Siebe Josephine

Die Oberheudorfer in der Stadt


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sah jeden Menschen, jedes Haus, jeden Baum und Strauch an, als müßte er sich die Abbilder davon fest, fest in sein Herz einprägen. Zum Träumen ließen ihm aber auch seine Freunde und Freundinnen keine Zeit; ein ganzer Trupp lief mit ihm, und mitunter tat sich da und dort ein Fenster auf, und jemand sagte brummend: »Nä, die Kinder sind heute aber auch zu toll, sie tun ja gerade, als wäre Jahrmarkt, so einen Lärm machen sie.«

      Traumfriedes Abschied.

      Die Kinder von Oberheudorf scherten sich kein bißchen um die ärgerlichen Zurufe und Verbote; sie meinten heute ein Recht zu haben, sehr laut zu sein. Es war doch keine Kleinigkeit, wenn auf einmal ein Dorfbube, dazu noch ein armer Waisenjunge, plötzlich in die Stadt ziehen sollte, um dort ein Gymnasiast zu werden. Schon das Wort klang so feierlich. Die meisten Kinder konnten es gar nicht richtig aussprechen, und Anton Friedlich hatte es flugs umgeändert und sagte: »Kimm na'm Ast.« Und merkwürdigerweise merkten sich diesen Namen alle Buben und Mädel ausgezeichnet. Also ein »Kimm na'm Ast« sollte Traumfriede werden und später ein Student, – und da sollen seine Kameraden nicht schreien und laut schwatzen am letzten Tag? Na, das wäre doch wirklich etwas viel verlangt gewesen! Es gab auch vor jedem Haus einen kleinen Aufstand. Während der Bube hineinging und Abschied nahm, redeten die Kinder laut von der Stadt, und ob Traumfriede drinnen im Bauernhaus wohl etwas geschenkt bekommen würde. Denn fürs Schenken – sie mußten aber die Beschenkten sein – waren die Oberheudorfer Kinder alle sehr eingenommen.

      Sie standen alle zusammen, die ungefähr in Friedes Alter waren. Schulzens Jakob, seine Schwester Röse, Annchen Amsee, Anton Friedlich, Schnipfelbauers Fritz und Krämers Trude. Natürlich fehlten weder der dicke noch der blaue Friede, die beiden mußten doch ihren Namensvetter begleiten. Und Heine Peterle war auch da, der erst recht. Mit einem so wütenden Gesicht ging der einher, als hätte er einen Krug voll Essig getrunken. »Nä, in die Stadt,« murrte er immerzu, »zu dumm, da ging ich nich rein!« Er versicherte dabei aber doch dem Traumfriede, er würde ihn besuchen, ganz gewiß.

      Heine Peterle dachte noch immer voll Entsetzen an den einzigen Tag zurück, den er einmal in der Stadt verlebt hatte. Zu dumm waren doch die Leute in der Stadt und gleich immer so grob! Nein, da war es doch in Oberheudorf viel, viel schöner, und ordentlich mitleidig schaute er den Traumfriede an, der gerade wieder aus einem Hause kam. Der Friede fühlte sich aber just gar nicht bemitleidenswert, sondern meinte, ihm gehe es recht gut auf der Welt. Überall bekam er freundliche Worte zu hören, wohl auch eine kleine Abschiedsgabe, und jeder sagte: »Aber gelt, wenn du heimkommst, siehst du bei mir ein, na, und vielleicht besuchen wir dich mal in der Stadt.«

      Ihn in der Stadt zu besuchen versprachen ihm auch alle seine Freunde und Freundinnen einmütig, Schulzens Jakob sagte sogar: »Kann sein, ich komme schon nächste Woche.«

      »Wenn's nämlich der Vater erlaubt,« fuhr seine Schwester Röse dazwischen, »der hat aber gesagt, mit der dummen Stadtfahrerei wär's nichts.«

      »Ha, meiner hat g'sagt, ich därf, wenn ich nur mal'n Einser bring',« schrie Anton Friedlich so stolz, als trüge er die Einser schockweis in der Hosentasche herum.

      »Dann wirst du wohl am Nimmermehrstag in die Stadt fahren,« kicherte Annchen Amsee, und die andern schrieen und lachten: »Du kommst aber fix hin!«

      Anton Friedlich war nämlich ein ausgemachter Faulpelz, und seine Einser hatten meist recht hübsche Querbalken und wurden Vierer genannt. Der Bube schrie aber doch ganz patzig: »Pah, werd' schon sehen, und vielleicht werd' ich auch noch mal'n Kimm na'm Ast.«

      So unter Geschwätz und Geschrei, Necken und Lachen hatte Traumfriede seine Abschiedsbesuche gemacht, und die Zeit, da die Bäuerinnen die Abendsuppe auftischten, war gekommen. Friede nahm am Dorfbrunnen Abschied von seinen Gefährten; ein wenig kurz und eilig ging es dabei zu, denn Friede war das Herz schwer, und er konnte nicht viel sagen. Die andern aber hatten sich alle vorgenommen, morgen vor Tau und Tag aufzustehen und dem Freund noch einmal Lebewohl zu sagen. Kaspar auf dem Berge, der Wirt zur himmelblauen Ente, wollte am nächsten Morgen um vier Uhr die Stadtfahrt antreten und Friede mitnehmen samt seinem recht bescheidenen Köfferlein.

      Als Traumfriede sich dem Häuslein der Muhme Lenelies, seiner Pflegemutter, näherte, sah er am Zaun dort Waldbauers Mariandel stehen. Das Mädel war vorangelaufen, um mit seinem guten Kameraden noch ein Weilchen zu schwatzen, und eifrig kam es ihm entgegen und erzählte, die Muhme habe Besuch, und mit dem Abendbrot sei es noch nicht so weit. Da liefen die Kinder den kleinen Nußberg hinauf, der über dem windschiefen Häuslein der Muhme anstieg, und oben setzten sie sich unter einen Haselbusch, der erst winzige, feine Blättchen hatte, und sprachen von Friedes künftigem Leben.

      »Und Pfingsten kommst du wieder in die Ferien heim,« sagte Mariandel, froh, daß Pfingsten so bald schon auf Ostern folgen sollte.

      Doch Friede schüttelte den Kopf: »Muhme Lenelies hat gesagt, so bald heimkommen gibt kein Geschick; vor den Sommerferien wird's nichts.«

      »Oh,« schrie Mariandel entsetzt, »meine Mutter meint, du würdest wohl oft auf Sonntag kommen.«

      »Die Muhme will's nicht, und der Herr Lehrer sagt auch, es wäre besser, ich lebte mich erst ordentlich in der Stadt ein, nur – – nur – – wenn ich's mal gar nicht aushalten könnte vor Heimweh, dann dürfte ich kommen, aber das tue ich nicht – – weil's doch feig wär.«

      Mariandel schwieg betrübt, und die Kinder saßen still beisammen. Da tat sich auf einmal unten die Türe auf, und Muhme Lenelies trat heraus mit ihrem Gast: der Schulze war es selbst. Er war gekommen, um mit der alten Frau noch allerlei über ihren Pflegesohn zu sprechen, und als er jetzt aus dem Hause ging, sagte er – und der Wind trug die Worte zu den Kindern auf dem Nußhügel empor –: »Nun vermahne Sie den Buben nur noch ordentlich scharf, Muhme, damit er unserm Dorf keine Schande macht in der Stadt und kein eingebildeter Zierbengel wird oder gar dumme Streiche macht. Eine tüchtige Predigt zum Abschied ist allemal gut, himmelangst muß es so'nem Bengel werden!«

      Friede wurde puterrot vor Entrüstung, und dem weichherzigen Mariandel kamen gleich die Tränen; es flüsterte: »Aber du bist doch brav und hast nichts getan!«

      »Sei still,« tuschelte Friede, denn Muhme Lenelies sprach unten, und in diesem Augenblick kam es dem Buben gar nicht in den Sinn, daß er eigentlich lauschte; es war ihm plötzlich so schwer und bang ums Herz geworden. Würde die Muhme auch denken, daß es nötig sei, ihn hart zu vermahnen?

      »Von so'ner Predigt halte ich nicht viel. Seht, so ein Kinderherz ist wie ein Garten im Frühling, man sät und pflanzt hinein und muß dann halt geduldig warten, ob alles blühen und reifen will. Man gießt immer achtsam, zieht ein Unkräutlein aus, aber viel hilft nicht immer viel, und wenn man den Garten überschwemmt, geht der Samen erst recht nicht auf. Alles mit Maßen, Schulze, und alles zu seiner Zeit. Ich habe an meinem Friede getan, was ich konnte, aber ihm heute den letzten Abend noch mit ellenlangen Ermahnungen verderben, das will ich lieber lassen; vergißt er mich und meine Worte, dann vergißt er auch die lange Predigt.«

      »Muhme Lenelies,« schrie Friede plötzlich oben unterm Nußstrauch und raste den Abhang hinab, »ich vergeß dich nicht, ich vergeß dich nie, und ich werde dir gewiß keine Schande machen.« Da hing er schon am Hals der alten Frau, und alles Abschiedsleid, das er bisher tapfer unterdrückt hatte, brach hervor; er weinte bitterlich und vergaß ganz, daß Buben immer meinen, ein paar Tränen zur rechten Stunde wären eine Schande.

      Über den Kopf des weinenden Jungen hinweg, den sie sacht streichelte, sah die Muhme mit ihren klugen, freundlichen Augen still den Schulzen an. Der nickte, schüttelte den Kopf und sagte endlich: »Weiß der Himmel, nä, Ihr seid doch ein ausnehmend kluges Weibsbild, Muhme. Hm, ja, na lebt wohl! Gib mir die Hand, Friede, und heule nicht, und das sage ich dir, wenn du mal vergißt, was du der Muhme verdankst, dann schlag' ich dir alle Knochen entzwei.«

      Damit ging der Schulze seinem Hause zu, und Friede hatte nun doch seine Abschiedspredigt erhalten. Sie kränkte ihn aber nicht und trübte nicht den stillen Frieden dieses letzten Abends.