Angie Volk

Krokodile


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wunderschöne Bäderarchitektur, die Türmchen und Balkone, die Balken und verschiedenfarbigen Giebel. Er flog am Office de Tourisme vorbei und wurde erst langsamer, als er durch die Fußgängerzone fuhr. Hier setzte er auch sein Blaulicht aufs Dach, um die flanierenden Touristen zu warnen, und klappte die Sonnenblende mit der Aufschrift »Police« herunter. Er parkte das Auto am zentralen Strandübergang, wo schon zwei Gendarmeriefahrzeuge mit blinkenden blauen Lichtern standen. Daneben parkte ein Citroën, offensichtlich ein ziviles Fahrzeug der Police Nationale. Vielleicht war es Anouks Wagen.

      Luc ging zur Mauer an der Promenade und sah zum ersten Mal den Strand wieder: den goldenen Sand, das Sonnenlicht, das sich in den kleinen Sandkörnern spiegelte, die ebene Fläche links und rechts, die bis zum Horizont reichte. Und dann das Meer. Die Wellen. In Richtung Norden saßen drei oder vier Surfer draußen im Line-Up und warteten auf ihre perfekte Welle. Sie ahnten nichts von dem Unheil an Land, hatten dort draußen nichts mitbekommen von den Polizeiwagen und der Leiche nur einen Kilometer weiter südlich.

      Luc stieg die Treppe hinunter und zog seine braunen Lederschuhe und seine Socken aus. Barfuß war er einfach schneller. Vorsichtig machte er die ersten Schritte im heißen Sand und ging dann rasch hinunter zum Wasser, wo er auf dem festeren Sand besser laufen konnte. Immer wieder trafen kleine Wasserzungen seine Füße. Luc lief schneller, doch es dauerte weitere fünf Minuten, bis er das Absperrband erreicht hatte. Es war eine abgelegene Stelle, weit entfernt vom Trubel. Auch die Häuser des Ortes hatten hier schon aufgehört. Hier auf dem Land hatte die kommunale Polizei die erste Absicherung eines Tatorts vorzunehmen. Luc fiel auf, dass die Gendarmen der Police Municipale, die am Flatterband standen und den Strand bewachten, kugelsichere Westen trugen. Dass seit den Terroranschlägen in Paris offensichtlich auch hier verstärkte Sicherheitsvorkehrungen herrschten, bedrückte den Commissaire. Nur ein einziger Polizist trug ausschließlich sein Uniformhemd. Er war dick und klein und lief behände hin und her. Luc erkannte ihn sofort.

      »Stopp, Monsieur, das hier ist ein Tatort. Sie dürfen nicht weiter.« Ein Beamter der Gendarmerie hielt seinen Arm vor das Flatterband, damit Luc es nicht hochnehmen konnte.

      Verlain lächelte und zeigte dem beflissenen Kollegen seinen Dienstausweis. »Commissaire Luc Verlain.«

      Der Gendarm schaute ihn erstaunt an. »Ist das was für die Pariser Mordkommission?«

      »Nein, keine Sorge. Ich habe mich versetzen lassen und bin noch nicht dazu gekommen, meinen Ausweis ändern zu lassen.«

      »Verzeihen Sie, Commissaire. Willkommen.«

      Der Mann in dem Uniformhemd kam Luc entgegen und rief seinen Namen.

      »Lou, Wahnsinn, wie lange ist das her?«

      Sie fielen sich in die Arme. Die Wiedersehensfreude war groß, auch wenn sie sich an einem Tatort befanden.

      »Zu lange, alter Junge. Hier herrscht schon fast die Prohibition, seitdem du weg bist. Wird Zeit, dass wir mal wieder was trinken gehen.« Luc musste grinsen. Sein Freund Lou sah nicht aus, als wäre er seit seinem Weggang von hier zum Kostverächter geworden. »Ich habe schon gehört, dass du zurückkommst. Der dienstbeflissenste Polizist Frankreichs wurde uns angekündigt. Richard und ich wollten eine Willkommensparty schmeißen.«

      »Eine gute Idee. Wir müssen unbedingt bald mal was trinken gehen, mein Lieber. Aber jetzt erzähl mal, was ist hier los?«

      »Warte noch kurz, da hinten kommen Etxeberria und sein Team. Mit dieser heißen Filipetti.« Lou lächelte.

      Verlain kannte ihn noch aus seinen Anfangszeiten bei der Police Nationale. Sie hatten sich sofort gut verstanden und waren die ganze Zeit über in Kontakt geblieben. Lou wollte damals nichts wissen von den höheren Weihen der Polizei und war ein einfacher Beamter geblieben. Inzwischen war er Chef der Police Municipale in Lacanau und Umgebung. Er verdiente gutes Geld, trug ein wenig Verantwortung und konnte jeden Abend pünktlich zum Essen zu Hause sein. Und seine Frau kochte sehr gut, das sah man ihm an. In Lacanau passierte nichts, ohne dass Lou davon wusste. Er war de facto der Bürgermeister der Gegend und kannte sämtlichen Klatsch und Tratsch. Luc wusste, wie sehr Lou diese Lebensweise schätzte, auch wenn er selbst sich zu Tode gelangweilt hätte, dauerhaft an diesen kleinen Ort gebunden.

      »Commissaire Verlain, Sie sind schon hier?« Etxeberria war erstaunt. Seine Stirn lag in Falten, eine heruntergebrannte Kippe klemmte im Mundwinkel. Sein neuer Kollege sah wirklich aus wie eine Karikatur des bösen Polizisten, erst recht hier am Tatort, dachte Luc.

      »Ich habe ihn angerufen«, sagte Anouk an Etxeberria gewandt und lächelte Luc zu. Es klang kein bisschen entschuldigend.

      »Danke, Anouk, dass Sie unseren Pariser Freund informiert haben.« Jetzt war aus den Falten ein Runzeln geworden, er war miesester Stimmung. »Lou, zeigen Sie uns den Fundort, bitte!« Etxeberrias Aufforderung klang wie ein Befehl.

      Sie folgten Lou zu den Männern in den weißen Anzügen, den Gerichtsmedizinern und Kollegen von der Spurensicherung. Die Sonne brannte erbarmungslos auf den Strand. Die Wellen schlugen heftig aufs Land. Der Lärm und das Getöse übertönten die Gespräche der Beamten.

      Lou schrie gegen die Wellen an. »Es ist ein Mädchen, 17 Jahre. Ihr Name ist Caroline Derval. Sie kommt aus Brach, Sie wissen schon, dieses Kaff hinter Lacanau. Sie hatte ihren Ausweis dabei. Keine Ahnung, was sie hier hinten am Strand wollte. Es gab ja ein Strandfest gestern Abend, aber das war vorne an der Promenade.«

      Luc hörte Lous Erklärungen zu, schaute seine Kollegen an und dachte darüber nach, wie diese Situation auf Außenstehende wirken musste: Da standen sie in ihrer Professionalität und sprachen über einen toten Menschen. Und dann erst fiel der Blick auf den Boden: Dort lag das blonde Mädchen, das Gesicht abgewandt, Blut war auf dem Hinterkopf geronnen. Sie hatte strohblonde, von der Sonne gebleichte Haare. Luc hätte gerne ihr Gesicht gesehen. Dieses große schlanke Mädchen musste eine Schönheit gewesen sein. 17 Jahre … Wie viele Mädchenleichen hatte er im Laufe seiner Karriere schon sehen müssen. In den Pariser Vororten war er an so manchem Tatort gewesen, an dem ihm die Grausamkeit und Banalität des Todes das Blut in den Adern gefrieren ließen. Die Opfer wurden immer jünger. Drogen, Prostitution, häusliche Gewalt. Oder alles zusammen. Und jedes Mal wieder war er aufs Neue geschockt, abgestoßen, voller Mitgefühl.

      In Situationen wie hier am Strand von Lacanau krampfte sich immer noch alles zusammen, und er war sich sicher: Wenn das eines Tages aufhören sollte, würde er den Job hinwerfen. Er wollte nicht so sehr abstumpfen, dass er nur noch das Opfer und nicht den Menschen, nur noch den Fall und nicht das tragische Schicksal sah. Auch wenn er versuchte, immer eine professionelle Distanz zu wahren, verfolgten ihn viele seiner Fälle bis in den Schlaf.

      Das Mädchen war mit einer schwarzen Lederjacke und einer Jeans bekleidet. Auch an der Jacke waren Spuren geronnenen Blutes zu sehen. Der Anblick war gespenstisch. Immer wieder beugte sich einer der Männer in den weißen Anzügen zu ihr herunter. Und dann drehte einer die Leiche um. In diesem Moment bekam sie ein Gesicht. Ein menschliches. Ein schönes. Sie hatte helle Haut, die Augen waren geöffnet und dunkel. Es lag ein sanfter Zug darauf, keine Wut, kein Entsetzen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so als wollte sie eben noch etwas sagen, vielleicht hatte sie auch schreien wollen. Sie war ohne Zweifel eine junge Frau gewesen, die die Blicke auf sich gezogen hatte, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.

      Etxeberria rief den Gerichtsmediziner heran. Verlain kannte ihn nicht. »Was wissen Sie schon?«

      Der Mann sah Etxeberria an, schaute auf die Leiche und trug die bisherigen Erkenntnisse vor: »Sie lag hier am hinteren Teil des Strandabschnitts. Erst vor anderthalb Stunden hat ein Spaziergänger sie entdeckt, sein Hund ist hier hoch bis fast zur Düne gerannt. Sie ist seit Mitternacht tot, ungefähr. Erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht einem Stein. Den Schädel muss ich mir in der Pathologie mal genauer anschauen.«

      »Ist sie vergewaltigt worden?«, wollte Etxeberria wissen.

      »Ziemlich sicher nicht am Fundort, sie war vollständig bekleidet. Aber ganz ausschließen kann ich es nicht. Ich rufe Sie später an, sobald ich Genaueres weiß.«

      Der Gerichtsmediziner nickte den Polizisten zu und ging in Richtung Absperrung.