Berend Wilbers

Leonhard Kindler - Eine Geschichte auf den Spuren des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte in der Gegenwart


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leichter, beschwingter, verschmolzen ihre rhythmischen Bewegungen mit dem Takt der Musik. Unzählige Male umkreisten sie den mahagonifarbenen Teetisch in der Mitte des Raums, einerseits getragen von schönen Erinnerungen, anderseits von der aufkeimenden Hoffnung auf glückliche Zeiten. Erst als nach einer Weile die Musik verstummte, hielten sie inne und sie lehnte für einige Sekunden ihren Kopf an seine Schulter.

      „Wunderbar“, flüsterte er.

      Und tatsächlich nahm ihn der Zauber dieses Begrüßungsrituals, das sie hin und wieder inszenierte, jedes Mal aufs Neue gefangen. Der reizenden alten Dame gelang es mühelos, vermutlich unterstützt durch das antike Ambiente des großzügigen Hauses, eine ihm fremde Welt zu öffnen, die eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Ihre vornehme Sprache, die Eleganz ihrer Bewegungen, ihre Mimik, geprägt durch ein gelegentliches Auf und Ab der Lider über den immer noch leuchtend blauen Augen, ihr ganzer Habitus faszinierten ihn derart, dass er sich anfangs über sich selbst gewundert und sich lange, letztlich aber erfolglos innerlich dagegen zu wehren versucht hatte. Inzwischen besuchte er sie häufig auch ohne besonderen Grund, ließ geschehen, was die Besuche bei ihr in ihm auslösten und erlaubte sich, ihre Nähe ohne inneren Widerstand zu genießen. Unbeschwert von störenden Gedanken hatten ihre Begegnungen seither eine Intensität, die sie die Zeit vergessen ließ. Sie konnten stundenlang zusammensitzen, erzählten, was sie bewegte oder versetzten sich mit einer Platte aus ihrer großen Sammlung musikalisch in die Zeit ihrer Jugend.

      Nach einem dieser langen Abende hatte sie sich beim Abschied überschwänglich bei ihm bedankt und nachdenklich angefügt, sie werde ihm die Zeit, die er mit ihr verbringe, kaum angemessen vergüten können. Zum ersten Mal traute er sich daraufhin, sie in den Arm zu nehmen, eine Gefühlsbekundung, die sie überraschend herzlich erwiderte, und versicherte ihr, er genieße jede Minute ihres Zusammenseins wie ein Geschenk des Himmels, unerwartet und erfüllend zugleich.

      „Einen Wunsch hege ich aber doch seit langem“, hatte er sich schließlich mit einem schelmischen Lächeln vorgewagt. „Sie haben mir erzählt, wie gerne Sie in jungen Jahren getanzt haben. Mir fehlte bisher der Mut, einen Tanzkurs zu belegen. Mit Ihnen als Lehrerin würde ich dieses kleine Abenteuer nur zu gerne in Angriff nehmen.“

      Sie ließ sich ohne zu zögern darauf ein und führte ihn in den folgenden Wochen und Monaten mit viel Geschick und wachsendem Vergnügen in die Welt der klassischen Tänze ein. Zu seiner eigenen Überraschung erwies sich Kindler als gelehriger Schüler, der schnell Fortschritte machte. Und als er längst alle Tänze sicher beherrschte, animierten die beglückenden Momente, die beide im Tanz erlebten, sie dazu, auch weiterhin einen großen Teil ihrer gemeinsamen Zeit im Gleichklang von Rhythmus und Bewegung zu verbringen. Die Abende endeten zumeist mit einem Glas Wein und langen Gesprächen. Bisweilen benahmen sie sich bei alldem wie ein frisch verliebtes Paar, ohne allerdings die Grenzen des Anstandes auch nur zu berühren. Ein Beobachter hätte sich zweifellos und angesichts des Altersunterschiedes sicherlich leicht irritiert gefragt, ob in Mimik und Gestik der beiden nicht mehr zu lesen war als bloße Sympathie. Die Blicke, die sie einander zuwarfen, die zarten, wie zufällig erscheinenden Berührungen, konnten leicht auch als Bestätigung dafür verstanden werden, dass Liebe nicht an den Grenzen der Altersgruppe haltmacht. Darauf angesprochen, hätte die spielerische Leichtigkeit, mit der sie solche Abende durchlebten, vermutlich gelitten.

      So aber blieb dieses kleine Geheimnis ein dauerhaftes, ungetrübtes Glück.

      *

      Als Kindler an diesem Morgen das Foyer des Bürogebäudes betrat, in dem er arbeitete, waren die Eindrücke der frühen Begegnung mit der vitalen alten Dame noch allgegenwärtig. Die kurze Wegstrecke von dem Haus in der Humboldtstraße reichte kaum aus, um reibungslos den Übergang aus der verträumten, analogen Welt der Frau Thiel in seinen digitalisierten Alltag zu schaffen. Auch der ästhetische Kontrast zwischen der künstlerisch verspielten Jugendstilvilla und der nüchternen Architektur des Verwaltungsgebäudes konnte größer nicht sein.

      In dem grell erleuchteten, schmucklosen Treppenhaus traf er zu seiner Überraschung auf Hubert-Karl Graf von Kranzwegen, der von allen nur „HvK“ genannt wurde. Diese banale Ableitung seines adligen Namens verdankte der Kollege der Angewohnheit, sämtliche Schriftsätze aus seiner Feder aus leicht nachvollziehbaren Gründen mit eben diesem Kürzel zu zeichnen. Er entstammte einer alten südhessischen Adelsfamilie, mit der ihn nach eigenem Bekunden nur noch wenig verband. Allgemein wurde vermutet, es habe in der Vergangenheit Streitereien gegeben, die zum Bruch und HvK in den Norden geführt hatten. Von ihm selbst war darüber nichts zu erfahren.

      Kindler hatte sich mit ihm in den ersten Jahren seiner Berufstätigkeit ein Büro geteilt. Der etwas knorrige, ältere Herr, etwa zwei Köpfe kleiner als er selbst, war dem jungen Berufsanfänger von Anfang an mit Sympathie begegnet und ihm eine echte Hilfe gewesen. Obwohl er sein Studium als einer der Besten des Jahrgangs mit fundierten Kenntnissen der komplexen Materie abgeschlossen hatte, zeigten ihm die Anforderungen der Praxis gelegentlich Grenzen auf. Wann immer er in den Anfangsjahren nicht mehr weiter wusste, konnte er sich der kollegialen Unterstützung des Grafen sicher sein. Ganz nebenbei entwickelte sich über den beruflichen Kontakt hinaus ein fast freundschaftliches Verhältnis. In Anbetracht der wirklich völlig unterschiedlichen Charaktere war das so von niemandem erwartet worden und alles andere als selbstverständlich. Natürlich ergibt sich fast zwangsläufig eine gewisse Nähe zwischen Personen, die den größten Teil des Tages zu zweit in einem Büro verbringen. Die Eigenheiten und Marotten des jeweils anderen hätten aber leicht auch das genaue Gegenteil bewirken können. Nach Einschätzung aller Kollegen war es vor allem dem immer freundlichen und gut aufgelegten Kindler zu verdanken, dass das gute Verhältnis der beiden schon nach kurzer Zeit als beispielhaft galt und für die These herhalten musste, dass ein kollegiales Miteinander sehr wohl gelingen kann, auch wenn im Vorfeld alles dagegen zu sprechen scheint. Vermutlich war es deshalb nicht nur eine Anspielung auf den Größenunterschied, der eine wohlmeinende Kollegin veranlasste, den beiden mit „Pat und Patachon“ einen Beinamen zu geben, der schnell im ganzen Haus verbreitet war.

      Nach zwei gemeinsamen Jahren hatte HvK eine neue Herausforderung gesucht und sich in den Außendienst versetzen lassen. Seither begegneten sie sich nur noch selten. Der Graf sorgte allerdings seit einigen Monaten im Kollegium für Gerede, weil er sich an exponierter Stelle in einer neuen Partei engagierte, die dem rechten politischen Spektrum zugerechnet wurde. Die massive Kritik, die von Kranzwegen dafür im Haus, aber auch in der lokalen Presse einstecken musste, war für Kindler nur schwer auszuhalten. Das schlimme Bild, das jetzt von dem geschätzten Kollegen gezeichnet wurde, wollte so gar nicht zu seinen eigenen Erfahrungen aus den Tagen der Bürogemeinschaft passen. Er hatte bisher vergeblich nach einer Gelegenheit gesucht, darüber mit ihm näher ins Gespräch zu kommen. Die Begegnung im Treppenhaus schien dafür wenig geeignet. So beließ er es bei einer kurzen Unterhaltung, in der die gewachsene Nähe unbelastet von kritischen Nachfragen spürbar blieb.

      Noch nachdenklich betrat Kindler sein Büro und nahm an seinem Schreibtisch Platz. Schon als auf dem großen Flachbildschirm die Eingänge seines Email-Kontos sichtbar wurden, zeigten die entspannten, fröhlichen Züge wieder das allen vertraute Gesicht eines jungen Mannes, der den Tag willkommen heißt.

      *

      Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür, trat ein und saß im nächsten Moment auf dem Besucherstuhl neben seinem Schreibtisch.

      „Hallo Leo! Na, schon wieder in bester Stimmung am Montagmorgen?“

      „Die Woche hätte kaum besser beginnen können“, erwiderte Kindler lächelnd, „ich hoffe, du hast nicht die Absicht, daran etwas zu ändern.“

      „Warum sollte ich? Schließlich bin ich hier, um mich von deiner guten Laune anstecken zu lassen.“

      „Als ob du das nötig hättest. Wenn ich mich nicht ganz täusche, hast du schon gestrahlt, als du durch die Tür gekommen bist.“

      „Woran das wohl liegen mag….“

      Ohne äußere Anzeichen genoss sie still die leichte Verlegenheit, die sich mit dieser Andeutung auf das Lächeln ihres Gesprächspartners legte. Ihr war überhaupt nicht daran gelegen, weitere Bestätigungen für die betörende Wirkung zu erhalten, die sie auf ihr männliches Umfeld