Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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lange Geschichten aus ihrem früheren Leben erzählten, kernlose Anekdoten von Haus und Handwerk, von Bienen und Raupen, von Reben und Holz, wobei sie selbst ihre fleißigen Lacher waren. Über allem aber lag ein Schleier von sanfter Langsamkeit. Die kleinen Kinder schliefen fest, die größeren machten keinen Lärm, und selbst die Jugendkohorte zeigte, soweit sie sich nicht im Dienste befand, eine erschreckende Bewegungslosigkeit. Bis gegen Mittag starben drei alte Leute und zwei Säuglinge. Die Mütter hielten die armen Kreaturen fest an ihre leeren Brüste gedrückt, bis sie kalt und steif wurden.

      Der Wechselsturm der letzten Tage hatte sich heute zur Eindeutigkeit entschlossen. Er fuhr in kurzen Stößen vom Südosten her über die Hochfläche. Die Stadtmulde lag nicht tiefgebettet genug, um gegen den feinen Sandschleier Schutz zu bieten, in den der Wind gehüllt war. Oft hatte es den Anschein, als wolle er die riesigen Gluthalden, die weithin die Brust des Damlajik bedeckten, von neuem entflammen. Noch einmal warf sich mörderische Steppenhitze mit trockenen Drosselgriffen über alles Leben. Das Laub der Eichen und Buchen war längst verdorrt. Doch auch die immergrünen Lederblätter des Buschwerks und der Klettergewächse wollten sich schließen wie verrunzelte Hände. Die Menschen aber in ihrer guten Betäubung litten kaum mehr unter dem Wetter. Sie merkten es nicht einmal, daß Mundhöhle, Gaumen, Zunge und Rachen von den kristallharten Körnchen des Küstenstaubes entzündet waren.

      Im Gegensatz zu dem Lagervolk besaßen die Männer in den Stellungen draußen noch Leben und Tatkraft genug. Auch sie waren alles eher als satt. Das ausgeteilte Fleisch und die Konserven des Hauses Bagradian reichten nicht hin, um den Hunger auch nur in bescheidenem Maße zu stillen. Die Entbehrung aber erregte die Verteidiger in eigentümlicher Weise, sie erzeugte ein trunkenes Verlangen nach Kampf, nach Entscheidung. Die neue Ordnung der Dinge hatte den Vorteil, daß Gabriel Bagradian den nächtlichen Handstreich vorbereiten konnte, ohne sich darum zu kümmern, ob sich das Volk entschließen werde, den Damlajik zu verlassen. Seiner Leute war er sicher. Und heute nacht wollte er den großen Schlag führen. Der Vorstoß ins Tal war aufs peinlichste durchdisponiert. Nichts hatte er vergessen. Jeder Mann und jede Minute waren eingeteilt und ausgenützt. Gabriels gelehrter Hang zum Theoretischen überließ nichts dem Glück. Immer neue Widerstände erfand er, immer wieder setzte er eine Möglichkeit gegen die andre. Die Rückzugslinie der eigentlichen Überrumpelungsgruppe war durch ein fein ausgeklügeltes System von Komitatschis gesichert, die ihre Posten schon drei Stunden vor der Unternehmung beziehen sollten. Doch nicht genug damit! Gabriel Bagradian entschloß sich, die Türken auf den Nordhöhen den ganzen Tag über durch Scheinangriffe und jähe Feuerüberfälle in Unruhe zu versetzen, damit sie so viel Truppen wie möglich vom Tal abziehen müßten. Unerwarteterweise kamen die Türken seinen taktischen Wünschen entgegen. Ihre Vorbereitungen ließen unschwer darauf schließen, daß sich binnen vierundzwanzig Stunden alles entschieden haben mußte. Auf den Höhen jenseits des Sattels herrschte das Leben des Stellungskrieges vor einer Offensive. Die Armeniersöhne konnten drüben zwischen Bäumen und Strauchwerk ängstlich vorzögernde Reihen von Infanteristen beobachten, die auf ihren Schultern dicke entlaubte Baumstämme schleppten, welche sie auf den Höhenrand hinpoltern ließen. Ohne Zweifel sollten diese glatten mächtigen Stämme als bewegliche Deckungen dienen, wenn die Schwarmlinien zum Angriff vorkrochen. Bagradian und Tschausch Nurhan gingen im vordersten Graben von Mann zu Mann, die Gewehraufsätze auf die richtigen Entfernungen hin prüfend. Wenn sich auf der Gegenseite einer der Türken zu weit zwischen den Bäumen vorwagte, gaben sie vereinzelte Schußbefehle. Auf diese Weise fielen bis zur Mittagsstunde einige Feinde. Die tödliche Kugel wurde jedesmal mit einem wilden regellosen Feuer beantwortet, das über die Köpfe der Verteidiger hinwegfuhr oder in den Steinhaufen des Schanzwerks steckenblieb. Die Kämpfer sahen mit wildem Stolz, daß die neuen Sicherungen so stark waren, daß sie nur durch Artillerie zusammengeschossen werden könnten. Für das Vorhandensein dieser Artillerie sprach aber noch immer kein Anzeichen. Die seltsame Trunkenheit des Hungers erzeugte bei den Armeniersöhnen Tollheitsausbrüche. Sie wollten mit allen Mitteln die Türken zu einem Angriff herauslocken. Sie kletterten aus den Gräben, sie tanzten auf der Deckung, manche wagten sich weit ins Hindernisfeld vor; Tschausch Nurhan und die Unterkommandanten hatten alle Mühe, die Ungebärdigen vor verrückten Wagnissen zurückzuhalten. Die Türken ließen sich nicht herausfordern. Dem Anschein nach waren sie durch die lebenstolle Wildheit derer, die man ihnen als Halb- und Ganzverhungerte geschildert hatte, aufs äußerste betreten. Und als dann gar ein Teil der im Gefelse postierten Zehnerschaften auf eigene Faust vorbrach, eine Türkenpatrouille zusammenschoß und ungehindert wieder zurückkehrte, da hatten die Regierungstruppen neuerdings den klaren Beweis dafür, daß es bei der verfluchten Rasse nicht mit rechten Dingen zuging.

      Um die Mittagsstunde besuchte Ter Haigasun die Kämpfer. Gabriel Bagradian bat ihn, er möge in ihrer Mitte ein Gebet sprechen, da die Zehnerschaften heute ja nicht bei dem großen Bittgottesdienst zugegen sein konnten. So geschah es auch. Gabriel meldete dem Priester ferner, daß die Anwesenheit dieser Männer beim Volksentscheid überflüssig sei, denn sie hätten durch Tschausch Nurhans Mund erklärt, immer und überall mit dem Führer gehn zu wollen. Ter Haigasun sah den von Tateifer glühenden Gabriel verwundert an. Noch vor wenigen Tagen hatte er geglaubt, diese Seele sei nicht rauh genug, um den Foltertod des Sohnes zu überwinden. Auf dem Rückweg in die Stadtmulde aber wußte Ter Haigasun genau, daß Bagradians Seele gar nichts überwunden hatte als sich selbst. Und das vielleicht nur für die wenigen Stunden dieser allerletzten Anspannung.

      Generalmajor Ali Risa Bey war einer der jüngsten Brigadegenerale der ottomanischen Armee, noch nicht vierzig alt. Er hatte sich schon in Libyen und im Balkankrieg als Frontoffizier ausgezeichnet und gehörte jetzt zum engsten Mitarbeiterstab Dschemals. Ali Risa war jedoch äußerlich und innerlich das gerade Gegenteil seines Chefs, des malerischen Diktators von Syrien. Er vertrat gewissermaßen den allermodernsten und westlichsten Kriegertypus, den es gab. Man mußte ihn nur sehen, wie er zur Stunde im Selamlik der Villa Bagradian auf und ab ging, während die Offiziersversammlung um ihn kleinlaut und erstorben seinen schlanken Schritten folgte. Der ganze Unterschied wurde klar, wenn man den jungen General etwa mit dem verwundeten Jüsbaschi verglich, der, den Arm noch immer in der Schlinge, in vorschriftsmäßiger Haltung auf eine Anrede seines Vorgesetzten wartete. Der Major mit seinen zigarettengebräunten Fingern und den abgelebten Zügen hatte, an Ali Risa gemessen, etwas Trübes, um nicht zu sagen Schmutziges. Jetzt stieß der General unmutig die Fenster des Salons auf, um die dichten, von den Offizieren erzeugten Rauchwolken zu verjagen. Er rauchte nicht, er trank nicht, er liebte weder Weib noch Mann, die Sage ging, daß er sich seines schwachen Magens wegen ausschließlich von roher Ziegenmilch nähre, ein durchsichtiger Asket des Krieges. In diesem Augenblick trat ein Onbaschi ein und überreichte ihm einen Dienstzettel. Der General warf einen Blick auf die Meldung und zog seine dünnen blassen Lippen ein:

      »Wir haben im Norden durch einen Ausfall der Armenier Verluste gehabt ... Ich werde den Kompaniekommandanten gründlichst zur Verantwortung ziehn ... Die Herren hier mögen es sich alle zu Gemüte führen ... Ich habe Seiner Exzellenz versprochen, daß bei der ganzen Aktion nicht ein einziger Mann auf unsrer Seite geopfert werden soll ... Wir heben ein Lager von Verbrechern auf, alles andre wäre eine unabsehbare Schmach ... Schändlich genug, daß es so weit gekommen ist.«

      Sein Blick suchte den Adjutanten:

      »Noch immer keine Nachricht über die beiden Batterien?«

      Der Adjutant verneinte kurz. Seit zwei Tagen schon erwartete man ungeduldig die Ankunft der Gebirgskanonen, die in Aleppo ausgeladen worden waren. Da dieser Transport aber nicht über Antakje, sondern über Beilan und das schwierige Gebirge ging, so verzögerte er sich endlos. Der General war daher gezwungen gewesen, den Hauptschlag von heute auf morgen zu verschieben. Jetzt blieb er vor einem der jüngeren Offiziere stehn:

      »Wieviel Kilometer Telefondraht sind bei den Kompanien vorhanden?«

      Der Angeredete erbleichte und fing Unbestimmtes zu stammeln an. Ali Risa Bey horchte gar nicht hin:

      »Es ist mir gleichgültig! Ich mache Sie aber dafür verantwortlich, daß bis gegen Abend, genau eine Stunde vor Sonnenuntergang, hier im Hause eine Telefonstation errichtet ist, die mit dem Berg in Verbindung steht, und zwar im Süden und Norden. Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Ich werde über die morgige Unternehmung des Jüsbaschi telefonische Meldung verlangen. Jetzt können Sie gehn ...«

      Der