Siebe Josephine

Die Oberheudorfer in der Stadt


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erzählte Muhme Lenelies selbst die Geschichte, wie Friede einmal durch den Schornstein in ihren Suppentopf gefallen war. »Da biste mir gleich ins Herz gefallen, mein Junge,« schloß die alte Frau ihre Erzählung. »So, und nun bring das Mariandel heim, und dann gehst du zu Bett; morgen um vier fährt Kaspar auf dem Berge schon los, da heißt es früh aufstehen.«

      Ich werde sicher nicht schlafen, dachte Friede, als er zu Bett ging. Dann schlief er aber doch wie ein Murmeltier und mußte sich erst besinnen, was eigentlich für ein Tag sei, als die Muhme ihn weckte. Er war sogar noch ein bißchen verschlafen, als er im grauen Morgendämmern – denn die Sonne war noch gar nicht aufgegangen – mit Muhme Lenelies vor der himmelblauen Ente anlangte. Dort schirrte gerade der Knecht die Pferde an, und eben trat auch der Wirt aus dem Haus und rief freundlich: »Na, da ist ja unser Städter! Nun man aufgesessen, eins, zwei, drei, und keinen langen Abschied.«

      Dafür war Muhme Lenelies auch nicht, sie umarmte noch einmal ihren Pflegesohn und sagte schlicht: »Zieh mit Gott,« und dann rollte der Wagen die Dorfstraße entlang. Die Muhme aber drehte sich um und kehrte rasch in ihr Häuschen zurück; es brauchte keiner zu sehen, wie bitterschwer ihr doch der Abschied wurde.

      Friede war es zumute, als träume er, als er so in der Frühmorgenstille durch das Dorf fuhr. Mal bellte ein Hund auf, da und dort krähte ein Hahn, und aus den Ställen klang das Gebrüll der Kühe, die gerade ihr erstes Frühstück bekamen. Hans Rumpf, der Nachtwächter, kam just verschlafen, noch ein paar Strohhalme am Rock, aus einer Scheune heraus; er war von dem Wagenrollen aufgewacht, worüber er eigentlich etwas ärgerlich war. Er hatte nun mal die Meinung, ein armer, geplagter Nachtwächter brauche vor allem einen ruhigen Nachtschlaf. Als Hans Rumpf aber sah, daß es Traumfriede war, der davonfuhr, rief er ihm freundlich zu: »Gute Reise, Musjeh Kimmnaschiaste, und halt dich brav in der Stadt, sonst kommt's gleich in der ganzen Welt rum, daß die Oberheudorfer nichts taugen.«

      »Na, er wird schon,« brummte Kaspar auf dem Berge. »Aber sag mal, Nachtwächter, wo sind denn die Kinder? Is doch zu kurios, daß auch nicht eine Bubennase zu sehen ist, nä, so was!«

      Hans Rumpf drehte sich eilig rundum, er sah rechts und links, sah in die Luft, auf die Erde, legte den Finger an die Nase und sagte endlich bedächtig: »Die haben's alle verschlafen!«

      Der Wirt lachte. »Dank schön für die Auskunft, die is mächtig klug. Hüh hott, wir woll'n bißchen rascher fahren!«

      Die Pferde trabten davon, und der Nachtwächter sah dem Wagen stolz nach. Ja freilich, er war mächtig klug; es ist schon was, herauszukriegen, daß es die Buben und Mädel verschlafen haben, wenn sie nicht zur rechten Zeit auf der Dorfstraße sind!

      Verschlafen hatten Friedes Freunde und Freundinnen das große Ereignis aber doch nicht, sondern sie waren alle putzmunter. Ganz leise und heimlich hatten sie sich wecken lassen, und ebenso leise und heimlich hatten sie sich aus den Häusern geschlichen, denn sie hatten sich miteinander eine Überraschung ausgedacht. Überraschungen fanden die Oberheudorfer Buben und Mädel immer sehr fein, wenn auch leider oft die Erwachsenen der Meinung waren, diese oder jene Überraschung wäre gar nicht so fein gewesen. Diesmal hatte Schulzes Jakob und der dicke Friede es gesagt, man müsse Traumfriede noch einen ganz besonders schönen Abschied bereiten. Natürlich waren alle Kinder einverstanden gewesen und waren sehr heimlich dabei zu Werke gegangen. Selbst Schuster Pechdraht, der doch sonst die Mäuslein pfeifen und das Gras wachsen hörte, hatte nichts gemerkt.

      Dem Traumfriede war es eigentlich ganz recht, als er niemand sah, von dem er noch einmal Abschied nehmen mußte. Ihm kam es doch recht schwer an, daß er nun die Heimat verlassen mußte. Den ganzen Winter hatte er fleißig gelernt beim Herrn Pfarrer und in der Schule und immer gedacht, es würde wunderschön sein, wenn er erst in der Stadt auf das Gymnasium gehen könnte. Nun auf einmal dachte er mit heimlicher Angst und Bangigkeit an die fremde Stadt, in der er außer dem Doktor, den er einst zu Muhme Lenelies geholt hatte, niemand kannte, niemand unter den vielen, vielen Menschen. Feldburg war zwar keine große Stadt. Wer in Berlin wohnte, sagte wohl: »Ach, so ein Nest!« dem Oberheudorfer Buben erschien diese kleine Stadt aber doch groß, fremd und ein wenig unheimlich.

      Schon war das letzte Haus von Oberheudorf erreicht, und Friede drehte sich gerade noch einmal um und schaute hinüber nach dem Häuschen der Pflegemutter, als ganz jäh aus dem Straßengraben lauter dunkle Gestalten aufsprangen. Von rechts und links tauchten sie auf, und plötzlich erhob sich ein wildes Geschrei. Kaspar auf dem Berge, der noch etwas verschlafen war, schrak auf seinem Bock zusammen und wußte gar nicht, ob er wachte oder träumte. Aber mehr noch als er erschraken seine beiden braunen Pferde; denen kam die ganze Sache höchst unheimlich vor, und da Ausreißen ihnen in solchen Fällen gut und nützlich erschien, rissen sie eben aus.

      Heidi ging es wie die wilde Jagd davon. Kaspar auf dem Wege schrie laut: »Halt, halt, halt!« und Friede umklammerte angstvoll seine kleine Reisetasche, die seine wenigen Habseligkeiten enthielt.

      Es ging bergab in wildem Galopp. Einmal schwankte der Wagen nach rechts, einmal nach links; ein Stein kam, hopp flog der Wagen hoch, nun kam ein Loch im Wege, und plumps fiel Friede mit der Nase vornüber. Die Sache wäre vielleicht schlimm ausgegangen, wenn der Weg statt bergab zur Abwechslung nicht einmal bergauf gelaufen wäre. Da wurde den Pferden das Ausreißen zu beschwerlich, und sie blieben einfach stehen und ruhten sich etwas aus.

      »Potzhundert noch mal, diese Rasselbande!« schalt Kaspar auf dem Berge wütend. Er kletterte vom Bock und brachte das verwirrte Geschirr in Ordnung; dabei sah er Friede ingrimmig an und schrie: »Mit der Rasselbande meine ich deine lieben Kameraden, Musjeh! Nä, sag mir mal, was haben die vor Tau und Tag im Straßengraben zu sitzen und so'n Geschrei zu machen?«

      »Ich weiß doch nicht,« stammelte Friede, der noch ganz verdattert war, »aber ich glaub' – – ich glaub', das sollte zum Abschied für mich sein.«

      »Wa–as?« Der Wirt sah den Buben groß an, dann brach er in ein dröhnendes Lachen aus. »Is gut, is sehr gut, nä wirklich, wenn's auf die Dummheiten ankommt, dann stehen unsere Mädel und Buben immer an erster Stelle. 'n bißchen geschwind ist das ja nun man mit dem Abschied gegangen, und ich gäb' was drum, wenn ich die dummen Gesichter sehen könnte, mit denen sie jetzt im Straßengraben sitzen. Na, nu hüh hott, jetzt woll'n wir mal 'n bißchen langsamer nach der Stadt fahren.«

      Die Oberheudorfer Buben und Mädel saßen inzwischen wirklich mit reichlich dummen Gesichtern im Straßengraben. Sie hatten sich die Geschichte aber doch so wunderschön ausgedacht! Mit Gesang hatten sie Traumfriede ein Stück begleiten wollen und hatten gemeint, der würde glückselig sein vor Überraschung, wenn sie alle aus dem Graben sprängen. Sie hatten sich dazu in zwei Hälften geteilt, in die rechten und in die linken Straßengräbler; vorher hatten sie es aber leider vergessen, sich das Lied zu sagen, das sie singen wollten. So fingen die von rechts mit: »Heil dir im Siegerkranz –« an und die von links mit: »Das Wandern ist des Müllers Lust.« Das stimmte nicht gut zusammen, und weil ein paar Buben, die nicht singen konnten, noch hurra dazwischen brüllten, klang der Gesang schon etwas wüst, und es war Kaspars Braunen nicht übel zu nehmen, daß sie lieber ausrissen, anstatt zuzuhören.

      »So'ne albernen Pferde,« brummte Heine Peterle wütend. Annchen Amsee und Waldbauers Mariandel heulten aber plötzlich laut los: »Friede fällt runter, und denn ist er tot, huhuhu!«

      »Huhuhu, huhuhu,« heulten ein paar andere Mädel mit. Die Buben schalten, das wäre Unsinn, aber ganz wohl war ihnen auch nicht zumute, und zuletzt zogen alle zusammen heulend und schreiend in das morgenstille Dorf hinein.

      Da gab es nun eine Aufregung! Jene, die an diesem Morgen noch schliefen, wurden unsanft geweckt, und der Ruf: »Kaspar auf dem Berge ist mit seinem Wagen verunglückt,« verbreitete sich rasch im Dorf. Die Besonnenen meinten freilich, es würde wohl nicht so schlimm sein, und der Wirt käme schon mit seinen Pferden zurecht, aber sie riefen doch, man müsse ihm jemand nachschicken. Der Schulze gab in aller Eile seinem Jakob einen Katzenkopf: »Dummer Junge, was stellt ihr aber auch immer an!«

      Der Schulze und der Schnipfelbauer ritten wirklich dem Wirt nach. Ein Viertelstündchen hinter dem Dorf aber trafen sie den Waldwärter Leberecht Sperling, der ihnen erzählte, Kaspar auf dem Berge sei ganz vergnügt an ihm vorbeigefahren.