sah er der Mutter in das liebe, sanfte Gesicht, da wurde es ihm auch wieder leicht ums Herz, und ganz heiter erzählte er von seinem ersten Vormittag als Schreiberlein. Ja, nun er nicht mehr in der Schreibstube saß, erschien ihm alles, was er gesehen und erlebt hatte, recht lustig und abwechslungsvoll zu sein, und er schwatzte so munter drauf los, daß ein Lächeln das Gesicht der Mutter verklärte.
Aber waren die Vormittagsstunden wie Schnecken dahingeschlichen, so raste die Freistunde vorbei wie ein wild gewordenes Pferd. Es hieß wieder scheiden, und Raoul nahm zärtlich Abschied. Er rannte zurück, und als er das graue Haus in der Burgstraße wieder betrat, war es ihm, als sinke eine schwere, schwere Last auf ihn herab.
Mit der Arbeit schien es am Nachmittag, solange der Advokat selbst nicht in seinem Zimmer war, gar nicht eilig zu sein. Karl Wagner schrieb zwar still und unverdrossen weiter, aber der lange Neumann hatte die Feder hinters Ohr gesteckt und redete laut von allerlei, und Raoul mußte ihm zuhören und antworten. Der Schreiber gehörte zu jenen, die in kriechender Schmeichelei Napoleon huldigten; er hatte sogar ein Gedicht angefangen, in dem er seinen Helden verherrlichte, zu seiner großen Betrübnis wollte ihm aber das Dichten nicht gelingen. »Kannst von Glück sagen, Bursche,« meinte er an diesem Nachmittag mit herablassendem Grinsen, »daß du einen französischen Vornamen hast. Ist doch was Feines! Aber ich, wenn ich auch nur einen elenden deutschen Namen führe, habe doch einmal den Kaiser gesehen, habe ihn gegrüßt und er hat mir gedankt! He, was sagt er zu der Ehre, Musjeh? Bewunderst ihn auch, gelt?«
»Ich? Nein,« schrie Raoul. Er war jung und unbesonnen und wollte gerade rasch und heiß seine Verachtung aussprechen, als ihn Karl Wagner ganz scharf anrief: »Reich mir dort den Aktenstoß her! Schnell, scheinst mir ein rechter Faulpelz zu sein!«
Erschrocken sprang Raoul auf, von dem sanften Genossen hatte er einen so groben Anruf nicht erwartet, und holte hastig das Gewünschte herbei. In diesem Augenblick ertönte nebenan eine Stimme, und der Advokat rief: »Neumann, die Akten Müller gegen Hohmann!«
Der Lange raffte geschwind ein Aktenbündel zusammen und entschwand im Nebenzimmer, Karl Wagner aber zog Raouls Kopf zu sich herab und flüsterte: »Halt deinen Mund, Junge, und hüte dich vor dem Neumann, sag' nichts gegen Napoleon!«
»Aber ich hasse ihn doch, er ist ein Tyrann, er —« Raouls Augen flammten; er war es nicht gewöhnt, seine Gedanken und Gefühle zu verschweigen. Daheim und bei Meister Käsmodel durfte man schon ein freies Wort sagen. Aber der Verwachsene legte ihm rasch die Hand auf den Mund: »Schweig, mein Kind, wir müssen stille sein und warten, bis die Zeit kommt. Und sie kommt,« fügte er hinzu; seine graublauen Augen leuchteten begeistert, das blasse kümmerliche Gesicht erstrahlte und schien dem Knaben auf einmal seltsam schön und anziehend zu sein. Er hätte gern noch mehr mit Karl Wagner gesprochen, aber der lauschte eine Sekunde nach dem Nebenzimmer hin und sagte dann leise: »Geh an deine Arbeit.«
Als kurze Zeit darauf der lange Neumann in das Zimmer trat, herrschte tiefe Stille. Die beiden schrieben eifrig, und Karl Wagner schien seine mißtrauischen Blicke nicht zu merken. Da der Advokat nebenan blieb und die Türe offen stand, konnte das Gespräch nicht fortgesetzt werden, denn Paul Neumann war immer dann fleißig, wenn es sein Herr sah, war der nicht daheim, rührte er keine Feder.
Wieder schlichen die Stunden langsam, träge dahin, und Raoul sehnte den Abend herbei. Dieser erste Arbeitstag war ihm bitterschwer geworden, aber dennoch trat er auch am Abend heiter bei der Mutter ein. Er schwatzte ein bißchen lauter und aufgeregter als sonst und ahnte nicht, daß die Mutteraugen tief in sein Herz hineinsahen und hinter aller erzwungenen Fröhlichkeit doch die Last sahen, die auf den jungen Schultern ihres Kindes ruhte.
Raoul dachte jetzt oft: Sind die Tage lang, und sind die Sonntage und Abende kurz! Wenn er bei der Mutter saß und die fiebrige Röte aus den eingefallenen Wangen kindlich für ein Zeichen wiederkehrender Gesundheit nahm, oder wenn er mit Gottlieb lernte und sie sich gegenseitig ihre Erlebnisse erzählten, dann war er glücklich und vergaß die düstere Schreibstube und seines langen Genossen Quälereien.
Paul Neumann hatte es, trotzdem Raoul schwieg, doch bald herausbekommen, daß der Bube kein Kaiserbewunderer war. Seitdem quälte und peinigte er ihn noch mehr, als er es sonst getan hätte. Der lange Schreiber war wohl unendlich demütig zu denen, die über ihm standen, aber er ließ gleich alle seine Roheit aus an denen, über die er Gewalt hatte, denen er befehlen durfte. Er war in der Schreibstube der Erste, und es half Karl Wagner nicht viel, wenn er Raoul in Schutz nahm; nur ganz heimlich durfte er dem Knaben helfen. Sah Paul Neumann das Einverständnis, dann rächte er sich und jagte Raoul hin und her, namentlich in der Mittagsstunde, und es kam oft genug vor, daß dem Knaben nicht einmal so viel Zeit blieb, zur Mutter zu laufen und sein Mittagbrot zu essen.
Endlich kam aber doch der Tag, an dem Raoul seine ersten zwei Taler nach Hause tragen konnte. Aber gerade an diesem Abend hielt ihn Neumann mit allerlei Aufträgen zurück, und Minute auf Minute verrann. Raoul zitterte vor Ungeduld heimzukommen, und er atmete erlöst auf, als der Advokat selbst kam und noch einmal seinen ersten Schreiber sprechen wollte. Da entwischte Raoul, obwohl er wußte, daß er es morgen doppelt schwer haben würde. Wie der Wind jagte er die steilen Treppen hinunter, die Burgstraße entlang, durch die Gäßchen über den Marktplatz. Er jagte so, die beiden Taler krampfhaft in der Hand, daß er den dicken Metzgermeister Mayer, der just zu einem Abendschöpplein gehen wollte, beinahe über den Haufen rannte. Bums! stieß er an dessen Bauch, es dröhnte ordentlich, und wütend holte der Meister zu einer gewaltigen Ohrfeige aus, aber hui, ging die in die Luft, denn Raoul war schon fort, die dunklen Laubengänge des Rathauses verbargen ihn den zornigen Blicken des Meisters. Atemlos kam er oben an. Die letzten Stufen der steilen Treppe hastete er so empor, daß er beinahe wieder hinuntergefallen wäre, und dann stand er vor seiner Mutter und hielt ihr stumm, glückstrahlend die beiden Taler hin.
Frau von Steinberg nahm sie wortlos, und wortlos umschlang sie ihr Kind, und Raoul fühlte, wie heiße Tropfen auf seine Stirne niederrannen. »Mama,« flehte er bang, »Mama, freue dich doch!«
»Ich freue mich, mein lieber, tapferer Junge du,« hauchte die Frau, kaum fähig, sich noch aufrecht zu halten. Ein Schwindel überfiel sie, und der Knabe mußte sie stützen und auf ihren Stuhl zurückleiten. »Bist du wieder krank?« forschte er angstvoll, »soll ich die Frau Meisterin heraufholen?«
»Nein, nein, ich bin gesund, ganz gesund, nur die Freude war es — allein die Freude,« murmelte die Mutter und strich liebkosend über ihres Kindes braunes Gelock. »Gott segne dich, mein Sohn, du mein Glück!«
Viel später dachte Raoul noch oft an diese Stunde zurück, an diesem Abend ließ die Freude, daß der erste Monat vorbei war, die ersten zwei Taler errungen waren, keine trüben Gedanken in ihm aufkommen. Er war sehr vergnügt, vergaß alle Quälereien des langen Schreibers und brachte mit seiner Heiterkeit zuletzt auch die Mutter zum Lachen. —
Weil es Frau von Steinberg jetzt so schwer fiel, die Treppen zu steigen, kam nach dem Abendbrot noch oft die Meisterin hinauf, mit einem Eimerchen glühender Holzkohlen beladen. »Weil es unten sonst unnütz verbrennt,« sagte sie jedesmal entschuldigend, damit die Hausgenossin nur ja nicht merken sollte, daß sie immer darnach trachtete, ihr eine warme Stube zu verschaffen. Auch Gottlieb folgte der Mutter an diesem Abend, und nach einem Weilchen tappte selbst Meister Käsmodel die Stiege herauf, und alle drei bewunderten ehrlich und herzlich den verdienten Reichtum.
»Aus dem wird allweil noch mal was,« sagte der Meister schmunzelnd zu Frau von Steinberg, »das ist gute Art.«
Dankbar sah die Mutter zu dem biederen Manne auf; die Freude über ihren Sohn, die feste Zuversicht, daß er eines tüchtigen Vaters Ebenbild werden würde, ließ sie an diesem Abend heiterer in die Zukunft sehen. Ein heller Glanz kam in ihre Augen, ihr Lachen mischte sich leise und froh in das der anderen, und die Meisterin sagte nachher zu ihrem Mann: »Vielleicht irrt der Doktor sich doch, und Frau von Steinberg wird gesund.«
Daß nach einem frohen Abend nicht immer ein heiterer Morgen folgt, merkte Raoul am andern Tag. Als er ging, schien ihm die Mutter wieder schwächer und matter als sonst zu sein, und als er das Schreibzimmer betrat, kam es ihm auch noch düsterer und dumpfiger vor als sonst, denn draußen braute ein dicker Nebel, und