er zurückgeschreckt, durch einen winzigen Vorhangspalt in Juliette Hanums Zelt zu spähen. Nun bekam er auch dieses seltsam erregende Bild nicht aus dem Kopf: die große weiße Frau aufs Bett gestreckt wie eine Tote und der oberste Befehlshaber, sie bestarrend, als träume er im Stehen. Als aber der Einbeinige dann bei der feierlichen Abfertigung der Boten den Bagradiansohn mit dem Rucksack in seinem Versteck aufgespürt hatte, da wurde die Ahnung zur Gewißheit. Nun klammerte er sich, keuchend vor Anstrengung, an Stephan:

      »Du darfst das nicht tun! Nein! Du mußt hierbleiben!«

      Stephan warf Hagop mit einem rohen Stoß zu Boden:

      »Du bist ein schmutziger Hund! Mit dir habe ich nichts zu schaffen.«

      Gabriels Sohn gehörte nicht zu jenen, welche schnell verzeihen. Hagop aber packte seine Beine:

      »Du gehst nicht! Ich dulde es nicht. Du bleibst hier!«

      »Laß mich los, sonst bekommst du einen Tritt ins Gesicht.«

      Der Krüppel zog sich an Stephan hinauf und zischte verzweifelt:

      »Du mußt ja bleiben! Deine Mutter ist krank. Du weißt es noch nicht ...«

      Auch dies verfing nicht. Stephan stutzte zwar einen Augenblick. Dann aber verzog er den Mund:

      »Ich kann ihr nicht helfen ...«

      Hagop hüpfte zwei Schritte zurück:

      »Weißt du, daß du nie mehr hierher zurückkommen wirst, daß du sie nie mehr sehen wirst ...«

      Stephan starrte eine Weile auf die Erde, dann aber wandte er sich und begann Haik nachzulaufen.

      Hagop ächzte hinter ihm her:

      »Ich werde schreien ... Ich werde alle wecken ... Sie sollen dich einsperren ... Ah, ah, ich schreie ...«

      Und er fing wirklich zu schreien an. Doch seine dünne Stimme reichte nur so weit, um Haik festzuhalten, der noch keine hundert Meter von der Stelle entfernt war. Der Läufer von Aleppo drehte sich um und blieb stehen. Stephan sprang ihm entgegen, Hagop ihm nach, kaum eine Handbreit hinter dem Gesunden zurückbleibend. Damit ihm Hagops Stimme nicht in die Quere komme, rief Stephan noch im Lauf:

      »Haik, ich gehe mit dir ...«

      Der Bote des Volkes ließ die beiden erst ganz nahe kommen. Dann maß er Stephan mit seinen ernsten Augen zwischen halbverkniffenen Lidern:

      »Warum haltet ihr mich auf? Es ist schade um jede Minute.«

      Stephan ballte entschlossen die Fäuste:

      »Ich werde mit dir nach Aleppo gehn!«

      Haik hatte sich einen Stock zurechtgeschnitten. Den hielt er nun wie eine Waffe ausgestreckt, als wollte er verhindern, daß ihm ein Unbefugter zu nahe komme:

      »Der Führerrat hat mich beauftragt, und Ter Haigasun hat mich gesegnet. Du bist nicht beauftragt und gesegnet ...«

      Hagop, den die Gegenwart Haiks stets kleinlaut und etwas liebedienerisch machte, wiederholte mit spitzem Eifer:

      »Du bist nicht beauftragt und gesegnet. Dir ist es verboten!«

      Stephan ergriff das Ende von Haiks Stock und preßte es wie eine Hand:

      »Es ist Platz genug für dich und mich.«

      »Es geht hier nicht um mich und dich, sondern um den Brief, den ich dem Konsul Jackson überbringen muß.«

      Stephan griff triumphierend in die Tasche:

      »Ich habe den Brief an den Konsul Jackson abgeschrieben. Zwei sind besser als einer.«

      Haik stieß den Stock fest auf die Erde, um dem Gespräch ein Ende zu machen:

      »Du willst wieder einmal gescheiter sein als alle.«

      Hagop deklamierte auch diesen Satz getreulich nach. Stephan aber wich um keine Haaresbreite:

      »Tu, was du willst! Platz ist genug. Du kannst es nicht verhindern, daß ich nach Aleppo gehe.«

      »Du aber kannst es dadurch verhindern, daß der Brief in Aleppo ankommt.«

      »Ich laufe nicht schlechter als du!«

      Haiks Stimme nahm den hochfahrenden Ausdruck an, der Stephan so oft schon aus der Fassung gebracht hatte:

      »Also wieder nur Wichtigmacherei?«

      Nach all den schrecklichen Wunden, die ihm dieser Tag zugefügt hatte, war das zuviel für Stephan. Er setzte sich auf die Erde und bedeckte sein Gesicht. Haik aber ließ seiner Verachtung freien Lauf:

      »Der will bis nach Aleppo kommen und wird jetzt schon schlapp.«

      Der Bagradiansohn schluchzte vor sich hin:

      »Ich kann nicht zurück ... Jesus Christus ... Ich ... kann ... nicht ... zurück ...«

      Vielleicht reimte sich Haik jetzt zusammen, was in Stephan vorging. Vielleicht dachte er an Schuschik, seine Mutter. Vielleicht kam ihm sogar der Wunsch, auf seinem Botenwege nicht ganz allein und verlassen zu sein. Wer kann es wissen? Jedenfalls war seine Art bedeutend umgänglicher geworden, als er auf Stephans eigene Worte hinwies:

      »Du hast recht, Platz ist genug. Niemand kann dich hindern ...«

      Hagop aber raffte sich zu einem verzweifelten Einspruch auf:

      »Was? Ich kann ihn nicht hindern? Christus Erlöser! Ich werde ihn anzeigen!«

      Nichts anderes als dieses dumme Wort »anzeigen« brachte die Entscheidung, denn es erregte einen Wutausbruch Haiks. So ernst und groß er auch war, seine Seele beherbergte noch immer die Grundgesetze der Schulbubenmoral, die auf der ganzen Welt gleich sind. Angeberei und Verrat, zu welchem Zweck auch immer verübt, gelten in diesem Gesetz als unsühnbare Verbrechen. Mit der aufrichtigsten Herzlosigkeit fuhr Haik den Krüppel an:

      »Anzeigen?! Zeig du nur an! Aber vorher werde ich dir dein einziges Bein hier so auseinanderschlagen, daß du nicht einmal mehr nach Hause kriechen kannst.«

      Hagop floh entsetzt ein gutes Stück zurück. Er kannte Haik, der seine Drohungen mit starken Fäusten meist verwirklichte. Der Widerstand des Blonden, den er nicht leiden konnte, hatte Haiks tyrannische Natur gereizt und somit die Wendung für Stephan gebracht. Jetzt kam schon eine ganz sachliche Frage:

      »Hast du Proviant für fünf Tage? So lange dauert der Weg, das heißt, wenn es gut geht.«

      Stephan klopfte großartig auf seinen Rucksack, als sei er für die längste Expedition überreich ausgerüstet. Haik aber prüfte die Tatsachen weiter nicht nach, sondern befahl kurz:

      »Marsch jetzt! Zu viel Zeit habe ich schon durch euch verloren.«

      Er hatte weder »Marsch zurück« noch auch »Marsch vorwärts« gesagt. Weit schritt er aus, ohne sich um Stephan zu kümmern, der ihm auf den Fersen blieb. Haik nahm den Bagradiansohn demnach nicht mit, sondern duldete ihn nur, da ja in diesen nächtlich unwegsamen Gebirgen tatsächlich »Platz genug« war.

      Unschlüssig sah Hagop, wie der Beauftragte und der Ausreißer hinter der nächsten mondgetränkten Höhenwelle verschwanden. Dann brauchte er fast eine Stunde, um in die Stadtmulde heimzuhüpfen. Stephans unsinnige Flucht drückte ihn wie ein Felsblock nieder. Er dachte an den weit harmloseren Streich wegen Iskuhis Bibel und welch schreckliches Ende er fast genommen hätte. Was sollte er tun? In der Hütte seiner Familie schlief schon fast alles. Mit einigen schlafheiseren Worten