Charles Dickens

Gesammelte Weihnachtsgeschichten


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so vornehm nicken, gerade wie die andern dort!“

      Er hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vögeln und den roten Wolken, die Morgens und Abends über ihn hinsegelten. War es nun Winter, und der Schnee lag ringsumher funkelnd weiß, so kam häufig ein Hase angesprungen und setzte gerade über den kleinen Baum weg. O, das war ärgerlich! Aber zwei Winter vergingen und im dritten war das Bäumchen so groß, dass der Hase um dasselbe herumlaufen musste. „O wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzige Schöne in dieser Welt!“ dachte der Baum.

      Im Herbst kamen immer Holzhauer und fällten einige der größten Bäume; das geschah jedes Jahr, und dem jungen Tannenbaum, der nun ganz gut gewachsen war, schauderte dabei; denn die großen, prächtigen Bäume fielen mit Knacken und Krachen zur Erde, die Zweige wurden abgehauen, die Bäume sahen ganz nackt, lang und schmal aus; sie waren fast nicht zu erkennen. Aber dann wurden sie auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie davon, aus dem Walde hinaus.

      Wohin sollten sie? Was stand ihnen bevor?

      Im Frühjahr, als die Schwalben und Störche kamen, fragte der Baum: „Wisst ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid ihr ihnen begegnet?“

      Die Schwalben wussten nichts, aber der Storch sah nachdenkend aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: „Ja, ich glaube wohl; mir begegneten viele neue Schiffe, als ich aus Ägypten flog; auf den Schiffen waren prächtige Mastbäume; ich darf annehmen, dass sie es waren, sie hatten Tannengeruch; ich kann vielmals grüßen, sie prangen, sie prangen!“

      O wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfahren zu können! Was ist das eigentlich, dieses Meer, und wie sieht es aus?“ „Ja, das ist weitläufig zu erklären!“ sagte der Storch und damit ging er.

      „Freue dich deiner Jugend!“ sagten die Sonnenstrahlen; „freue dich deines frischen Wachstums, des jungen Lebens, das in dir ist!“ Und der Wind küsste den Baum, und der Tau weinte Tränen über denselben, aber das verstand der Tannenbaum nicht.

      Wenn es gegen die Weihnachtszeit war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die nicht einmal so groß oder gleichen Alters mit diesem Tannenbaume waren, der weder Rast noch Ruhe hatte, sondern immer davon wollte; diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige, sie wurden auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie von dannen zum Walde hinaus.

      „Wohin sollen diese?“ fragte der Tannenbaum. „Sie sind nicht größer als ich, Einer ist sogar viel kleiner; weswegen behalten sie alle ihre Zweige? Wohin fahren sie?“

      „Das wissen wir! Das wissen Wir!“ zwitscherten die Sperlinge. „Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren! O, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die man sich denken kann! Wir haben in die Fenster gesehen und erblickt, dass sie mitten in der warmen Stube aufgepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und viele hundert Lichtern geschmückt werden.“

      „Und dann?“ fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. „Und dann? Was geschieht dann?“

      „Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich schön!“

      „Ob ich wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu betreten?“ jubelte der Tannenbaum. „Das ist noch besser, als über das Meer zu ziehen! Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und entfaltet wie die andern, die im vorigen Jahre davon geführt wurden! O, wäre ich erst auf dem Wagen, wäre ich doch in der warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, warum würden sie mich sonst so schmücken? Es muss noch etwas Größeres, Herrlicheres kommen! Aber was? O, ich leide, ich sehne mich, ich weiß selbst nicht, wie es mir ist!“

      „Freue dich unser!“ sagten die Luft und das Sonnenlicht; „freue dich deiner frischen Jugend im Freien!“

      Aber er freute sich durchaus nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün; dunkelgrün stand er da, die Leute, die ihn sahen, sagten: „Das ist ein schöner Baum!“ und zur Weihnachtszeit wurde er von allen zuerst gefällt. Die Axt hieb tief durch das Mark; der Baum viel mit einem Seufzer zu Boden, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgend ein Glück denken, er war betrübt, von der Heimat scheiden zu müssen, von dem Flecke, auf dem er emporgeschossen war; er wusste ja, dass er die lieben alten Kameraden, die kleinen Büsche und die Blumen ringsumher nie mehr sehen werde, ja vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise hatte durchaus nichts Behagliches.

      Der Baum kam erst wieder zu sich selbst, als er im Hofe, mit andern Bäumen abgeladen, einen Mann sagen hörte: „Dieser hier ist prächtig! Wir brauchen nur diesen!“

      Nun kamen zwei Diener im vollen Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen schönen Saal. Ringsumher an den Wänden hingen Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln; da waren Wiegestühle, seidene Sofas, große Tische voll von Bilderbüchern und Spielzeug für hundertmal hundert Taler; wenigstens sagten das die Kinder. Der Tannenbaum wurde in ein großes, mit Sand gefülltes Fass gestellt, aber Niemand konnte sehen, dass es ein Fass war, denn es wurde rundherum mit grünem Zeug behängt und stand auf einem großen bunten Teppich. O wie der Baum bebte! Was wird da doch vorgehen? Sowohl die Diener als die Fräulein schmückten ihn. An einem Zweig hängten sie kleine Netze, aus farbigem Papier ausgeschnitten, jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt; vergoldete Äpfel und Wallnüsse hingen herab, als wären sie fest gewachsen und über hundert rote, blaue und weiße kleine Lichter wurden in den Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaft wie die Menschen aussahen – der Baum hatte früher nie solche gesehen – schwebten im Grünen, und hoch oben in der Spitze wurde ein Stern von Flittergold befestigt. Das war prächtig, ganz außerordentlich prächtig! „Heute Abend“, sagten Alle, „heute Abend wird es strahlen!“ „O“, dachte der Baum „wäre es doch Abend! Würden nur die Lichter bald angezündet! Und was dann wohl geschieht? Ob da wohl Bäume aus dem Walde kommen, mich zu sehen? Ob die Sperlinge gegen die Fensterscheiben fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehen werde?

      Ja, er wusste gut Bescheid; aber er hatte ordentlich Borkenschmerzen vor lauter Sehnsucht, und Borkenschmerzen sind für einen Baum eben so schlimm wie Kopfschmerzen für uns Andere. Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum bebte in allen Zweigen dabei, so dass eins der Lichter das Grüne anbrannte; es sengte ordentlich.

      „Gott bewahre uns!“ schrieen die Fräulein und löschten es hastig aus.

      Nun durfte der Baum nicht einmal beben. O, das war ein Grauen! Ihm war bange, etwas von seinem Staate zu verlieren; er war ganz betäubt von all dem Glanze. Da gingen beide Flügeltüren auf, und eine Menge Kinder stürzten herein, als wollten sie den ganzen Baum umwerfen, die älteren Leute kamen bedächtig nach; die Kinder standen ganz stumm, aber nur einen Augeblick, dann jubelten sie wieder, dass es laut schallte, sie tanzten um den Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt. „Was machen sie?“ dachte der Baum. „Was soll geschehen?“ Die Lichter brannten gerade bis auf die Zweige herunter, und je nachdem sie niederbrannten, wurden sie ausgelöscht, und dann erhielten die Kinder die Erlaubnis, den Baum zu plündern. O, sie stürzten auf denselben ein, dass es in allen Zweigen knackte; wäre er nicht mit der Spitze und mit dem Goldsterne an der Decke festgemacht gewesen, so wäre er umgestürzt.

      Die Kinder tanzten mit ihrem prächtigen Spielzeug herum, Niemand sah nach dem Baume, ausgenommen das alte Kindermädchen, welches kam und zwischen die Zweige blickte; aber es geschah nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige oder ein Apfel vergessen sei. „Eine Geschichte, eine Geschichte!“ riefen die Kinder und zogen einen kleinen dicken Mann gegen den Baum hin, und er setzte sich gerade unter denselben, „denn so sind wir im Grünen“, sagte er, „und der Baum kann besonders Nutzen davon haben, zuzuhören! Aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt ihr die von Ivede – Avede oder die von Klumpe – Dumpe hören, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt?“

      „Ivede – Avede!“ schrieen Einige, „Klumpe – Dumpe!“ schrieen Andere. Das war ein Rufen und Schreien! Nur der Tannenbaum schwieg