Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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gloste es unter den zusammengebrochenen Strünken weiter. Hier hatte eine gnädige Hand alles zugunsten der Armenier gelenkt. Bagradian löste die Besatzungen der überflüssig gewordenen Abschnitte endgültig auf und schuf dafür eine starke Postenkette, die den Bergrand vor Überraschungen und türkischen Kundschaftern zu sichern hatte. Den vorhandenen Möglichkeiten und Anzeichen nach zu schließen, beruhte die Absicht der Türken auf einem von zehnfacher Übermacht geführten Generalstoß im Norden, der, von Artillerie wahrscheinlich unterstützt, die verbrauchten Armeniersöhne aufreiben sollte. Unablässig schallten die Axthiebe. Trotz dieser eindeutigen Zurüstungen aber war Bagradian vorsichtig genug, eine Spähergruppe auch in den südlichen Raum vorzuschicken. Diese mutigen Burschen wagten sich am Abend bis nach Suedja hinein. Sie meldeten, daß nur ganz wenig Militär und fast gar keine Saptiehs in der Orontes-Ebene lägen. Alle Truppen seien im Dörfertal zusammengezogen. Die Felsbastion und ein neuer Steinschlag schien den Türken trotz ihres Generals noch immer einen heillosen Respekt einzuflößen. Dennoch beschloß Gabriel, die Südbastion morgen zu visitieren.

      Am Abend saß er auf seinem Schlafplatz und starrte auf die Sattellehne hinüber, auf die Baumgruppen des Höhenrandes, zwischen denen Stephan verschwunden war, ohne daß er es hatte verhindern können. Noch immer rückten ihm seine Nachbarn nicht näher. Wenn er kam, unterbrachen sie ihr Gespräch, standen auf und grüßten ihn als Führer. Das war alles. Auch von ihnen sprach keiner ein Wort wegen Stephan zu ihm. Vielleicht wagten sie es nicht. Alle sahen ihn so merkwürdig an, traurig und forschend. Tschausch Nurhan allein war immer hinter ihm her gewesen, als habe er so manches auf dem Herzen, wolle aber erst den rechten Augenblick abwarten. Nun schlief er schon seinen wohlverdienten Schlaf, denn keiner der Jüngsten reichte an diesen alten Kerl und seine Unermüdlichkeit heran. Gabriel Bagradian hatte nun schon vierundzwanzig Stunden weder Iskuhi noch Juliette gesehen. Ihm war wohler so. Alle Bindungen zerrannen. Er durfte sich nicht mehr in die Schwäche zurückwerfen lassen. Er mußte kalt und frei sein für den letzten Kampf. Ja, trotz seiner unermeßlichen Traurigkeit fühlte er sich kalt und frei für diesen letzten Kampf. Auf dieser Bergeshöhe waren die Septemberabende schon recht kühl. Auch hatte sich der umspringende Wind noch nicht gelegt, wenn er hie und da auch pausierte. Wo waren die schönen Mondnächte hin, da der gräßliche vierzigfache Mord an Stephan noch nicht in seinem Bewußtsein lebte? Gabriel starrte noch immer auf die schwarze Wand gegenüber. Manchmal winselte der Wind in den Bäumen oben. Wie feige waren die Feinde! In solcher Nacht hätten sie auf der Lehne dort einen Graben anlegen können, ohne gehindert zu werden. Ach was, solche Künste brauchten sie nicht, wenn sie Kanonen hatten. Dann war alles im Handumdrehen zu Ende. Doch, vielleicht sollte man das gar nicht abwarten, vielleicht sollte man zuvorkommen, wieder einmal eine Idee haben. Hatte er, Gabriel Bagradian, nicht immer eine rettende Idee gehabt, so daß man noch heute ungebrochen dastand? Zuerst war's der Verteidigungsplan gewesen, das ganze System, dann die Komitatschis, die fliegende Garde, der rettende Waldbrand ... Zuvorkommen?! Ein neuer Einfall jetzt! Aber was? Aber wie? Sein Kopf war leer.

      Am nächsten Tag visitierte Gabriel Bagradian die Südbastion, wie er sich's vorgenommen hatte. Vorher aber machte er bei der Haubitzenstellung halt. Die Geschützrohre waren nach entgegengesetzten Seiten gerichtet, das eine auf die Nordhöhen, das andre nach Suedja. Gabriel hatte noch in den Tagen vor Stephans Tod die Elemente nach seiner Karte ermittelt. Es war immerhin möglich, den Anmarsch des Feindes zu stören und aufzuhalten. In den Geschoßverschlägen fanden sich noch vier Schrapnells und fünfzehn Granaten. Die Geschütze hatten eine Wache und Bedienung von acht Mann, die durch Nurhan Elleon in den einfachsten Handhabungen wie Vorführen, Sporenwerfen, Geschoßzubringen, Schnurabziehen und so weiter notdürftig ausgebildet worden waren.

      Tschausch Nurhan, Awakian und einige Abschnittsführer begleiteten Gabriel auf seinem Inspektionsgang. Die ersten Eindrücke, die diese Männer im Gebiet der Südbastion empfingen, waren weiter nicht verdächtig. Sarkis Kilikian hatte es sich nach seiner Haftentlassung sogar angelegen sein lassen, die Maschinerie der Sturmwidder noch weiter zu verbessern. Die mächtigen Stoßschilde waren durch strahlenförmig über den Rand greifende Ruder vergrößert. Der Anprall der Schilde konnte nun eine weit umfangreichere Fläche der lockeren Mauern erfassen. Auch waren die Platten selbst verdoppelt und durch reichlichen Eisenbeschlag und starke Klammern gesichert. Wenn man dem gedrungenen Anblick trauen durfte, so waren diese Katapulte imstande, Blöcke von Zentnergewicht bis in die Ruinen von Seleucia zu schleudern. Kilikian schien sich für nichts andres als für dieses düstere Spielzeug zu interessieren. Es war ein kindhafter Zug, dieser Anfall von verbohrtem Eifer, mit dem er immer wieder an den Mauerbrechern herumarbeitete. Der Eifer stand im schärfsten Widerspruch zu der ausgelaugten Verödung seines Wesens. Gabriel Bagradian aber hatte vom ersten Augenblick an irgendeine verschüttete Quelle in diesem Opfer eines schrecklichen Lebens gespürt. Sein Verhältnis zu Kilikian war voll unaufgelöster Spannungen. Etwas in dem wohlerzogenen Großstädter und vornehmen Bürger fürchtete sich vor dem radikalen Nichts, das in dem Deserteur steckte. Es hatte zwischen ihnen nur ein einziges Mal ein Kampf stattgefunden, bei dem Kilikian schmählich unterlegen war. Doch weder ist dem Sieger damals wohl zumute gewesen, noch auch konnte er heute die Unsicherheit ganz überwinden, die ihn angesichts dieses Menschen jedesmal überfiel. Es war eine ausgesprochene Schwäche Bagradians und nicht leicht zu erklären. Er konnte die eigentümliche Achtung nicht loswerden, die ihm dieser Mensch einflößte, ohne sie durch irgendeine Eigenschaft oder Leistung zu verdienen. Jedesmal, wenn er ihm begegnete, versuchte Gabriel durch ein paar freundliche Worte, durch eine teilnehmende Erkundigung mit Sarkis in Verbindung zu treten und jedesmal wurde diese werbende Bemühung auf das peinlichste enttäuscht. Kilikian war der einzige Mensch auf dem Musa Dagh, demgegenüber Gabriel Bagradian nicht den richtigen Ton fand. Entweder sprach er allzu herablassend zu ihm oder allzu gleichgestellt. Der Russe aber fand immer irgendeine Art, Bagradian abzulehnen. Daß er zum Beispiel jetzt ruhig auf dem Rücken liegenblieb, während der oberste Führer seinen Katapulten neues Lob zollte, war nicht nur eine Unverschämtheit, sondern eine Verletzung der Subordination, die unverzüglich hätte bestraft werden müssen. Anstatt dessen wandte sich Gabriel ab, Lehrer Oskanian mit den Blicken suchend. Dieser aber hatte sich bei der Ankunft Bagradians in hysterischer Feigheit rasch aus dem Staub gemacht. Er konnte ja nicht wissen, daß weder Ter Haigasun noch Bedros Hekim noch Schatakhian den Betroffenen von jener widerwärtigen Beratung in Kenntnis gesetzt hatten, in welcher der Lehrer soviel Gift gegen das Haus Bagradian verspritzt hatte. Im übrigen schien sich seit seinem Ausschluß aus dem Führerrat Hrand Oskanians Geisteszustand nur noch eitler verwirrt zu haben. Er suchte wahrscheinlich eine Oskanianpartei zu gründen. Seit Tagen redete er auf allerlei schlichte Leute sprudelnd los, die nicht zur Südbastion gehörten, ihn aber dort besuchten. »Die Idee«, wie er es nannte, nahm in seinem Hirn immer schärfere Gestalt an. Diese Idee aber war durchaus nicht Eigenwuchs, sondern entstammte einer lichtvollen Darlegung Meister Krikors, der vor vielen Jahren einmal während eines philosophischen Spaziergangs über den Freitod gehandelt hatte, »die Pflicht zu leben« und »das Recht zu sterben« mit Hilfe unbekannter, aber wohllautender Autoren gegeneinander abwägend.

      In den Stellungen der Südbastion fanden die Visitierenden keine grobe Fahrlässigkeit. Der Dienst war nach den Gesetzen der Zehnerschaftsordnung eingeteilt, die Posten waren besetzt, die vorgeschobenen Feldwachen lagen am Rande der großen Steinhalde. Auch der Zustand der Gewehre ließ nichts zu wünschen übrig. Und doch hatte die Haltung dieser Mannschaft, trotz aller oberflächlichen Ordnung, etwas Unbestimmtes, Träges, Verdächtiges, das Tschausch Nurhans Unwillen herausforderte. Die Besatzung bestand aus elf Zehnerschaften, etwa fünfundachtzig Männer zählten zu den Deserteuren. Nicht alle unter diesen waren zweifelhafte Gesellen, im Gegenteil, die Mehrzahl setzte sich aus recht harmlosen Ausreißern zusammen, die vor drohender Mißhandlung, Bastonade oder Straßenarbeit durchgegangen waren. Was nun auch immer schuld sein mochte, Elend, Verlotterung, schlechtes Beispiel, alle hatten Sarkis Kilikians störrische Apathie angenommen, als wäre sie die rechte schicke Lebensart, die Männer ihresgleichen kleidet. Das war ein schlappes Hinundherschlurfen, ein höhnisches Herumlungern, ein freches Auf-dem-Rücken-Liegen und Sichrekeln, ein herausforderndes Grölen und Gepfeife, das für die künftige Schlacht nichts Gutes hoffen ließ. Nicht eine Truppe von Kämpfern glaubte man vor sich zu haben, nicht einmal eine echte Verbrecherbande, sondern ein Rudel verkommener und aufsässiger Landstreicher, die sich in einer Einöde zusammengerottet hatten. Gabriel Bagradian aber schien der Sache keine übermäßige Bedeutung beizumessen.