Franz Werfel

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)


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ist selbstverständlich, Maris, daß Ihnen für Ihre Reise eines meiner Pferde zur Verfügung steht.«

      Gonzague vertiefte sein aufmerksames Lächeln:

      »Ich würde Ihre große Güte dankbar annehmen, wenn ich nicht einen andern Wunsch hätte. Ich bitte Sie um die Erlaubnis, an Ihrem Leben oben auf dem Musa Dagh teilnehmen zu dürfen. Mit Apotheker Krikor habe ich schon gesprochen. Er hat den Priester Ter Haigasun meinetwegen gefragt und keine ablehnende Antwort bekommen ...«

      Bagradian überlegte eine kleine Weile:

      »Sie sind sich doch hoffentlich im klaren darüber, daß Ihnen nachher der schönste amerikanische Paß nichts helfen wird.«

      »Ich lebe nun schon so lange hier, Gabriel Bagradian, daß es mir nicht leicht fiele, Sie alle zu verlassen. Und dann habe ich auch meinen Nebenzweck als Journalist. Eine Gelegenheit wie diese kommt für einen Berichterstatter kein zweites Mal.«

      Etwas in Gonzagues Wesen machte auf Bagradian jetzt einen feindseligen, ja abstoßenden Eindruck. Er suchte nach einem Argument, um den Wunsch des jungen Menschen zurückzuweisen:

      »Es fragt sich nur, ob Sie dann auch noch die Gelegenheit haben werden, Ihre Berichte zu verwenden.«

      Gonzague antwortete nicht mehr Gabriel allein, sondern sprach nun zu allen Menschen, die sich im Zimmer befanden:

      »Ich habe mit meinem Ahnungsvermögen im Leben sehr gute Erfahrungen gemacht. Und diese Ahnung sagt mir diesmal ganz stark, daß die Sache für Sie alle gut ausgehen wird, Gabriel Bagradian. Das ist zwar nur ein Gefühl. Aber auf derartige Gefühle verlasse ich mich.«

      Seine gespannten Sammetblicke gingen von Howsannah zu Iskuhi, von Iskuhi zu Juliette, auf deren Gesicht sie haftenblieben. Und die Augen Gonzagues schienen Madame Bagradian zu fragen, ob sie seine Gründe nicht überzeugend genug finde.

      Siebentes Kapitel

       Das Begräbnis der Glocken

       Inhaltsverzeichnis

      Zwei Tage und zwei Nächte blieb Gabriel Bagradian auf dem Damlajik. Noch am ersten Abend sandte er Botschaft an Juliette, daß sie ihn nicht erwarten möge. Mehrere Ursachen waren es, die ihn zwangen, ohne Unterbrechung so lange auf dem Bergrücken zu verweilen. Der Damlajik war auf einmal nicht mehr die trotz aller rauhen Stellen idyllische Alpe, die Gabriel von seinen träumerischen und später von seinen strategischen Streifzügen her kannte. Er zeigte ihm zum erstenmal sein wahres, sein nacktes Gesicht. Alles auf dieser Welt, nicht nur der Mensch, zeigt erst dann sein wahres Gesicht, wenn es in Anspruch genommen wird. So auch der Damlajik. Der Abglanz des Paradieses, das Lächeln quellbelebter Einsamkeiten war aus seinen durchfurchten und schroff gewordenen Zügen verschwunden. Der Verteidigungsbezirk, den Bagradian gewählt hatte, umfaßte eine Bodenfläche von einigen Quadratkilometern. Diese Fläche war, bis auf die ziemlich plane »Stadtmulde«, ein beschwerliches Auf und Ab von Hügeln und Tälern, Kuppen und Schluchten, das sich gewaltig fühlbar machte, wenn man mehrmals am Tage die verschiedensten Punkte aufzusuchen hatte. Gabriel wollte die Kraft - und Zeitverschwendung eines nicht unbedingt notwendigen Abstiegs in das Tal vermeiden. Dennoch fühlte er eine körperliche Leistungsfähigkeit wie noch nie im Leben. Auch sein Körper zeigte erst jetzt, da er rücksichtslos in Anspruch genommen wurde, was er war und was er vermochte. Dagegen gehalten erschienen ihm die Kriegswochen, die er an der Balkanfront erlebt hatte, trüb und schlaff. Damals war man menschlicher Schlamm gewesen, der durch irgendwelche Naturgewalten unter Todesgefahr entweder vorgewälzt wurde oder sich ohne eigenen Antrieb unter Todesgefahr rückwärts ergoß. – In den letzten Jahren hatte Gabriel oftmals an Herzschwankungen und Magenbeschwerden gelitten. Diese Anfälle eines verzärtelten Körperbewußtseins waren jetzt vom Hauche der Notwendigkeit wie fortgeblasen. Er wußte nicht mehr, daß er ein Herz und einen Magen hatte, er beachtete es gar nicht, daß ihm drei Stunden Schlaf auf und unter einer Decke völlig genügten, daß ein Brot und irgendeine Konserve ihn für den ganzen Tag sättigten. Wenn er darüber auch nicht viel nachdachte, so erfüllte Gabriel dieser Selbstbeweis seiner Kräfte doch mit glücklichem Stolz. Es war der Stolz, der unsere Materie immer nur dann durchglüht, wenn der Geist ihr eine Niederlage bereitet hat.

      Wichtiger jedoch erwies sich ein anderer Umstand. Der größte Teil der zum Kampfe bestimmten Männer hatte schon auf dem Berge Quartier bezogen, überdies auch eine kleine Schar von kräftigen Frauen und ein Rudel Halbwüchsiger, die zur Arbeit verwendet wurden. Alles andere war aus kluger Vorsicht im Tale zurückgelassen worden. Dort sollte das alltägliche Leben zum Schein ruhig weiterlaufen, damit die Entvölkerung der Dörfer nicht ruchbar werde, überdies hatten die Dorfbewohner die Aufgabe übernommen, allnächtlich zu heimlicher Stunde soviel Vorräte wie nur möglich den Berg hinaufzuschleppen. Nicht alles ließ sich den Packeseln auflasten. Die langen Bretter und Balken aus der Werkstatt Vater Tomasians zum Beispiel mußten die Gesellen auf ihren eigenen Schultern tragen. Dieses Holz war zum Bau des Altars, der Regierungsbaracke und des Lazarettschuppens bestimmt. Von den erwählten Führern blieben die jüngeren, vor allem Pastor Aram Tomasian und die Lehrer, mit Gabriel auf dem Damlajik, während der große Rat unter Ter Haigasuns Leitung im Tale seines Amtes waltete.

      Fünfhundert etwa war die Zahl der Männer, die während jener Tage auf dem Berge lagerten. Es galt, in dieser Stoß- und Elitetruppe nicht nur den Arbeitseifer bis zur Erschöpfung zu steigern, sondern auch den leidenschaftlichen Kampfgeist, der schon in ihr lebte, immer höher zu schüren. Wenn man sich am Abend mit zerschlagenen Gliedern um die Lagerfeuer in der Stadtmulde versammelte, dann setzte Pastor Aram in längerer Rede, die mit einer Predigt recht wenig zu tun hatte, den Sinn des kriegerischen Unternehmens auseinander; er verkündigte das göttliche Recht der Selbstverteidigung, er sprach von dem unbegreiflichen Blutpfad des armenischen Volkes seit Urzeiten und von dem beispielgebenden Wert dieses Wagnisses, das vielleicht die ganze Nation zum Widerstand emporreißen und damit retten werde. Dann schilderte er die Austreibung in allen ihren Einzelheiten, in solchen, die er selbst gesehen, und in solchen, die er durch Berichte kannte. Er stellte sie als das unwiderrufliche Ende für die Fünftausend des armenischen Tales hin und ließ mit derselben Bestimmtheit keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die große Tat, die sie alle hier vereine, zu Sieg und Freiheit führen werde. Wie dieser Sieg und diese Freiheit beschaffen sein würden, darüber freilich ließ er nichts verlauten. Es fragte auch niemand danach. Nicht die Vorstellung hinter den großen Worten, sondern ihr bloßer Klang genügte für die jungen Leute als Anfeuerung. Manchmal nahm Gabriel Bagradian dem Pastor die Mühe des Redens ab. Im Gegensatz zu Aram Tomasian vermied er die großen Worte eher und mahnte, keine Sekunde der Zeit leer verstreichen zu lassen, keinen Bissen des Proviants ohne Skrupel zu genießen und jeden Herzschlag dem Ziele zu unterwerfen. Sie sollten weniger des unentrinnbaren Unglücks eingedenk sein als der grauenhaften Schmach, mit der die türkische Regierung das Armeniervolk befleckte:

      »Wenn es uns ein einziges Mal gelingt, die Türken den Berg hinabzuwerfen, so haben wir nicht nur die Schmach gerächt, sondern haben sie entehrt und erniedrigt für immer. Denn wir sind die Schwachen, und sie sind die Starken. Denn uns verhöhnen sie als Händler und sich selbst überheben sie als Krieger. Wenn wir sie nur ein einziges Mal schlagen, vergiften wir ihren Hochmut, so daß sie sich davon nie wieder erholen werden.«

      Was Gabriel und Aram von der Sache auch in Wirklichkeit halten mochten, sie sprachen immer und immer wieder von dem glorreichen Ausgang des Widerstandes und hämmerten so in die bereitwilligen Seelen der Jugend fanatischen Glauben und, was nicht minder wichtig war, fanatische Zucht.

      So wenig Gabriel Bagradian etwas von seiner stählernen Körpernatur geahnt hatte, so wenig war er sich seiner Organisationsgabe bewußt gewesen. In der Welt seines bisherigen Lebens bedeutete »praktische Veranlagung« soviel wie plattes und habsüchtiges Denken. Mit erfolgreichem Ehrgeiz hatte er sich deshalb immer auf die Seite der Unpraktischen geschlagen. Nun aber gelang es ihm, dank seinen Vorarbeiten, schon in den ersten Stunden eine sinnreiche Einteilung des Heeres zu schaffen, feste Kader gleichsam, in die sich die Nachrückenden aus dem Tale dann leicht würden einfügen lassen. Er schuf drei Hauptgruppen: ein erstes Treffen, eine große Reserve und eine