Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


Скачать книгу

von ihnen die Seinigen schriftlich anweise, morgen, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, mit Sack und Pack zum Abmarsch gestellt zu sein. Weiber, Söhne, Töchter, Kinder, groß und klein. Der Befehl von Stambul laute dahin, daß die gesamte armenische Bevölkerung bis zum letzten Säugling umgesiedelt werde. Zeitun habe damit zu bestehen aufgehört, denn von nun an heiße es »Sultanijeh«, damit keine Erinnerung an einen Ort übrigbleibe, der es gewagt habe, dem osmanischen Heldenvolk zu trotzen.

      Am nächsten Tag zur anbefohlenen Stunde ging wirklich der erste gramvolle Transport ab und eröffnete damit eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist. Militärische Bedeckung folgte den Ausgetriebenen, und es zeigte sich auf einmal, daß der mächtige Heerbann, den man zur Belagerung der Flüchtigen aufgeboten hatte, einen kleinen, aber um so pfiffigeren Nebenzweck besaß. Täglich am Morgen wiederholte sich nun das gleiche herzzerreißende Spiel. Den fünfzig vornehmsten Familien folgten hundert weniger vornehme, und mit der sinkenden Gesellschaftsklasse und Wohlhabenheit nahm die Zahl der Abgefertigten zu. – Gewiß, in den riesigen Etappengebieten der europäischen Kriegsfronten wurden alle Städte und Dörfer ebenfalls ausgesiedelt, aber so schwer dieses Los auch für die Heimatberaubten zu tragen war, es läßt sich mit dem der Zeitunlis nicht vergleichen. Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten mußte. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.

      Manchen stimmt schon das Wechseln seiner Wohnung traurig. Ein verlorenes Stück des eigenen Lebens bleibt immer zurück. Für jedermann ist es eine große Entscheidung, seine Stadt mit einer andern, sein Lebensland mit einem neuen zu vertauschen. Selbst der Gewohnheitsverbrecher legt den Weg in die Gefangenschaft, ins Gefängnis schwer zurück. Aber rechtloser als ein Verbrecher sein, der doch noch den Schutz des Gesetzes genießt! Ausgetrieben werden von einem Tag zum andern, aus der Wohnstätte, von der Arbeit, aus dem im jahrelangen Fleiß Geschaffenen! Dem Haß überliefert! Ungerüstet auf asiatische Landstraßen geworfen, aber Tausende Meilen Staub, Stein und Morast vor sich! Zu wissen, man werde nie wieder ein menschenwürdiges Nachtlager finden, nie wieder an einem menschenwürdigen Tisch essen und trinken. Dies aber ist noch nichts. Unfreier sein als ein Sträfling! Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf. – Wer wagt es da noch zu sagen, er könne ermessen, welchen Jammer die Zeitun-Bewohner in jener langen Woche erlebten, die zwischen dem Abmarsch des ersten und des letzten Transportes lag? Selbst ein jugendlicher Mann wie Pastor Aram Tomasian, der ja, weil nicht in Zeitun gebürtig, bessere Aussichten besaß, wurde in diesen sieben Tagen vor dem Auszug fast zum Schatten.

      Pastor Aram – man nannte ihn nur bei seinem Vornamen – lebte seit mehr als einem Jahr schon als Pfarrer der protestantischen Gemeinde und Leiter des großen Waisenhauses in Zeitun. Daß man ihm als kaum Dreißigjährigem die Leitung dieser Anstalt anvertraut hatte, hängt damit zusammen, daß die amerikanischen Missionare von Marasch in Aram ihren Lieblingsschüler sahen, auf den sie große Stücke hielten. Sie hatten ihn ja auch mit einem Stipendium für drei Jahre nach Genf gesandt, damit er dort seine Studien vollende. Er sprach daher fließend Französisch und recht gut Deutsch und Englisch. Das Waisenhaus der amerikanischen Missionsväter in Marasch war eine der freundlichsten Schöpfungen ihrer fünfzigjährigen Kulturarbeit. Es beherbergte in großen lichten Sälen mehr als hundert Kinder. Eine Schule war angeschlossen und auch für die städtische Jugend bestimmt. Außerdem umfaßte die Anstalt eine kleine Landwirtschaft, so daß der Bedarf an Ziegenmilch, Gemüse und anderen Nahrungsmitteln aus eigenem gedeckt werden konnte. Die Leitung des Waisenhauses erforderte demnach nicht nur erzieherische Umsicht, sondern auch praktische Tüchtigkeit. Pastor Aram, dem, wie jedem jungen Menschen, die unabhängige Selbstherrlichkeit schmeichelte, war mit Begeisterung bei der Arbeit. Er erlebte ein schönes, werkstattliches Jahr und spann noch höhere Pläne. Im vergangenen Frühjahr, kurz vor Antritt seiner großen Stellung, hatte er geheiratet. Howsannah, seine alte Liebe, war ein Mädchen aus Marasch, Tochter eines Pastors aus der ersten Generation des dortigen Seminars. Während die meisten Armenierinnen zart und eher klein gewachsen sind, hatte Howsannah eine hohe und etwas füllige Gestalt. Sie bewegte sich langsam, sprach nicht viel, machte oft einen teilnahmslosen Eindruck. Iskuhi aber behauptete einmal ihrem Bruder gegenüber, daß Howsannahs Sanftmut durch Eigensinn und Nachträgerei zeitweise gemildert werde. Diese heiter vorgebrachte Kennzeichnung schien aber nicht zuzutreffen, denn welche wirklich eigensinnige Frau würde ihre Schwägerin im Hause geduldet haben? Mit der neunzehnjährigen Iskuhi hatte es seine eigene Bewandtnis. Aram vergötterte seine junge Schwester. In ihrem neunten Jahre schon, nach dem Tode der Mutter, hatte er sie aus Yoghonoluk entführt, damit sie die Missionsschule in Marasch besuche. Später ließ er sie nach Lausanne kommen, wo sie ein Jahr in einem Pensionat untergebracht war. Die Kosten dieses vornehmen Ehrgeizes für die kleine Schwester deckte er mit klug ausgetüftelten Entbehrungen seinerseits. Er konnte sich ein Leben ohne Iskuhi nicht vorstellen. Howsannah wußte das und stellte selbst den Antrag eines Lebens zu dritt. Das junge Mädchen übernahm die Stellung einer Hilfslehrerin im Waisenhaus. Sie erteilte französischen Unterricht. Es war kein Wunder, daß Iskuhi Liebe erweckte, und nicht nur die ihres Bruders. Neben den herrlichen Augen war das Schönste an ihr der Mund. Auf ihren tiefgefärbten Lippen lag ein feuchter, lächelnder Pupillenglanz, als könne sie mit dem Munde sehn. Die drei hatten sich ein hübsches und gar nicht landesübliches Leben eingerichtet. Die Pastorwohnung lag im Waisenhaus. Sie verlor ihre Kahlheit schnell unter Howsannahs Händen. Diese hatte kunstgewerbliche Begabung und einen großen Spürsinn für schöne Dinge. Sie streifte in der Stadt und in den Dörfern der Umgebung herum, um den eingeborenen Frauen alte prächtige Gewebe, Holzarbeiten und anderen häuslichen Zierat abzuhandeln, mit dem sie dann ihre Räume belebte, welche Tätigkeit ihre Zeit oft wochenlang ausfüllte. Iskuhi aber hatte mehr Neigung für Bücher. Aram, Howsannah und Iskuhi lebten ganz eingesponnen. Das Waisenhaus und die Schule bildeten so abgeschlossene Welten, daß diese drei blühenden Menschen die drückende Gewitterluft in Zeitun kaum spürten. In seinen Sonntagspredigten entwickelte der Pastor bis tief in den März hinein aufmunternde Freudigkeit, die eher auf das friedliche Glück seines eigenen Lebens als auf eine geistesscharfe Beurteilung der Regierungsabsichten schließen ließ.

      Der Schlag traf ihn so furchtbar, daß er taumelte. Er sah sein Werk verloren. Doch dann faßte er wieder die eitle Hoffnung, die Regierung werde nicht den Mut haben, das Waisenhaus zu schließen. Aram sammelte sich schnell. Ein Wort Howsannahs gab ihm noch am ersten Tag der Verschickungen seine Kraft wieder. Nur in solchen Augenblicken wie dem jetzigen erfülle sich der Sinn christlichen Priestertums aufs höchste. So sprach die Pastorentochter. Eingedenk solcher Mahnung spannte Aram Tomasian seine Energie übermenschlich an. Nicht nur hielt er seine Kirche Tag und Nacht offen, um den einzelnen Austreibungsgruppen auf ihren Dulderweg geistliche Kräftigung mitzugeben; er ging von Haus zu Haus seiner Pfarrkinder, von Familie zu Familie, trat unter die Weinenden, half mit all seinen Geldmitteln, organisierte in den Zügen eine gewisse Ordnung, schrieb Hilferufe an alle Missionen, die auf der Verschickungsstraße lagen, drechselte Bettelbriefe an türkische Beamte, die er für wohlwollend hielt, er verfaßte Eingaben und Zeugnisse, er versuchte für manche Personen einen Aufschub zu erwirken, er handelte mit türkischen Maultierbesitzern Preise aus, kurz er tat alles, was sich in dieser grauenhaften Lage tun ließ, und wenn er nichts tun konnte, nicht einmal mehr mit den Leiden des Evangeliums trösten, da setzte er sich stumm zu den Schmerzversteinerten, schloß die Augen, krampfte die Finger ineinander und schrie in seiner Seele zu Christus.

      Die Stadt wurde von Tag zu Tag leerer, während sich die Landstraße nach Marasch mit langen Menschenschlangen füllte, die nicht vorwärts zu kommen schienen. Von der Zitadelle oben hätte ein Beobachter sie weit in die Berge hinein verfolgen können, und nichts hätte sein Grauen tiefer erregt als die schleichende Stille dieser Todeszüge, die durch das Grölen und Lachen der bewaffneten Schergen nur noch grausamer gesteigert wurde. Die ausgestorbenen Gassen Zeituns belebten sich inzwischen