Sie hatte die meiste Zeit des achtstündigen Flugs geschlafen und in den Momenten, in denen sie wach war, fast nicht gesprochen. Doch als sie den Landeflug begannen und Sara die zackigen Kuppen der Alpen und die ausgedehnte Stadt Zürich unter ihnen sehen konnte, schien ein wenig Leben in sie zurückzukehren. Sie trug ein Lächeln auf dem Gesicht und ihre Wangen hatten das erste Mal seit geraumer Zeit etwas Farbe. Reid hätte nicht glücklicher sein können.
Nachdem sie ausgestiegen und durch den Zoll gegangen waren, warteten sie neben dem Gepäckband auf ihre Koffer. Reid fühlte, wie Saras Hand seine nahm. Er war überrascht, doch versuchte, es nicht zu zeigen.
Können wir heute Skifahren?” fragte sie.
„Ja, natürlich”, sagte er ihr. „Wir können tun, was immer du willst, Liebling.”
Sie nickte ernst, als ob der Gedanke schwer auf ihr gelastet hätte. Ihre Finger drückten seine, als ihr Gepäck langsam auf sie zufuhr.
Von Zürich aus nahmen sie einen Zug Richtung Süden. Es dauerte weniger als zwei Stunden, um die Alpenstadt Engelberg zu erreichen.
Es gab nicht weniger als sechsundzwanzig Hotels und Skihütten auf dem nahegelegenen Berg Titlis, dem größten Gipfel der Urner Alpen, der mehr als neunhundert Meter über dem Meeresspiegel lag.
Natürlich teilte Reid all dies seinen Mädchen mit.
„...Und außerdem auch die Heimat der ersten Luftseilbahn der Welt”, erklärte er ihnen, als sie vom Bahnhof zu ihrer Skihütte liefen. „Oh, und das Kloster Engelberg stammt aus dem zwölften Jahrhundert. Es ist eines der ältesten schweizer Kloster, die noch existieren...”
„Wow”, unterbrach ihn Maya. „Ist es das?”
Reid hatte eine der rustikaleren Hütten für ihre Unterkunft gewählt. Sie war sicherlich ein bisschen veraltet, doch charmant und gemütlich, nicht so wie einige der größeren Hotels im amerikanischen Stil, die während der letzten Jahre gebaut wurden. Sie checkten ein und gingen in ihr Zimmer, das zwei Betten, einen Kamin mit zwei Sesseln davor und eine atemberaubende Sicht auf die Südseite des Titlis hatte.
„Hey, ähm, es gibt da noch was, das ich sagen möchte, bevor wir rausgehen”, sagte Reid, während sie auspackten und sich für die Skipisten bereitmachten. „Ich möchte nicht, dass ihr Zwei einfach alleine loszieht.”
„Papa...” Maya rollte mit den Augen.
„Es geht nicht darum”, fügte er schnell hinzu. „Diese Reise machen wir, damit wir Zeit zusammen verbringen und ein bisschen Spaß haben, und das bedeutet, dass wir zusammenbleiben. OK?”
Sara nickte.
„Ja, in Ordnung”, stimmte Maya zu.
„Gut. Dann ziehen wir uns um.” Es war keine Lüge, nicht wirklich. Er wollte, dass sie sich zusammen amüsierten, und er wollte nicht, dass sie alleine herumwanderten. Dabei ging es um Sicherheitsgründe, die nichts mit dem Vorfall zu tun hatten. Zumindest sagte er sich das selbst.
Er hatte immer noch keine Ahnung , wie er seine andere Aufgabe bewältigen würde, der versteckte Grund, aus dem sie in die Schweiz geflogen waren und in der Nähe von Zürich blieben. Doch er hatte Zeit, um den Teil zu organisieren.
Dreißig Minuten später waren die drei auf einem Skilift und fuhren eine der dutzenden von Pisten hoch, die Titlis durchkreuzten. Reid hatte eine Anfängerpiste gewählt, um zu beginnen. Keiner von ihnen war seit Jahren Ski gefahren, seit der Familienreise nach Vermont.
Schuldgefühle stachen in Reids Brust, wenn er an diesen Urlaub dachte. Kate war damals noch am Leben. Die Reise hatte sich perfekt angefühlt, als ob nichts Schlimmes jemals zwischen ihnen geschehen könnte. Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, den Urlaub erneut genießen, vielleicht sogar sein Ich der Vergangenheit davor warnen, was ihm bevorstünde - oder das Ergebnis verändern, damit es niemals geschehen wäre.
Er schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich weiter damit zu beschäftigen. Es war geschehen und jetzt musste er für seine Töchter da sein und sicherstellen, dass die Vergangenheit sich nicht wiederholte.
An der Spitze der einfachen Piste gab ihnen ein bärtiger Skilehrer ein paar Auffrischungstipps darüber, wie man langsamer fuhr, wie man stoppte und wie man lenkte. Die Mädchen nahmen sich Zeit, standen unsicher in ihren Skistiefeln, die an den Fersen eingeklickt waren.
Doch sobald Reid sich mit den Stöcken abschob und begann, über das Pulver zu rutschen, reagierte sein Körper, als hätte er es tausende Male getan. Die einzige Erinnerung, die er über das Skifahren hatte, war die Familienreise vor fünf Jahren, doch die Art, wie er einfach wusste, wie er sich zu bewegen hatte, ohne darüber nachzudenken, wie seine Beine und sein Körper sich subtil anpassten, um nach links und rechts zu schwingen, sagte ihm, dass er dies viel öfter als nur einmal getan hatte. Nachdem er die erste Piste bewältigt hatte, war er sich ziemlich sicher, dass er eine schwarze Diamant Piste problemlos bezwingen könnte.
Dennoch gab er sich Mühe, das zu verstecken und passte sich dem Rhythmus der Mädchen an. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren, Maya lachte bei jedem Wackeln und Beinahe-Sturz und Sara hörte gar nicht mehr auf zu Lächeln.
Bei ihrer dritten Fahrt die Anfängerpiste hinunter, fuhr Reid zwischen die beiden. Dann beugte er ein wenig seine Beine, lehnte sich nach vorn und steckte die Stöcke unter seine Arme. „Der Letzte hat verloren!” rief er, während er begann, schneller zu fahren.
„Ich krieg dich, alter Mann!” lachte Maya hinter ihm.
„Alter Mann? Wart’s ab... wer zuletzt lacht, lacht am besten...” Reid blickte gerade rechtzeitig über seine Schulter, um zu sehen, wie Saras linker Ski auf einen kleinen Absatz mit festgefahrenem Schnee stieß. Er schlüpfte unter ihr heraus und beide Arme schlugen um sich, als sie mit dem Gesicht zuerst in den Hang fiel.
„Sara!” Reid stoppte. Er löste die Stiefel augenblicklich aus der Halterung und rannte durch den Pulverschnee zu ihr. „Sara, alles in Ordnung?” Sie war gerade den Gips losgeworden, das Letzte, was sie bräuchte, wäre eine weitere Verletzung, um ihren Urlaub zu ruinieren.
Er kniete nieder und drehte sie um. Ihr Gesicht war rot und es standen ihr Tränen in den Augen - doch sie lachte.
„Alles in Ordnung?” fragte er noch einmal.
„Ja”, antwortete sie zwischen Kichern. „Mir geht’s gut.”
Er half ihr auf die Beine und sie wischte sich die Tränen von den Augen. Er war mehr als nur erleichtert, dass es ihr gutging - das Geräusch ihres Lachens klang wie Musik in seiner Seele.
„Bist du dir sicher, dass alles OK ist?” fragte er ein drittes Mal.
„Ja, Papa.” Sie seufzte glücklich und stellte sich auf die Ski. „Ich verspreche dir, mir geht’s gut. Nichts gebrochen. Übrigens...” Sie drückte sich mit beiden Stöcken ab und sauste den Abhang hinunter. „Wir machen immer noch ein Rennen, oder?”
In der Nähe lachte auch Maya und fuhr hinter ihrer Schwester her.
„Nicht fair!” rief Reid hinter ihnen, als er zurück zu seinen Skiern eilte.
Nachdem sie drei Stunden lang die Abhänge hinuntergefahren waren, kehrten sie zur Skihütte zurück und setzten sich auf ein Sofa des großen Gemeinschaftsraums, in dem ein Kamin brannte, der groß genug war, um ein Motorrad darin zu parken. Reid bestellte drei Becher heißer, schweizer Schokolade und sie nippten zufrieden vor dem Kaminfeuer an ihr.
„Morgen will ich eine blaue Piste ausprobieren”, kündigte Sara an.
„Bist du dir sicher, Mäuschen? Du hast gerade erst den Gips vom Arm”, neckte sie Maya.
„Vielleicht können wir uns am Nachmittag die Stadt anschauen”, bot Reid an. „Einen Ort fürs Abendessen finden?”
„Das