dir was Gutes tun!
Diese Szene wiederholte sich allabendlich: immer wenn es dunkel und kalt in der Kammer wurde, holte die Meisterin ihre Hausgenossin in die warme Stube hinab, in der es so kräftig nach Mehl und nach frischem Brot roch. Dann saßen die Frauen bis zum Nachtmahl zusammen, wohl noch darüber hinaus, denn oft baten die Bäckersleute, es sei doch gerade so gemütlich, da könnte Frau von Steinberg doch ein Häppchen mitessen, es sei ihnen dies eine besondere Ehre. Anfangs hatte sich die Frau gegen diese stille, versteckte Wohltätigkeit gewehrt, hatte nichts, auch gar nichts annehmen wollen, aber jetzt war sie so müde und niedergeschlagen; die Einsamkeit lastete so schwer auf ihr, daß sie aufatmete, wenn die Meisterin Käsmodel mit ihrem Laternchen erschien.
Auch heute raffte Madeleine von Steinberg hastig ihre Näherei zusammen und folgte der freundlichen Hausgenossin die steilen Treppen hinab in das durch das Ofenfeuer und eine Unschlittkerze traulich erhellte Stübchen. Die Meisterin strickte und bewunderte dazwischen höchlichst die Fältchen, Tollen und Schleifen, die unter Frau von Steinbergs geschickten Händen entstanden. »'s ist wirklich zum Anbeißen adrett, was Sie da nähen, aber freilich, die Lust vergeht einem schon an solchen Dingen, eine gar so böse Zeit ist's.« Die Bäckermeisterin seufzte tief. »Wohin man hört, gibt's Kummer. Draußen auf den Landstraßen soll man seines Lebens nicht mehr sicher sein.«
Am Schiebefensterchen nach dem Hausflur hin bimmelte die Klingel, und ein von der Luft gerötetes Mädchengesicht erschien daran. Ein Brot wurde verlangt, die Meisterin reichte es hinaus und erkundigte sich dabei gleich, ob die Madame Preußer wieder wohlauf sei.
»Die Madame ist wieder beisammen,« erzählte die Magd, »aber der Herr, der Herr! Gestern hab' ich ihn sagen hören, an nichts hätt' er mehr Freude, seit die Franzosenbagasch« —
»Halt Sie das Maul,« fuhr die sonst so sanftmütige Meisterin Käsmodel die Magd heftig an, »so was hört mer nicht, und wenn mer's hört, sagt mersch nicht! Verstanden?«
Die Magd riß ihre großen wasserblauen Augen weit auf vor Schreck, und ganz kleinlaut versicherte sie: »Ich sag nischte mehr, nie nich.«
»Das ist auch am besten,« brummte die Bäckermeisterin und wandte sich einer neuen Kundin zu, einem schmächtigen, verhutzelten Weiblein, das ganz scheu in eine Ecke gedrückt im dunklen Flur stand und kaum an das Schiebefensterchen zu treten wagte. »Na, was gibt's, Schmidten, soll's ein Brot sein?«
Die Frau wartete erst, bis die stattliche Magd gegangen war, dann trat sie vor und flüsterte mit heiserer, ängstlicher Stimme: »Wenn Se mer's borgen täten, Frau Meistern, nich en Groschen hab' ich im Haus!«
Die Bäckerin seufzte, und ihr Blick überflog die auf den Ständern aufgereihten Brote. Wie manches ging davon weg ohne Bezahlung. Ihr Mann schalt oft, sie sei zu weichherzig, bringe sie alle noch an den Bettelstab, aber was sollte sie tun? Die Frau dort am Schiebefensterchen hatte fünf Kinder daheim. Wo ihr Mann geblieben war, wußte niemand; er war in die Fremde gezogen, um einen Verdienst zu finden, als die harten Zeiten anfingen, und dort war er verschollen, vielleicht gestorben.
»Da, Schmidten, Gott segne es ihr und den Kindern,« sagte die Meisterin und legte rasch eins der Brote in die verlangend ausgestreckte Hand der Frau. Dann schloß sie, da keine Kunden mehr draußen standen, geschwind das Schiebefensterchen und kehrte zu ihrem Gast zurück.
Die beiden Frauen waren nach Stand und Bildung sehr verschieden voneinander, denn als Madeleine von Steinberg noch in Dresden die glänzenden Feste der Hofgesellschaft mitgemacht hatte, war Frau Käsmodel eine flinke, fröhliche Magd im Pfarrhause an der Kirche von St. Thomä gewesen, aber trotzdem verstanden sie sich gut mitsammen. Frau von Steinberg kannte Not und Entbehrung aus Erfahrung. Die Bäckermeisterin hatte zwar noch nie um ihr tägliches Brot gebangt, aber sie sah, wie ringsum die Armut wuchs, wie die Zeiten schlechter und schlechter wurden. Sie hatte auch tiefes Mutterleid erfahren: zwei Kinder waren ihr gestorben, und so wußten sich die beiden Frauen mancherlei zu sagen. Der Meisterin Käsmodel konnte die zarte, langsam dahinsiechende Bewohnerin aus der Mansarde auch von ihrer Sorge um ihres einzigen Kindes Zukunft sprechen.
Während die Mütter mal wieder über ihre Kinder sprachen, — die Bäckersleute besaßen noch zwei dralle runde Mädels von drei und vier Jahren, — saßen die beiden Buben zusammen auf einem Bänkchen im Backofenwinkel und lernten, daß ihnen die Köpfe rauchten. Seit einem Jahre besuchte Gottlieb das Gymnasium. Meister Käsmodel wollte seinem Buben eine gute Bildung geben lassen, er pflegte zu sagen: »Du mußt ebenso gescheit werden wie drei!« Zu dieser großen Gescheitheit verspürte Gottlieb nun freilich keine allzu große Lust, und er wäre vielleicht etwas schwer über die Anfänge der lateinischen Sprache hinweggekommen, wenn Raoul nicht gewesen wäre. Frau von Steinberg, die selbst eine sehr gute Bildung genossen hatte, unterrichtete ihren Sohn selbst; es war ihr unmöglich, ihn auf eine höhere Schule zu schicken. Als der Sohn heranwuchs, sah sie freilich, daß es zu wenig war, was sie den glänzend begabten Knaben lehren konnte, allein Raoul war so lerneifrig, daß er selbst voll Eifer aus den wenigen Büchern, die er besaß, lernte, was er vermochte. »Ich wollte, du könntest statt meiner dies alberne Latein lernen!« murrte Gottlieb einmal, als er seufzend und stöhnend die ersten Gymnasiumstage hinter sich hatte.
»Ich will mit dir lernen,« sagte Raoul dienstwillig, »vielleicht wird es dir dann leichter!«
Gottlieb hatte das Anerbieten gern angenommen, und seitdem arbeiteten die Knaben zusammen und merkten bald, daß sie beide Vorteil davon hatten. Was der Bäckerssohn in der Schule gelernt hatte, teilte er dem Freunde mit. Dabei wurde ihm selbst manchmal erst klar, was er nicht verstanden hatte; er paßte auch besser auf, um sich seiner Dummheit nicht schämen zu müssen, und wußte er einmal gar nicht weiter, dann fand sicher Raoul aus den Büchern den richtigen Weg, und so umschifften beide gemeinsam manche Klippe der lateinischen Grammatik und der andern Lehrbücher. Raoul sagte oft sehr vergnügt zu seiner Mutter: »Es ist beinahe so gut, als ob ich selbst auf das Gymnasium ginge.«
An diesem Abend hatten sich die Buben beide in die Geheimnisse der römischen Geschichte vertieft. Gottlieb ein wenig unlustig, er sah nämlich nicht ein, warum ein zukünftiger ehrsamer Bäckermeister die römischen Könige, Volkstribunen und Kaiser mit Namen kennen mußte, und daß er einmal Vater Käsmodels Beruf ergreifen würde, stand bei ihm fest. »Du,« brummte er und stieß den Kameraden an, »die kaufen doch mal keine Brote und Wecken bei mir, warum soll ich sie nun alle kennen?«
Raoul sah mit seinen ernsten Augen nachdenklich auf den Freund und sagte träumerisch: »Ich wollte, ich wär' ein Römer!«
»Nee,« rief Gottlieb verdutzt, »das hab' ich mir noch nie gewünscht, aber weißte, Soldat möchte ich werden und dem Napoljong feste de Jacke verhauen; dazu brauch' ich doch aber nicht alle diese eklichen Namen zu wissen.«
Das stimmte nun freilich, und der sonst so lerneifrige Raoul ließ auch für ein Weilchen das Buch sinken, denn jetzt waren die Knaben wieder mal bei dem allerbeliebtesten Gespräch angelangt: Napoleon und seine Kriege. Im Hause Meister Käsmodels war man alleweg gut deutsch gesinnt. Das Kriechen und Katzbuckeln vor Frankreich, das Verherrlichen des gewissenlosen Eroberers, das auch in Leipzig leider in manchen guten Bürgersfamilien geübt wurde, war dem ehrlichen, aufrichtigen Bäckermeister in der Seele zuwider. Er war zwar ein schlichter, ungelehrter Mann, aber er hatte einen hellen, klaren Verstand, und voll Schmerz sah er, wie tief der deutsche Stolz, das deutsche Vaterlandsgefühl am Boden lag; nach den Reden mancher Bürger hätte man meinen müssen, Sachsen gehöre von Gottes und Rechts wegen zu Frankreich. In widerlich schmeichelnden Lobeshymnen sang man Bonapartes Lob, und man hatte ganz vergessen, daß es Deutsche waren, Stammesgenossen, die von Napoleon geknechtet wurden. Der Kaiserhaß, der Abscheu vor dem französischen Übermut hinderte dabei die Bäckersleute nicht, ihrer Hausgenossin, der Französin, in Treue hilfreich beizustehen. »Denn,« pflegte der Meister Käsmodel zu sagen, »der einzelne Mensch, der meine Hilfe braucht, ist alleweil mein Nächster, und wenn man über ein Volk auch gerade vor Wut bersten möchte, kommt uns einer davon in die Quere, so ist es eben Christenpflicht zu helfen, wenn man kann. Na, und so'n armes Weiberseelchen hat in der lieben Gotteswelt noch keinem ein Unrecht getan. Pfui Teufel, wäre das ruppig, der nicht beizustehen!«
In