Besonderes sein? Ich kann schlecht als weise Frau durchgehen – oder als Hexe, wenn du den Herrn Pfarrer hörst.“
Magdalena lässt einen gequälten Seufzer hören. „Nun, dann wird es höchste Zeit, dich in Kenntnis zu setzen. Komm mit mir und lass die Hochzeitsgesellschaft eine kleine Weile allein feiern. Sie werden unser Fehlen gar nicht wahrnehmen. Wir haben das gleiche Ziel und unterwegs kann ich dir alles erklären.“
Unentschlossenheit schleicht zaghaft in Ruprechts Gesicht, lässt ihn verwirrt auf seine Mutter sehen und fast schon mechanisch schließt er sich ihr an. Parallel zur Gasse führt ein gewundener Pfad durch die brachen Grundstücke und trifft neben Stanges Anwesen auf die Gasse „Uff der Bach“. Eiligen Schrittes wenden sie sich der langen Gasse zu und verlassen die Stadt schließlich durch das Nikolaitor. Als sie die Häuser jenseits des Flüsschens hinter sich gelassen haben und den Hang zum Katzberg hinauf erklimmen, beginnt Magdalena endlich, ihrem ältesten Sohn die versprochene Erklärung zu liefern.
„Ich will hoffen, dass uns hier niemand belauscht, während wir den Anstieg hinaufkraxeln. Du hast ganz richtig gesagt, wir Frauen unserer Familie gehören zu den weisen Frauen unseres Volkes seit uralten Zeiten. Wir haben die Aufgabe, unser Volk vor Unglück zu schützen, Kranke zu heilen und die uralten Kenntnisse unserer Vorfahren zu bewahren und zum Wohle unserer Leute anzuwenden. Nein, zaubern können wir nicht – falls du das fragen wolltest – und hexen auch nicht. Aber wir können Dinge wahrnehmen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Dazu gehört auch, dass wir das zweite Gesicht haben und unsere Gedanken über große Entfernungen ohne Worte weitergeben können. Allerdings können wir, genau wie jeder andere, nicht das Denken der Menschen beeinflussen, es bedarf unseres aktiven Tuns. Deshalb ist es ein deutliches Zeichen für dein besonderes Wesen, wenn du den Ruf Mechthilds vernommen hast. Seit jeher vertritt sie die Meinung, dass du der Hüter der Stadt wärst. Das ist der Nachfolger des Rudolf in direkter Linie, den die heilige Hildburga an ihre Seite gewählt hat, das Schicksal der Stadt vor Unbilden zu bewahren.“
Wenn es vielleicht nicht unbedingt die aufgerissenen Augen sind, dann doch der offene Mund, der Ruprechts ungläubiges Staunen zum Ausdruck bringt. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“, bringt er schließlich hervor. „Du hast uns immer angehalten, nicht dem Aberglauben zu verfallen und immer den wahren Kern zu suchen. Jetzt offenbarst du mir so ganz nebenbei, dass ich der Sagenwelt entsprungen sein soll!“
Magdalena setzt sich auf einen Baumstumpf und bedeutet ihrem Sohn, es ihr gleich zu tun und so sitzen sie kurz darauf inmitten der bunten Blüten der Wildblumen, gedeckt vom stachelbewehrten Gesträuch der Brombeere. Bedeutungsvoll reibt sie sich die Nase und sieht dabei nachdenklich auf Ruprechts zerzaustes Haar. „Es ist alles nicht so eindeutig, wie es scheint. Richtig ist, dass die gute Mutter Mechthilde seit deiner Geburt behauptet, dass du der Wiedergänger wärst, was eine andere Bezeichnung für den Hüter der Stadt ist. Weil diese Vermutung aber niemals durch andere bestätigt werden konnte, haben wir sie einfach ignoriert, so oft die Alte sie auch wiederholte. Nun hat sie uns aber ein deutliches Zeichen gegeben, dass sie recht hat, denn du hast ihren Ruf verstanden und folgst ihm. Ein einfacher Mensch wäre durch Mechthilds Ruf nie erreicht worden oder besser: er hätte ihn nicht verstanden. Dass du aber genau wusstest, wer dich gerufen hat und wohin, zeigt mir, dass du tatsächlich der Hüter bist und nun die erste große Aufgabe auf dich wartet. Stell dich also deiner Pflicht und tu, was dir aufgetragen wird.“
Entschlossen erhebt sie sich und zieht Ruprecht hinter sich her. Der aber staunt noch immer. Endlich brummt er vor sich hin: „Das ist schon merkwürdig. Zum Tischler tauge ich nicht mit meinen ungeschickten Händen. Dann werde ich durch Gottes Fügung zum Stadtschreiber und nun soll ich gar der Hüter der Stadt sein? Ist das nicht alles ein wenig dick aufgetragen? Ich meine, kann ich nicht einfach der sein, der ich immer war?“
Die Mutter blickt ihn über die Schulter an. „Du bist doch der, der du schon immer warst. Seit deiner Kindheit tust du Dinge, die anderen Knaben deines Alters nicht im Traum eingefallen wären. Du suchtest immer Buchstaben und Zahlen zu erkennen, jede Gelegenheit hast du zum Zählen und Rechnen wie auch zum Schreiben genutzt und dein Ungeschick als Tischler ist dem geschuldet, dass du in deinen Gedanken immer hinter die Dinge zu sehen trachtest. All dies hat die Mutter Mechthilde in ihrer Auffassung bestärkt.“
„Das mag alles sein“, weigert er sich, zuzustimmen, „aber deswegen muss ich lange nicht zu diesen Schauergestalten gehören, die durch die fantastischen Geschichten in der Spinnstube geistern. Nicht jeder, der so viel Gefallen am Lesen und Rechnen gefunden hat, muss deswegen gleich von einem uralten Volk sein, aus dem die Weisen hervorgegangen sind.“
„Nun ist aber gut“, weist ihn Magdalena zurecht, „sind wir vielleicht Schauergestalten? Wir sind solche Menschen wie die anderen auch, nur haben wir einen Sinn mehr. Wir können uns besser mitteilen und haben ein feineres Gespür für die Zeitläufe, wodurch wir unsere Visionen haben. Deswegen sind wir doch keine Gespenster!“
Endlich schmunzelt der Jungvermählte. „Stimmt, Gespenster seid ihr nicht, wobei ich allerdings hin und wieder diesbezüglich Zweifel bei meinen Schwestern habe. So viel Blödsinn wie die verzapfen, kann nicht aus einem gesunden Menschenhirn kommen.“
Schmerzhaft trifft ihn der Ellenbogen der Mutter an der Rippe. „Untersteh dich, so von deinen Schwestern zu reden! So schwierig sie manchmal sind, so liebenswert sind sie auch.“
„Aber sicher doch und ich werde mich hüten, sie jemals in Gefahr zu bringen“, beruhigt sie ihr Sohn. Dann eilen sie schweigend den schmalen Pfad hinauf zum Kamm der langgezogenen Höhe. Immerhin wollen sie nicht gar so lange, und vor allem unbemerkt, von der Feier fernbleiben.
Endlich erkennen sie die drei Ulmen inmitten der Lichtung auf der Höhe. Seit ewigen Zeiten sind sie markanter Punkt für spielende Kinder im Wald. Die sie umgebenden Buchen protzen mit ihrer silbernen, glatten Rinde, während die tiefen Furchen der braunen Ulmenstämme die Weisheit gleich der Stirn eines Greises widerspiegeln. Die gezackten Blätter wiegen sich sacht in ihren Zeilen an den Zweigen, während die Buchen nebenan die glattrandigen Blätter an den Zweigenden in ihren Büscheln leise tanzen lassen.
Unter den alten Bäumen haben einige Frauen inmitten eines Kreises aus Steinen Platz genommen und schauen den Ankömmlingen gespannt entgegen.
Als Ruprecht mit seiner Mutter die Wartenden erreicht, streckt ihm die alte Mechthild beide Hände entgegen. „Habe ich es nicht immer gesagt, dass er zu uns gehört? Du hast also meinen Ruf gehört?! Ein deutlicheres Zeichen kann es nicht geben, will ich meinen. Du bist ganz sicher der Rudolf und wirst uns helfen, die Stadt vor Unglück zu bewahren.“
Offensichtlich finden ihre Worte die Zustimmung der anderen Frauen und so schwappt ihm eine Woge der Sympathie entgegen.
„Nun übereilt nur nichts“, versucht Magdalena die Euphorie zu dämpfen, „noch wissen wir nicht, ob Mechthilde im Recht ist mit ihrer Vermutung und dann steht da noch die Frage, ob wir seiner Unterstützung heute tatsächlich bedürfen. Immerhin sollte er als eine Hauptperson des Festes seiner Braut zur Seite stehen.“
„Ach was“, kontert die Alte, „es ist keine Frage mehr, ob Ruprecht der Rudolf ist. Ich habe eine ganze Reihe von Untersuchungen angestellt und mein Ruf nach ihm war nur das letzte Glied einer langen Kette. Du kannst getrost davon ausgehen, dass in deinem Schoß der Hüter herangereift ist und sein ganzes Auftreten von Kindesbeinen an zeigt, dass er es tatsächlich ist. Nun soll er seine Aufgabe erfüllen.“
Entschlossen zieht sie den Jungen in den Kreis und Ruprecht ist keinesfalls geneigt, sich zu widersetzen. Es macht ihn neugierig, was man mit ihm vorhaben mag und interessant erscheint ihm die Gesellschaft der Frauen allemal.
Als diese ihr Ritual zur Eröffnung der Zusammenkunft abgehalten haben, erläutert Mechthilde ihre Vision während der Hochzeitsfeier und erfragt die Meinung der anderen.
„Es ist eindeutig der Hinweis auf einen bevorstehenden Krieg!“, bekräftigt die noch recht junge Martha aus Bernsdorf. „Allerdings haben wir bislang keinen anderen Hinweis auf einen Waffengang. Sollte sich da etwas am Horizont zusammenbrauen, wovon wir keine Ahnung haben?“
„Das scheint mir nicht so“, widerspricht Magdalena energisch, „wenn