Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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fallen. Durfte er denn um seines eigenen Kindes willen das Leben von hundert Verteidigern für ein tolles Abenteuer aufs Spiel setzen? Stephan hatte schließlich auf eigene Faust nichts andres unternommen als das, was Haik im Auftrage des Volkes tat. Es lag durchaus kein allgemeiner Grund vor, für ihn Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen.

      Mit der Wucht eines Erstickenden warf sich Gabriel Bagradian auf neue Arbeit. Schwäche und Lässigkeit, durch die Nahrungsnot gefördert, war in den Zehnerschaften eingerissen. Wer von Linie und Reserve aber bereits Glaubens war, man würde nun dem Tode mit brennendem Magen, doch sonst im Dolcefarniente entgegenwarten dürfen, wurde plötzlich eines anderen belehrt. Die Mannszucht straffte sich schmerzhaft. Tschausch Nurhan erhielt den Befehl, mit den Zehnerschaften tägliche Gefechtsübungen durchzuführen. Es war wie in den ersten Tagen. Niemand durfte, auch in den Freistunden nicht, seinen Posten verlassen. Urlaube für die Stadtmulde wurden nur in den dringendsten Fällen erteilt. Die Reserve bekam harte Arbeit. Für den künftigen Riesenangriff der Türken sollten die Stellungen nicht nur verbessert, sondern zur Täuschung des Feindes teils verlegt, teils durch mächtige Steinschanzen uneinnehmbar gemacht werden. Gabriel, Awakian und Lehrer Schatakhian zeichneten stundenlang an den neuen Plänen, deren Ausbau unverzüglich in Angriff genommen wurde. In diesen Tagen war alles in unablässiger Bewegung. Keiner vermochte der verzweifelten Aktivität Bagradians Widerstand zu leisten. Doch seine fordernde Unrast wirkte, merkwürdig genug, nicht aufreizend und haßerregend, sondern belebte die nachlassende Seelenspannung mit frischer Zuversicht und neuem Kampfesmut. Das Leben der Verteidiger bekam nach einem kurzen Zwischenspiel der Ermattung wieder Ziel und Inhalt.

      Gabriel Bagradian fühlte nicht eigentlich Widerstand gegen seine Person, sondern nur eine verschärfte Einsamkeit. Es ist wahr, auch in der vorhergehenden Zeit hatte sich weder zwischen ihm und den Führern noch auch zwischen ihm und dem einfachen Manne irgendeine Herzlichkeit, geschweige denn Freundschaft angesponnen. Man erwies ihm als Befehlshaber Gehorsam, Achtung, ja Dankbarkeit, doch er und die Leute vom Musa Dagh, das war zweierlei. Jetzt aber wich man ihm geradezu aus, selbst Aram Tomasian, der sonst bei jeder Gelegenheit ein Gespräch mit ihm gesucht hatte. Er bemerkte, daß rechts und links von seiner Schlafstätte in der Nordstellung die Nachbarn ihre Lager weiterrückten. Oberflächlich genommen lag die Erklärung darin, daß man in Gabriel Bagradian, der täglich eine Stunde und auch mehr am Krankenbett seiner Frau verbrachte, einen Träger der Ansteckung fürchtete. Doch hinter diesem äußeren Grunde verbargen sich weit verwickeltere Regungen. Gabriel Bagradian war der Mann, den ein Unheil getroffen hatte und von dem man ahnte, daß ihn ein viel härteres Unheil noch treffen werde. Die allmenschliche Angst vor einem Unheilbedrohten zog den vereinsamenden Bannkreis um ihn.

      Was die Epidemie im Lager anbetrifft, so war es zum größeren Teil dem günstigen Wetter, zum kleineren Teil Bedros Hekim zu danken, daß sie ihre schleichende, doch begrenzte Form nicht überschritten hatte. Von hundertunddrei erkrankten Personen waren bisher vierundzwanzig gestorben. Der Führerrat hatte dem Arzt eine Sanitätskommission beigestellt, zu der auch Pastor Tomasian gehörte. Diese Behörde inspizierte täglich einmal die ganze Stadtmulde, Hütte für Hütte. Wurde irgendwo ein Bewohner mit den leisesten Anzeichen fiebrischen Unwohlseins angetroffen, mußte er seine Decken und Kissen sogleich zusammenpacken und sich in das Epidemie-Wäldchen, das Infektionsspital des Lagers, begeben. Der Aufenthalt in diesem schattigen Gehölz war übrigens für die Kranken mild und angenehm. Ein Regen freilich hätte alles grausam verändert. Doch dem Unwetter des ersten Tages war, Gott sei es gedankt, bisher kein zweites nachgefolgt, was im Hinblick auf den syrischen August zwar eine Gunst, aber kein Wunder genannt werden darf.

      Bedros Altouni kam auf seinem Reittier zweimal im Tag zu Juliette Bagradian. Er wunderte sich darüber, daß die Krankheit bei ihr nicht den gewohnten Verlauf nahm. Die Krise schien sehr lange auf sich warten zu lassen. Das Fieber war nach dem ersten Anfall etwas gesunken, ohne daß die Kranke jedoch zu Bewußtsein gekommen wäre. Dabei lag sie nicht wie die anderen in tiefer Ohnmacht oder in phantasierender Erregung, sondern in einer Art von abgründig bleischwerem Schlaf. Innerhalb dieses Schlafes aber konnte sie, ohne zu erwachen, den Kopf wenden, den Mund öffnen und die Milch schlucken, die ihr Iskuhi reichte. Manchmal stammelte sie auch ein paar Worte aus einer anderen Welt herüber.

      Iskuhi Tomasian rührte sich in den ersten Tagen kaum aus dem Krankenzelt, da die arbeitsüberlastete Mairik Antaram die Pflege nur stundenweise übernehmen konnte. Das Mädchen hatte sein Bett hereinschaffen lassen und schlief bei Juliette. Howsannah und ihr Kind sah sie jetzt nicht mehr, wie es ja nicht möglich war. Trotz ihres Gebrechens leistete Iskuhi den Pflegedienst mit Geschick. Da schon am zweiten Tag zu der Krankheit eine eitrige Angina hinzutrat, geschah es oft, daß Juliette die Milch, die ihr Iskuhi einflößte, nicht hinunterwürgen konnte oder wieder erbrach. Die Pflegerin mußte dann noch zu allen anderen Mühen die Bettwäsche auswechseln und waschen. Juliettens Dienerinnen ließen sie ruhig gewähren. Sie fürchteten sich vor der Ansteckung und berührten nur mit großem Widerwillen die Kranke und ihre Sachen. Meist steckten sie nur einmal am Morgen und ein andres Mal gegen Abend den Kopf scheu ins Zelt und verschwanden dann. Was hatten sie schließlich mit dieser Fremden zu schaffen, die in solch schmählichem Rufe stand? Die Last lag vorläufig auf Iskuhi ganz allein. Bei Tag und Nacht erwies sie der Bewußtlosen Liebesdienste, ohne daß ihr Herz der Französin auch nur einen Schatten nähergekommen wäre. Wenn die Frau des Arztes zur Ablösung erschien, mußte sie die junge Tomasian mit Gewalt aus dem Krankenzelte entfernen, damit diese ein paar Stunden lang ruhe. Iskuhi aber setzte sich dicht vor den Eingang und rührte sich nicht fort. Wenn ein Schritt ertönte, ein Gesicht auftauchte, erschrak sie tief und suchte sich zu verstecken. Der Gedanke an ein Zusammentreffen mit ihrem Bruder oder ihrem Vater verstörte sie. Am liebsten war ihr die Stunde an der Grenze zwischen Nacht und Morgen, wenn sie, wie eben jetzt, vor dem Zelt saß, um Gabriel zu erwarten. In dieser einsamsten Stunde der Welt pflegte er meist zu kommen, da er eine ganze Nacht auf seinem Schlafplatz in der Nordstellung fast niemals aushielt. Gabriel trat, von Iskuhi gefolgt, an Juliettens Bett. Die Petroleumlampe auf dem Spiegeltischchen warf ihr Licht voll auf den Kopf der Kranken. Altouni hatte gewünscht, man möge Juliette immer im Auge behalten, für den Fall, daß sie erwache oder daß eine Herzschwäche eintrete. Gabriel Bagradian beugte sich über seine Frau und schob die Augenlider auseinander, als wollte er durch die Einwirkung des Lichtes ihren Geist zurückrufen. Juliette wurde wohl unruhig, machte zuckende Bewegungen, atmete laut, doch sie erwachte nicht. Die Stimme Iskuhis erzählte alles Wissenswerte, das sich tagsüber ereignet hatte. Im Zelte redeten die beiden nur Sachliches miteinander. Doch auch vor dem Zelte war's nicht geheuer. Als sie jüngst um die gleiche Stunde Arm in Arm auf dem Dreizeltplatz umhergegangen waren, hatte Iskuhi gespürt, wie Howsannahs Türvorhang sich bewegte und der Blick verborgener Augen sie im Rücken traf. Darum verließen sie heute den Krankenraum auf Zehenspitzen und begaben sich zum »Gartensalon«, zu jener von Myrten umsäumten Bank, wo Juliette in früheren Tagen ihre Bewunderer empfangen hatte. Hier waren sie gut geborgen. Trotz der tiefen Einsamkeit berührten sie einander nicht und sprachen nur hauchend leise:

      »Weißt du, Iskuhi, vorhin hab ich gemeint, ich verliere den Verstand. Aber in dem Augenblick, da ich deine Nähe gefühlt habe, waren diese grauenhaften Einbildungen vorüber. Jetzt bin ich wieder frei. Sei still! Es ist schön. Lange wird's ja nicht dauern.«

      Er lehnte sich weit zurück wie ein Leidender, der endlich eine schmerzfreie Körperstellung gefunden hat und diese festhalten will:

      »Ich habe Juliette geliebt und vielleicht liebe ich sie noch. Mit der Erinnerung wenigstens. Aber dies zwischen dir und mir, was ist das, Iskuhi? Am Ende meines Lebens hab ich dich finden müssen, wie ich hierherkommen mußte, nicht durch Zufall, sondern ..., aber wer kann das ausdrücken? Mein Lebtag habe ich immer nur das Fremde gesucht. Es hat mich verführt, doch niemals glücklich gemacht. Und auch ich habe das Fremde verführt und nicht glücklich gemacht. Man lebt mit einer Frau, Iskuhi. Und dann trifft man die einzige wahrhaftige Schwester, die man hat, und es ist zu spät ...«

      Iskuhi sah an ihm vorbei in das träge bewegte Gesträuch:

      »Wenn wir uns draußen in der Welt begegnet wären, irgendwo, hättest du dann die Schwester in mir auch bemerkt ...?«

      »Das weiß Gott allein. Vielleicht hätte ich sie nicht bemerkt ...«

      Kein Schatten lag auf ihrer Stimme: