Charles Dickens

Gesammelte Weihnachtsgeschichten


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Mädchen; und als er ihren Scheck gewahr wurde, riss er noch eine Rose ab und lief dann in sein Fenster hinein von dem kleinen lieblichen Gretchen fort. Wenn sie später mit dem Bilderbuche kam, dann sagte er, dass das für Säuglinge sei, und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem Aber; ja, konnte er dazu gelangen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach eben so wie sie; das machte er ganz treffend, und dann lachten die Leute über ihn. Bald konnte er allen Menschen in der ganzen Straße nachsprechen und nachgehen. Alles, was ihnen eigen und unschön war, das wusste Karl nachzumachen, und dann sagten die Leute: „Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!“ Aber das war das Glas, was ihm in das Auge gekommen, das Glas, welches ihm in dem Herzen saß; daher kam es, dass er selbst das kleine Gretchen neckte, die ihm von ganzem Herzen gut war.

      Seine Spiele wurden nun ganz anders als früher, sie wurden ganz verständig! An einem Wintertage, als es schneite, kam er mit einem großen Brennglase, hielt seinen blauen Rockzipfel hinaus und ließ die Schneeflocken darauf fallen.

      „Sieh nun in das Glas, Gretchen!“ sagte er, und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. „Siehst du, wie künstlich!“ sagte Karl. „Das ist weit hübscher als die wirklichen Blumen, und es ist kein einziger Fehler daran, sie sind ganz regelmäßig, wenn sie nur nicht schmelzen würden!“

      Bald darauf kam Karl mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken, und rief Gretchen in die Ohren: „Ich habe Erlaubnis erhalten, auf den großen Platz zu fahren, wo die andern Knaben spielen!“ und weg war er. Dort auf dem Platze banden oft die kecksten Knaben ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest und dann fuhren sie ein gutes Stück Weges mit. Das ging prächtig. Als sie im besten Spielen waren, da kam ein großer Schlitten, der war ganz weiß angestrichen, und darin saß Jemand in einen rauen weißen Pelz gehüllt und mit einer weißen rauen Mütze. Der Schlitten fuhr zweimal herum um den Platz, und Karl band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße; der, welcher fuhr, wendete das Haupt und nickte freundlich zu, es war gerade, als ob sie einander kannten. Jedes Mal, wenn Karl seinen kleinen Schlitten ablösen wollte, nickte die Person wieder, und dann blieb Karl sitzen. Sie fuhren endlich zum Stadttor hinaus, da begann der Schnee so stark hernieder zu fallen, dass der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte, aber er fuhr davon. Da ließ er schnell die Schnur fallen, um von dem großen Schlitten loszukommen, aber das half nichts, sein kleines Fahrzeug hing fest, und es ging mit Windeseile. Da rief er ganz laut, aber Niemand hörte ihn, der Schnee trieb und der Schlitten flog von dannen; mitunter gab es einen Sprung, es war, als führe er über Gräben und Hecken. Er war ganz erschrocken, er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des großen Einmaleins entsinnen.

      Die Schneeflocken wurden größer und größer, zuletzt sahen sie aus wie große weiße Hühner; auf einmal sprangen sie zur Seite, der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich. Pelz und Mütze waren ganz und gar von Schnee, es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß, es war die Schneekönigin. „Wir sind gut gefahren!“ sagte sie, „aber wer wird frieren! Krieche in meinen Bärenpelz!“ und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten, schlug den Pelz um ihn, und es war, als versinke er in einem Schneetreiben.

      „Friert dich noch?“ fragte sie, und dann küsste sie ihn auf die Stirn. O! das war kälter als Eis, das ging ihm gerade hinein bis in sein Herz, welches ja doch zur Hälfte ein Eisklumpen war. Es war, als sollte er sterben, aber nur einen Augenblick, dann tat es ihm gerade recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte ringumher.

      „Meinen Schlitten! Vergiss nicht meinen Schlitten!“ daran dachte er zuerst, und der wurde an eines der weißen Hühner festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küsste Karl nochmals, und da hatte er das kleine Gretchen, die Großmutter und Alle daheim vergessen. „Nun bekommst du keine Küsse mehr“, sagte sie, „denn sonst küsse ich dich tot!“

      Karl sah sie an, sie war sehr schön, ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken. Sie erschien ihm nun nicht von Eis, wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen, er fühlte gar keine Furcht; er erzählte ihr, dass er im Kopfe rechnen könnte, und zwar mit Brüchen, er wisse die Größe des Landes und die Einwohnerzahl, und sie lächelte immer. Das kam ihm vor, als wäre es noch nicht genug, was er wisse, und er blickte hinauf in den großen Luftraum und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf in die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste, es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee funkelte, über demselben flogen die schwarzen schreienden Krähen dahin, aber hoch oben schien der Mond groß und klar, und den betrachtete Karl die lange, lange Winternacht; am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.

      Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte

      Aber wie erging es dem kleinen Gretchen, als Karl nicht zurückkehrte? Wo war er doch geblieben? – Niemand wusste es, Niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, dass sie ihn seinen Schlitten an einen prächtigen großen haben binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadttore gefahren sei. Niemand wusste, wo er war, viele Tränen flossen, das kleine Gretchen weinte viel und lange; dann sagten sie, er sei tot, er sei im Flusse versunken, der nahe bei der Stadt vorbei floss. O, das waren recht lange, finstere Wintertage.

      Nun kam der Frühling mit warmem Sonnenschein.

      „Karl ist tot!“ sagte das kleine Gretchen.

      „Das glaube ich nicht!“ sagte der Sonnenschein.

      „Er ist tot!“ sagte sie zu den Schwalben.

      „Das glauben wir nicht!“ erwiderten diese, und am Ende glaubte das kleine Gretchen es auch nicht.

      „Ich will meine neuen roten Schuhe anziehen“, sagte sie eines Morgens, „die, welche Karl nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und diesen nach ihm fragen!“

      Es war noch ganz früh, sie küsste die alte Großmutter, welche noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadttore nach dem Flusse.

      „Ist es wahr, dass du meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine roten Schuhe geben, wenn du mir ihn wiedergeben willst!“

      Und es war, als nickten die Wogen sonderbar; da warf sie ihre roten Schuhe, das, was sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluss hinaus, aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Es war, als wollte der Fluss das Liebste, was sie hatte, nicht nehmen, weil er den kleinen Karl ja nicht hatte. Gretchen aber glaubte nun, dass sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe, und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilfe lag, ging ganz an das äußerste Ende desselben und warf die Schuhe von da aus in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Lande ab; sie bemerkte es und beeilte sich fortzukommen, aber ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen.

      Da wurde das kleine Gretchen ganz erschrocken und fing an zu weinen; aber Niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen, aber sie flogen längs dem Ufer und sangen gleichsam, um sie zu trösten: „Hier sind wir, hier sind wir!“ Das Boot trieb mit dem Strome; das kleine Gretchen saß ganz still in den bloßen Strümpfen; ihre kleinen roten Schuhe trieben hinterher, aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt.

      Hübsch war es an beiden Ufern, schöne Blumen, alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen, aber nicht ein Mensch war zu erblicken.

      „Vielleicht trägt mich der Fluss zu dem kleinen Karl hin!“ dachte Gretchen und da wurde sie heiter, erhob sich und betrachtete viele Stunden die schönen grünen Ufer; dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, worin ein kleines Haus mit sonderbar roten und blauen Fenster war, übrigens hatte es ein Strohdach und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor den Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.

      Gretchen