Eric Ambler
Die Angst reist mit
Roman
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Atlantik
Für Louise
Viele habe ich aus Angst toll werden sehen. Und es ist sicher, dass dieses Gefühl auch den Besonnensten seltsam verblendet und schrecklich verwirrt.
MICHEL DE MONTAIGNE
1
Der Dampfer Sestri Levante lag hoch aufragend am Pier. Stürmischer Wind vom Schwarzen Meer trug Schneeregen heran, der sogar auf das kleine Schutzdeck niederging. An der Achterluke waren die türkischen Schauerleute, mit Sackleinen über den Schultern, noch immer dabei, Fracht zu verladen.
Graham beobachtete, wie der Steward mit seinem Koffer durch eine Tür mit der Aufschrift Passeggeri verschwand, und wandte sich dann zur Seite, um zu sehen, ob die beiden Männer, die sich am Fuß der Gangway von ihm verabschiedet hatten, noch dort standen. Sie waren nicht mit an Bord gekommen, denn die Uniform, die einer der beiden trug, sollte keine Aufmerksamkeit auf Graham lenken. Jetzt gingen sie quer über die Gleise zu den Lagerhallen in Richtung Hafenausfahrt. Als sie den Schutz des ersten Schuppens erreicht hatten, drehten sie sich um. Graham hob den linken Arm, sie winkten zurück, eilten weiter und waren bald verschwunden.
Fröstelnd stand er da und starrte in den Dunst, der die Kuppeln und Minarette von Istanbul umfing. Durch das Rasseln und Rumpeln der Seilwinden rief der türkische Vorarbeiter in schlechtem Italienisch einem der Schiffsoffiziere etwas zu. Graham erinnerte sich wieder, dass man ihn gebeten hatte, bis zur Abfahrt des Schiffes in seiner Kabine zu bleiben. Er folgte dem Steward durch die Tür.
Der Mann wartete am Fuß einer kurzen Treppe auf ihn. Von den anderen neun Passagieren war nichts zu sehen.
»Cinque, signore?«
»Ja.«
»Da questa parte.«
Graham stieg hinter ihm hinunter.
Nummer fünf, eine Einzelkabine, ausgestattet mit einem Kleiderschrank und eingebautem Waschbecken, war so klein, dass er und sein Koffer gerade noch hineinpassten. Die Bullaugeneinfassung war mit Grünspan bedeckt, und es roch stark nach Farbe. Der Steward schob den Koffer unter das Bett und zwängte sich in den Flur hinaus.
»Favorisca darmi il suo biglietto ed il suo passaporto, signore. Li porterò al commissario.«
Graham reichte ihm Fahrkarte und Pass und bat ihn mit einer Handbewegung, das Bullauge zu öffnen.
»Subito, signore«, sagte der Steward und entfernte sich.
Graham setzte sich müde auf die Koje. Zum ersten Mal seit fast vierundzwanzig Stunden war er allein. Er nahm die bandagierte rechte Hand vorsichtig aus der Manteltasche und betrachtete den Verband. Sie pochte und schmerzte furchtbar. Wenn ein Streifschuss schon so wehtat, konnte er seinen Sternen danken, dass die Kugel ihn nicht richtig erwischt hatte.
Er sah sich in der Kabine um. Dass er dort saß, nahm er ebenso gleichmütig hin, wie er all die anderen Absurditäten hingenommen hatte, seit er in der Nacht zuvor in sein Hotel in Pera zurückgekehrt war. Irgendwie schien ihm nur, als hätte er etwas Wertvolles verloren. In Wahrheit hatte er nichts Wertvolleres verloren als einen Fetzen Haut und ein Stück Knorpel der rechten Hand. Er hatte erlebt, was Todesangst ist – mehr war nicht passiert.
Unter den Ehemännern der Freundinnen seiner Frau galt Graham als Glückspilz. Er hatte eine hochbezahlte Stellung bei einem großen Rüstungsbetrieb, ein schönes Haus im Grünen, das vom Büro nur eine Autostunde entfernt war, und eine allseits beliebte Frau. Nicht, dass er es nicht verdient hätte. Er war, auch wenn man es ihm nicht ansah, ein hervorragender Ingenieur, mit einer ziemlich wichtigen Arbeit sogar, wenn es stimmte, was man so hörte. Irgendetwas mit Kanonen. Er unternahm häufig Geschäftsreisen ins Ausland. Er war ein ruhiger, umgänglicher Mensch, der andere gern zu einem Whisky einlud. Die Vorstellung, man würde ihn näher kennenlernen, war natürlich abwegig (ob er schlechter Golf oder Bridge spielte, ließ sich schwer sagen), doch er war stets freundlich. Nicht überschwänglich, einfach freundlich, fast so wie ein teurer Zahnarzt, der einen abzulenken versucht. Eigentlich sah er auch wie ein teurer Zahnarzt aus: schlank und etwas vornübergebeugt, mit seinen gut geschnittenen Anzügen, seinem sympathischen Lächeln und dem schon leicht angegrauten Haar. Und obwohl kaum vorstellbar war, dass eine Frau wie Stephanie ihn auch ohne sein Geld geheiratet hätte, musste man zugeben, dass sie sich ausgezeichnet verstanden. Da sah man mal wieder …!
Graham selbst hielt sich ebenfalls für einen Glückspilz. Von seinem Vater, einem zuckerkranken Lehrer, hatte er als Siebzehnjähriger Gelassenheit, fünfhundert Pfund in bar aus einer Lebensversicherung sowie eine mathematische Begabung geerbt. Dank dieses Vermächtnisses hatte er klaglos einen unwilligen und mürrischen Vormund ertragen, den Studienplatz annehmen können, den eine Universität ihm angeboten hatte, und mit Mitte zwanzig sein naturwissenschaftliches Studium mit der Promotion abgeschlossen. Seine schriftliche Arbeit über ein ballistisches Problem war von einer Fachzeitschrift in gekürzter Form abgedruckt worden. Mit dreißig wurde er Chef der Entwicklungsabteilung in seiner Firma und war ganz überrascht, dass er für eine Tätigkeit, die ihm Spaß machte, so viel Geld bekam. Im selben Jahr heiratete er Stephanie.
Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, zu behaupten, sein Verhältnis zu Stephanie unterscheide sich von dem anderer Männer zu ihren Frauen, mit denen sie zehn Jahre verheiratet sind. Er hatte Stephanie geheiratet, weil er der möblierten Zimmer überdrüssig war und (zu Recht) vermutete, dass sie ihn heiraten wollte, um von ihrem Vater wegzukommen, einem griesgrämigen und wenig begüterten Arzt. Sie gefiel ihm wegen ihres guten Aussehens, ihres Humors und ihrer Fähigkeit, mit Hausangestellten umzugehen und Freundschaften zu schließen, und wenn er ihre Freunde manchmal langweilig fand, suchte er die Schuld dafür eher bei sich als bei ihnen. Stephanie ihrerseits akzeptierte klaglos, dass ihm sein Beruf wichtiger war als alles andere. Sie lebten in einer Atmosphäre von freundlicher Zuneigung und gegenseitiger Toleranz und fanden, dass ihre Ehe so gut war, wie man es vernünftigerweise erwarten konnte.
Der Kriegsausbruch im September 1939 hatte kaum Auswirkungen auf Grahams Privatleben. Da er die vorangegangenen zwei Jahre in der Gewissheit verbracht hatte, dass der Krieg so unausweichlich war wie der Sonnenuntergang, reagierte er weder überrascht noch bestürzt, als es schließlich so weit war. Er hatte ganz genau überlegt, welche Folgen ein Krieg auf sein Privatleben haben würde, und im Oktober zeigte sich, dass seine Überlegungen korrekt gewesen waren. Für ihn bedeutete der Krieg nur zusätzliche Arbeit, nicht mehr. Weder seine wirtschaftliche noch seine private Sicherheit war betroffen. Er würde keinesfalls eingezogen werden. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutsches Bombenflugzeug seine Fracht irgendwo in der Nähe seines Hauses oder seines Arbeitsplatzes abladen würde, war so gering, dass man sie schon ignorieren konnte. Als er knapp drei Wochen nach Unterzeichnung des anglo-türkischen Beistandspakts hörte, dass er geschäftlich in die Türkei fahren sollte, betrübte ihn nur die Aussicht, Weihnachten nicht zu Hause sein zu können.
Seine erste Dienstreise ins Ausland hatte er mit zweiunddreißig unternommen. Es war ein großer Erfolg gewesen. Seine Chefs stellten fest, dass er nicht nur fachlich begabt war, sondern auch das bei einem Spezialisten wie ihm ungewöhnliche Talent besaß, ausländische Regierungsbeamte für sich einzunehmen. In den anschließenden Jahren waren gelegentliche Auslandsreisen Bestandteil seiner beruflichen Tätigkeit geworden. Er reiste gern. Das Unterwegssein selbst gefiel ihm fast ebenso sehr wie das Kennenlernen fremder Länder. Er kam gern mit Menschen anderer Nationalität zusammen, lernte Brocken ihrer Sprache und war immer wieder erstaunt, wie wenig er im Grunde verstand. Das Wort »typisch« stieß bei ihm inzwischen auf kräftige Abneigung.
Mitte November traf er – via Paris – mit dem Zug in Istanbul ein und fuhr sogleich nach Izmir und Gallipoli weiter. Ende Dezember hatte er seine Arbeit an diesen beiden Orten abgeschlossen, sodass er am 1. Januar mit dem Zug zurück nach Istanbul fuhr, um von dort aus die Heimreise anzutreten.