Charles Dickens

Gesammelte Weihnachtsgeschichten


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zu Hause. Das Rentier erzählte Gretchens ganz Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese erschien ihm weit wichtiger, und Gretchen war von der Kälte so mitgenommen, dass sie nicht sprechen konnte.

      „Ach, ihr Armen“, sagte die Lappin, „da habt ihr noch weit zu laufen! Ihr müsst über hundert Meilen weit nach Finnmarken hinein, denn dort wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde ein paar Worte auf einen trocknen Klippfisch schreiben, Papier habe ich nicht, den werde ich euch für die Finnin dort oben mitgeben; die kann euch besser Bescheid erteilen als ich.“

      Und als Gretchen nun erwärmt worden war und zu essen und zu trinken erhalten hatte, schrieb die Lappin ein paar Worte auf einen trocknen Klippfisch, bat Gretchen wohl darauf zu achten, band sie wieder auf das Rentier fest, und dieses sprang davon. Die ganz Nacht brannten die schönsten blauen Nordlichter; – und dann kamen sie nach Finnland und klopften an den Schornstein der Finnin, denn sie hatte nicht einmal eine Tür.

      Da war eine Hitze drinnen, so dass die Finnin selbst fast ganz nackt ging; sie war klein und dabei ganz schmutzig. Sie löst gleich die Kleider des kleinen Gretchens auf, zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Rentier ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Klippfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, und dann wusste sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn der konnte ja gut gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.

      Nun erzählte das Rentier zuerst seine Geschichte, dann die des kleine Gretchens, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber gar nichts.

      „Du bist klug!“ sagte das Rentier. „Ich weiß, du kannst alle Winde der Welt in einen Zwirnfaden zusammenbinden; wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht es scharf, und löst er den dritten und vierten, dann stürmt es, dass die Wälder umfallen. Willst du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, dass sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?“

      „Zwölf-Männer-Kraft“, sagte die Finnin, „ja, das würde viel helfen!“ und dann ging sie nach einem Brette, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, dass ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.

      Aber das Rentier bat so sehr für das kleine Gretchen und Gretchen blickte die Finnin mit so bittenden Augen voller Tränen an, dass diese wieder mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Rentier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, währen es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam: „Der kleine Karl ist noch bei der Schneekönigin und findet dort Alles nach seinem Geschmack und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort der Welt. Das kommt aber davon, dass er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen zuerst heraus, sonst wird er nie ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!“

      „Aber kannst du nicht dem kleinen Gretchen etwas eingeben, so dass sie Gewalt über das Ganze erhält?“

      „Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt! Siehst du nicht wie groß diese ist? Siehst du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie auf bloßen Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann ihre Macht nicht von uns erhalten, diese sitzt in ihrem Herzen und besteht darin, dass sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Karl bringen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst du das kleine Mädchen tragen; setze sie beim großen Busche ab, welcher mit roten Beeren im Schnee steht, verliere aber nicht viele Worte und spute dich, hierher zurückzukommen!“ Damit hob die Finnin das kleine Gretchen auf das Rentier, welches lief, was es konnte.

      „O, ich bekam meine Schuhe nicht! Ich bekam meine Fausthandschuhe nicht!“ rief das kleine Gretchen, in der schneidenden Kälte, aber das Rentier wagte nicht anzuhalten, es lief, bis es zu dem Busche mit den roten Beeren gelangte. Da setzte es Gretchen ab, küsste sie auf den Mund, und es liefen große Tränen über des Tieres Backen, und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand das arme Gretchen, ohne Schuhe, ohne Handschuhe, mitten in dem fürchterlich eiskalten Finnmarken.

      Sie lief vorwärts, so schnell sie konnte; da kam ein ganzes Heer Schneeflocken, aber sie fielen nicht vom Himmel herunter, der war ganz klar und glänzte von Nordlichtern. Die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gretchen erinnerte sich noch, wie groß und künstlich sie damals ausgesehen hatten, als sie die Schneeflocken durch ein Brennglas betrachtet hatten, aber hier waren sie wahrlich noch viel größer und fürchterlicher, sie waren lebend, sie waren der Schneekönigin Vorboten. Sie hatten die sonderbarsten Gestalten; einige sahen aus wie hässliche große Stachelschweine, andere wie ganze Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten, und andere wie klein dicke Bären, auf welchen die Haare sich sträubten, alle glänzten weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.

      Da betete das kleine Gretchen ihr Vaterunser, und die Kälte war so groß, dass sie ihren eignen Atem sehen konnte, der stand ihr ganz wie Rauch aus dem Mund; der Atem wurde immer dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen klaren Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten, und alle Helme auf dem Kopf und Spieß und Schild in den Händen hatten. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gretchen ihr Vaterunser geendet hatte, war da ein ganzes Heer um sie; sie stachen mit ihren Spießen gegen die gräulichen Schneeflocken, so dass diese in hundert Stücke zersprangen, und das kleine Gretchen ging ganz sicher und froh vorwärts. Die Engel liebkosten ihre Hände und Füße, da fühlte sie weniger, wie kalt es war, und ging rasch gegen der Schneekönigin Schloss vor.

      Aber nun wollen wir erst sehen, wie es Karl geht. Er dachte freilich nicht an das kleine Gretchen, und am wenigsten, dass sie draußen vor dem Schloss stand.

      Von dem Schlosse der Schneekönigin, und was sich später darin zutrug

      Des Schlosses Wände waren gebildet von dem treibenden Schnee und Fenster und Türen von den schneidenden Winden; da waren über hundert Säle, alle, wie der Schnee sie zusammentrieb, der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang, alle beleuchtet von dem starken Nordlicht, und sie waren leer, eisig kalt und glänzend. Nie gab es hier Lustbarkeit, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm aufspielen und die Eisbären auf den Hinterfüßen gehen und dabei ihre Geberden hätten zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag, nie ein klein bisschen Kaffeeklatsch von den weißen Fuchsfräulein; leer, groß und kalt war es in den Sälen der Schneekönigin. Die Nordlichter flammten so genau, dass man sie zählen konnte, wenn sie am höchsten und wenn sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke gesprungen, aber jedes Stück war dem andern so gleich, dass es ein wahres Kunstwerk war. Mitten auf diesem saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, dass sie im Spiegel des Verstandes sitze, und dass dieser der einzige und beste in der Welt sei.

      Der kleine Karl war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer abgeküsst, und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er ging und schleppte einige scharfe flache Eisstücke, die er auf alle mögliche Weise an einander passte, gleich wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Karl ging auch und legte Figuren, die allerkünstlichsten; das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ganz ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit; das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß! Er legte ganze Figuren, die ein geschriebenes Wort waren, aber nie konnte er es herausbringen, das Wort zu legen, was er gerade haben wollte, das Wort „Ewigkeit“, und die Schneekönigin hatte gesagt: „Kannst du die Figur ausfindig machen, dann sollst du dein eigner Herr sein und ich schenke dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.“ Aber er konnte es nicht.

      „Nun sause ich fort nach den warmen Ländern!“ sagte die Schneekönigin. „Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen!“ – Das waren die feuerspeienden Berge Ätna und Vesuv, wie man sie nennt. „Ich werde sie ein wenig weiß machen,