im Theater zu Ohren gekommen war, ein gerauntes Hohnwort, das er eines Abends hörte, als er an der Tür zur Bühne wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken in ihm erweckt. Bei der Erinnerung daran war ihm, als ob er einen Peitschenschlag ins Gesicht bekommen hätte. Seine Brauen zogen sich zu einer keilförmigen Furche zusammen, und in krampfhafter Qual biss er sich auf die Lippen.
»Du hörst kein Wort von dem, was ich sage, Jim«, rief Sibyl, »und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag doch etwas!«
»Was möchtest du, das ich sage?«
»Oh, dass du immer brav sein willst und uns nicht vergessen wirst«, antwortete sie und lächelte ihn an.
Er zuckte die Achseln. »Es wäre eher möglich, dass du mich vergisst, als dass ich dich vergesse, Sibyl.«
Sie errötete. »Was meinst du damit, Jim?«, fragte sie.
»Ich höre, du hast einen neuen Freund. Wer ist es? Warum sprachst du mir nicht von ihm? Er meint es nicht gut mit dir.«
»Hör auf, Jim!«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.«
»Wie, und du weißt nicht einmal seinen Namen?«, antwortete der Bursche. »Wer ist es? Ich habe ein Recht, es zu wissen!«
»Er heißt Prinz Wunderhold. Gefällt dir der Name nicht? O du dummer Bube! Du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur einmal sähest, würdest du merken, dass er der wundervollste Mensch der Welt ist. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen, wenn du von Australien zurückkehrst. Er wird dir so sehr gefallen. Allen Menschen gefällt er, und ich … ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute Abend ins Theater kommen. Er wird da sein, und ich werde die Julia spielen! Oh, wie werde ich sie spielen! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! Und er hört zu! Zu seiner Wonne spielen! Ich fürchte, ich werde die Mitspieler erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Wenn man liebt, geht man über sich selbst hinaus. Der arme grässliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am Schenktisch zurufen: Ein Genie, ein Genie! Er hat mich wie ein Dogma verkündigt; heute Abend wird er mich als Offenbarung preisen. Ich fühle es. Und es gehört alles ihm, ihm allein, dem Prinzen Wunderhold, meinem herrlichen Geliebten, der mein Gott ist! Ich aber bin arm neben ihm. Arm? Was tut das? Wenn die Armut durch die Tür hereinschleicht, fliegt die Liebe durchs Fenster herein, und die Liebe schlägt die Not tot. Sonst hieß es wohl anders im Sprichwort: Not sei der Liebe Tod, meinten sie. Aber die Sprichwörter müssen umgearbeitet werden. Sie sind im Winter gemacht worden, und jetzt ist es Sommer; für mich wohl Frühling, ein rechter Blütentanz im blauen Himmel.«
»Er ist ein Herr aus der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster.
»Ein Prinz!«, rief sie, und es klang, als ob sie sänge; »was willst du mehr?«
»Er will dich zu seiner Sklavin machen.«
»Ich schaudere bei dem Gedanken, frei zu sein.«
»Ich rate dir, sei auf der Hut vor ihm!«
»Ihn sehen heißt ihn anbeten, ihn kennen heißt ihm vertrauen.«
»Sibyl, deine Liebe ist wahnsinnig!«
Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber alter Jim, du redest, als wärst du hundert Jahre alt. Eines Tages wird die Liebe auch über dich kommen. Dann weißt du, was sie ist. Blick nicht so mürrisch drein. Du solltest doch froh sein bei dem Gedanken, dass du, obwohl du fortgehst, mich glücklicher zurücklässt, als ich je war. Das Leben ist hart für uns gewesen, schrecklich hart und schwer. Aber es wird jetzt anders werden. Du gehst in eine neue Welt, und eine neue Welt ist zu mir gekommen. – Hier sind zwei Stühle frei, wir wollen uns hinsetzen und die geputzten Menschen an uns vorbeigehen lassen.«
Sie setzten sich unter viele andre Menschen, die dasaßen und ausschauten. Die Tulpenbeete am Wegrand flammten wie stürmisches Feuerläuten. Ein weißer Staub wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der lechzenden Luft. Die leuchtend farbigen Sonnenschirme tanzten und tauchten unter wie Riesenschmetterlinge.
Sie brachte ihren Bruder dazu, von sich selbst zu sprechen, von seinen Hoffnungen, seinen Aussichten. Er sprach langsam und gequält. Sie setzten ihre Worte beide langsam und vorsichtig, wie Spieler ihre Züge. Sibyl fühlte sich bedrückt; sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das diesen finstern Mund umspielte, war die ganze Erwiderung, die sie erlangen konnte. Nach einer Weile verstummte sie. Plötzlich gewahrte sie den Glanz goldenen Haares und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorüber.
Sie sprang auf. »Da ist er!«, rief sie.
»Wer?«, fragte Jim Vane.
»Prinz Wunderhold«, antwortete sie und blickte dem Wagen nach.
Er sprang auf und griff heftig nach ihrem Arm. »Zeig ihn mir! Welcher ist es? Deute nach ihm, ich muss ihn sehen!«, rief er; aber in diesem Augenblick kam das Viergespann des Herzogs von Berwick dazwischen, und als der Raum wieder frei war, war der Wagen nicht mehr im Park zu sehen.
»Er ist weg«, flüsterte Sibyl traurig. »Ich wollte, du hättest ihn gesehen.«
»Das wollte ich auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir je ein Leid zufügt, bringe ich ihn um!«
Sie sah ihn entsetzt an. Er wiederholte die Worte; sie schnitten durch die Luft wie ein Dolch. Die Leute in der Nähe fingen an aufmerksam zu werden. Eine Dame, die neben ihnen stand, kicherte.
»Komm fort, Jim, komm«, flüsterte sie. Er folgte ihr mit verbissener Miene, als sie durch die Menschenmenge ging. Er war froh, dass er das gesagt hatte.
Als sie die Achillesstatue erreicht hatten, wendete sie sich um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist närrisch, Jim, völlig närrisch; ein galliger Bursche, weiter nichts. Wie kannst du so schreckliche Sachen sagen! Du weißt nicht, was du zusammen redest. Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! Ich wollte, über dich käme die Liebe. Die Liebe macht die Menschen gut, und was du sagst, war böse.«
»Ich bin sechzehn Jahre alt«, antwortete er, »und ich weiß, was ich tue. An Mutter hast du keine Stütze. Sie versteht es nicht, dich zu behüten. Ich wollte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich habe große Lust, die ganze Sache aufzugeben. Ich täte es, wenn mein Kontrakt nicht unterzeichnet wäre.«
»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim! Du bist wie einer der Helden aus den albernen Melodramen, in denen Mutter so gerne spielte. Ich will nicht mit dir in Streit kommen. Ich habe ihn gesehn, und ihn zu sehen ist vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, du wirst dich nie an einem vergreifen, den ich liebe, nicht wahr?«
»Solange du ihn liebst, wohl nicht«, war die finstere Antwort.
»Ich liebe ihn immer!«, rief sie.
»Und er dich?«
»Immer, auch!«
»Er täte recht daran.«
Sie fuhr zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen Arm. Er war ja noch ein Knabe.
Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in der Euston Road brachte. Es war nach fünf Uhr, und Sibyl musste sich, bevor sie auftrat, ein paar Stunden hinlegen. Jim bestand darauf, dass sie es tat. Er sagte, er wolle sich lieber von ihr verabschieden, wenn die Mutter nicht dabei sei. Sie würde sicher eine Szene aufführen, und er verabscheue Szenen aller Art.
In Sibyls eigenem Zimmer verabschiedeten sie sich. Eifersucht war im Herzen des jungen Menschen und ein wilder, mörderischer Hass auf den Fremden, der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als aber ihre Arme sich um seinen Hals legten und ihre Finger durch sein Haar strichen, wurde er ruhiger und küsste sie mit echter Zärtlichkeit. Es standen Tränen in seinen Augen, als er die Treppe hinabging.
Seine Mutter wartete unten auf ihn. Sie murrte über seine Unpünktlichkeit, als er eintrat. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein kärgliches Essen. Die Fliegen schwirrten um den Tisch und krochen über das