»Wollte Gott, es wäre überhaupt nie entdeckt worden!«, rief sie aus. »Wahrhaftig, unsre jungen Mädchen haben keine Aussichten heutzutage. Es ist empörend!«
»Wenn man’s recht betrachtet, ist Amerika vielleicht gar nicht entdeckt worden«, sagte Herr Erskine in orakelhaftem Ton; »ich würde vorziehen zu sagen: man ist dahinter gekommen.«
»Aber ich habe Exemplare der Einwohnerinnen gesehen«, antwortete die Herzogin zerstreut. »Ich muss gestehen, die meisten von ihnen sind überaus hübsch. Und zudem ziehen sie sich gut an. Sie lassen alle ihre Kleider in Paris machen. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.«
»Man sagt, wenn gute Amerikaner sterben, gehen sie nach Paris«, kicherte Sir Thomas, der einen großen Schrank voll abgelegter Witze besaß.
»Wirklich? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?«, fragte die Herzogin.
»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry.
Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat ein Vorurteil gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe ganz Amerika bereist, in Salonwagen, die die Direktionen mir stellten. Man ist dort in diesen Dingen äußerst entgegenkommend. Ich versichere Sie, es ist ein Bildungselement, das Land kennen zu lernen.«
»Aber müssen wir wirklich nach Chicago reisen, um gebildet zu werden?«, fragte Herr Erskine in klagendem Ton. »Ich bin nicht aufgelegt zu der Reise.«
Sir Thomas schob seine Hand durch die Luft. »Herr Erskine hat die Welt in seinen Bücherschränken. Wir Männer der Praxis möchten die Dinge sehen, nicht über sie lesen. Die Amerikaner sind ein überaus interessantes Volk. Sie sind ganz und gar vernünftig. Ich glaube, das ist ihr Kennzeichen. Jawohl, Herr Erskine, ein ganz und völlig vernünftiges Volk. Ich versichere Sie, es gibt keinen Unsinn bei den Amerikanern.«
»Wie grässlich!«, rief Lord Henry. »Ich kann brutale Gewalt aushalten, aber brutale Vernunft ist ganz unerträglich. Es ist unbillig, sie anzuwenden. Es heißt, den Intellekt unterdrücken.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Sir Thomas und wurde etwas rot.
»Ich verstehe, Lord Henry«, sagte Herr Erskine lächelnd.
»Paradoxa sind in ihrer Art ganz gut …«, versetzte Sir Thomas.
»War das paradox?«, fragte Herr Erskine. »Ich hielt es nicht dafür. Vielleicht. Nun, der Weg zur Wahrheit führt über Paradoxien. Um die Wahrheit zu prüfen, muss man sie seiltanzen lassen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir über sie urteilen.«
»Mein Gott!«, sagte Lady Agatha, »wie diskutiert ihr Männer! Wahrhaftig, ich bringe nie heraus, wovon ihr sprecht. O Harry, ich bin ganz böse mit dir! Warum versuchst du, Herrn Gray zu überreden, nicht mehr ins East End zu gehn? Ich versichere dich, er wäre dort ganz unschätzbar. Die Leute wären entzückt über sein Spiel.«
»Ich habe den Wunsch, dass er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd und blickte ans Ende des Tisches, von wo er einen strahlenden Blick zur Antwort erhielt.
»Aber die Menschen in Whitechapel sind so unglücklich«, fuhr Lady Agatha fort.
»Ich kann mit allem Mitgefühl haben, nur nicht mit Leiden«, sagte Lord Henry und zuckte mit den Schultern. »Da kann ich nicht mitfühlen. Es ist zu hässlich, zu schauderhaft, zu quälend. Es liegt etwas schrecklich Krankhaftes in dem Mitgefühl unsrer Zeit mit dem Elend. Man sollte mit der Farbigkeit, der Schönheit, der Freude des Lebens mitfühlen. Je weniger über den Jammer des Lebens gesagt wird, um so besser.«
»Jedoch das Eastend ist eine sehr wichtige Frage«, bemerkte Sir Thomas und schüttelte ernsthaft den Kopf.
»Ganz richtig«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der Sklaverei, und wir machen den Versuch, es dadurch zu lösen, dass wir die Sklaven amüsieren.«
Der Politiker warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Welche Änderung schlagen Sie denn also vor?«, fragte er.
Lord Henry lachte. »Ich habe nicht den Wunsch, irgendetwas in England zu ändern, außer dem Wetter«, war seine Antwort. »Ich ergebe mich in philosophischer Beschaulichkeit und bin zufrieden damit. Indessen, da das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Mitgefühl Bankrott gemacht hat, möchte ich vorschlagen, wir wenden uns an die Wissenschaft, damit sie uns aufrichtet. Der Nutzen der Empfindungen ist, dass sie uns in die Irre führen, und der Nutzen der Wissenschaft ist, dass sie nicht empfindsam ist.«
»Aber wir haben eine so ernste Verantwortung«, wagte Frau Vandeleur schüchtern einzuwerfen.
»Furchtbar ernst«, stimmte Lady Agatha bei.
Lord Henry blickte zu Herrn Erskine hinüber.
»Die Menschheit nimmt sich selbst zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wenn der Höhlenmensch sich aufs Lachen verstanden hätte, wäre die Geschichte andre Wege gegangen.«
»Sie sind fürwahr sehr tröstlich«, zwitscherte die Herzogin. »Ich habe immer ein Schuldgefühl verspürt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich interessiere mich nicht im Mindesten für das East End. In Zukunft werde ich ihr ohne Erröten in die Augen sehen können.«
»Erröten steht den Damen sehr gut«, bemerkte Lord Henry.
»Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlimmes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wollte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!«
Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in jungen Tagen begangen haben, Frau Herzogin?«, fragte er und blickte sie über den Tisch hin an.
»Oh, an sehr viele, fürchte ich!« rief sie aus.
»Dann begehen Sie sie noch einmal«, sagte er ernsthaft. »Um seine Jugend wiederzuerlangen, braucht man bloß seine Torheiten zu wiederholen.«
»Eine reizende Theorie!«, rief sie. »Ich muss sie in die Praxis umsetzen.«
»Eine gefährliche Theorie!«, kam es zwischen den zusammengepressten Lippen Sir Thomas’ hervor. Lady Agatha schüttelte den Kopf, konnte aber nichts dagegen tun, dass das Gespräch sie amüsierte. Herr Erskine hörte zu.
»Ja«, fuhr Lord Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage sterben die meisten Menschen an einer Art schleichendem Menschenverstand und kommen, wenn es zu spät ist, dahinter, dass die einzigen Dinge, die einer nie bereut, seine Fehler sind.«
Ein Lachen erhob sich am Tisch.
Nun spielte er mit dem Gedanken, wie es ihm beliebte; warf ihn in die Luft und wandelte ihn um; ließ ihn verschwinden und fing ihn wieder auf; ließ ihn fantastisch funkeln und beflügelte ihn mit Paradoxien. Das Lob der Narrheit erhob sich, als er fortfuhr, zu einer Philosophie, und die Philosophie selbst wurde jung, und zum Klang der tollen Musik der Lust bekleidet, mochte es einen bedünken, mit ihrem eingefleckten Gewande und einem Efeukranz im Haar – tanzte sie wie eine Bacchantin über die Hänge des Lebens und neckte den trägen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flohen vor ihr wie erschreckte Tiere des Waldes. Ihre weißen Füße traten die mächtige Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurnen Blasen wogend an ihren nackten Beinen hochstieg oder in rotem Schaum über die schwarzen, tropfenden, bauchigen Seiten des Fasses herablief. Es war eine glänzende Improvisation. Er spürte, dass die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewusstsein, dass unter seinen Zuhörern einer war, dessen Naturell er bezaubern wollte, schien seinen Witz funkelnd zu machen und seiner Fantasie Farbe zu geben. Er war glänzend, fantasievoll, unwiderstehlich. Er entzückte seine Zuhörer aus sich selber, und lachend folgten sie seinen verführerischen Tönen. Dorian Gray wandte den Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Banne da; ein Lächeln nach dem andern glitt über sein Gesicht, und schweres Staunen stieg in seine umdunkelten Augen.
Endlich trat in der Livree des Jahrhunderts die Wirklichkeit ins Gemach, und zwar in Gestalt eines Bedienten, der der Herzogin meldete, dass ihr Wagen vorgefahren