Helga Dreher

Das Torhaus


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machen. Sicherlich hatte der Ausschank am Busbahnhof meistens Stammkunden, die Busfahrer zum Beispiel, oder regelmäßige Fahrgäste. Da fiel ein Fremdkörper auf und wollte eingeordnet werden.

      „Vielen Dank“, sagte Alma, einem plötzlichen Wunsch nach Verbindlichkeit folgend, „und machen Sie dem Koch keinen Stress. Hier sitzt man sehr angenehm, mit einem schönen Blick übrigens auf die wunderbaren alten Bäume.“

      „Ja, da haben Sie recht, das ist eine der schönsten Straßen in Weimar – finde ich jedenfalls. Wenn bloß die Kastanien nicht von dieser Motte befallen wären. Jetzt haben wir Anfang Mai, da sieht alles schön grün aus. Aber ich seh schon wieder, wie Ende Juli die ersten Blätter braun und trocken werden. Ein Jammer ist das!“

      Mit anklagendem Kopfschütteln und festen Schrittes ging sie zurück zum Haus, drehte sich jedoch unvermittelt noch einmal um: „Das Klo ist übrigens hier im Haus, gleich um die Ecke – aber Automat, Sie brauchen fünfzig Cent.“

      Alma nickte und hatte nun Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Unwillkürlich suchte sie gleich wieder ihr Haus, dem sie auf der busbahnhöflichen Verkehrsinsel im Abstand von wenigen Metern gegenübersaß. Jetzt hatte sie die Rückfront im Blick. Sie sah eine niedrige Mauer mit einem aufgesetzten Holzzaun darüber und einer sehr dichten Hecke dahinter. Vom Haus war nur das kleine Obergeschoss mit einem halbrunden Fenster zu sehen. Alles andere war unsichtbar hinter der Hecke verborgen. Das Gebäude wirkte von hier aus nicht mehr so desolat und das Dach schien fast neu zu sein. Neben dem Zaun stand ein blaues Straßenschild. „Hoffmannvon-Fallersleben-Straße“, las sie.

      Sie drehte ihren Plastikstuhl ein wenig nach links und schaute die Straße namens Hoffmann von Fallersleben entlang, versuchte sich gleichzeitig an den Namenspaten zu erinnern: deutscher Dichter, hatte das „Deutschlandlied“ geschrieben, und zwar schon Mitte des 19. Jahrhunderts, also frei jeden Verdachts, etwas mit dem braunen Reich zu tun zu haben. Das „von Fallersleben“ bezeichnete, wenn sie sich recht erinnerte, weniger alten Adel als vielmehr seinen Geburtsort. Hatte er nicht auch Kinderlieder geschrieben? War „Alle Vögel sind schon da“ eines davon? Ein wenig schämte sie sich, es nicht genauer zu wissen, schließlich hatte sie im Zweitfach Germanistik studiert. Na ja, das war Jahre her und danach war sie fast nur noch mit dem Englischen befasst gewesen.

      Zu beiden Seiten der kurzen Straße standen gewaltige Laubbäume, die die Illusion einer schattigen Allee herstellten, von leichtem Wind und hellem Sonnenlicht mit lebendigen Lichtreflexen versehen. Rechts und links der Fahrbahn befanden sich breite gepflasterte Busspuren und Haltestellensäulen auf den Bürgersteigen. Linker Hand war ein verglastes Buswartehäuschen zu sehen.

      Ein ohrenbetäubendes Sirenengeräusch riss sie aus der eben noch als so stadtfern und fast beschaulich empfundenen Ruhe. Alma wandte den Kopf und schaute zurück zur Fahrstraße, die hinter einem breiten Bürgersteig und einem durchgehenden Geländer verlief. Dort tobte das pralle Verkehrsleben, momentan kurz gehindert von einem durchrasenden Krankenwagen mit Blaulicht.

      „So, Ihr Essen. Holger hofft, dass es Ihnen schmeckt. Guten Appetit!“

      Alma drehte sich erneut mit dem Plastiksessel und sah auf dem Tisch vor sich „ihr Essen“. Auf einem großen flachen Teller, der sie eher an ein Sternerestaurant erinnerte, lag eine Bulette neben einer Portion frisch aussehenden Feldsalats – Rapünzchen, wie Oma immer gesagt hatte. Mehrere Scheiben Weißbrot, ungetoastet, aber innen zart mit knusprig brauner Kruste darum lagen in einem Körbchen auf einer Stoffserviette. Es duftete verführerisch und sie musste gleich davon kosten. Sie suchte das Besteck und fand es, ebenfalls in einer Stoffserviette, neben ihrem Teller.

      Alma schaute ungläubig zum Schalter, aber niemand war zu sehen. Sie begann zu essen. Die auf den ersten Blick unauffällige Bulette erwies sich als kleine Köstlichkeit. Das Innere war von zarter Beschaffenheit und enthielt neben dem, was von einer Bulette erwartet werden konnte, Hackfleisch, Semmel, Ei und Kümmel, offensichtlich weitere Ingredienzien: Alma schmeckte Knoblauch, Kräuter und einen Hauch Schärfe, Tabasco vielleicht? Oder Senf? Dann sah sie winzige rote Pünktchen, die ohne Zweifel auf die Verwendung von frischer Chilischote hinwiesen – die Bulette war ein Ereignis. Das ebenfalls unverdächtig daherkommende Häufchen Feldsalat stand seiner Nachbarin auf dem Teller in nichts nach. Es war mit einem Dressing versehen, in dem sie winzige, knusprig gebratene Speckwürfel und sämig geriebene Kartoffel schmeckte. Obwohl inzwischen sehr hungrig, aß sie mit Bedacht und Genuss. Alma hatte im Lauf der Jahre eine ehrfurchtsvolle Liebe zu gutem Essen entwickelt, und hier fühlte sie sich einer verwandten Seele nahe. Aber wo war diese Seele? Steckte sie in Holger und in den Tiefen des Busbahnhofskiosks?

      „Bockwurst mit Semmel und ’nen großen Kaffee, Moni!“, erklang eine dröhnende Bassstimme hinter ihr. Alma schaute auf und sah einen weiteren Gast am Schalter stehen – ein Bär von einem Mann, Mitte dreißig, Schwergewicht. Er trug ein hellblaues Hemd, das über seinem enormen Bauch spannte, und einen perfekt gebundenen gestreiften Schlips unter einer dunkelblauen Windjacke, an deren Ärmel ein buntes Schild aufgenäht war. Das war zweifellos ein Busfahrer, Stammgast sicher, einer der hier rechtens sein zweites Frühstück oder auch schon sein Mittagessen bestellte.

      „Alles klar, Mirko! Kaffee kommt, Bockwurst braucht noch zwei Minuten.“

      Mirko war mit dem zeitlichen Ablauf am Schalter offenbar vertraut und nicht ungeduldig. Ein kurzes Nicken in Almas Richtung, danach wurde die randvolle Kaffeetasse zum Stehtisch balanciert, eine Zigarette angezündet und das Handy herausgeholt. Alma nickte zurück, aber Mirkos Aufmerksamkeit war bereits bei seinem telefonischen Gesprächspartner.

      „Hat es Ihnen geschmeckt?“ Alma wandte den Kopf und schaute zu einem jungen Mann in weißer Kochjacke, der hinter dem Schalter stand und sich ein wenig herauslehnte. Er schien breitschultrig, hatte dunkle lockige Haare, ein rundes Gesicht und ein offenes Lächeln.

      „Das war ein sehr luxuriöses Mahl. Ich habe lange nicht mehr so etwas Einfaches – hm, Bodenständiges, meine ich, Sie verstehen mich bitte nicht falsch – so toll zubereitet gegessen. Ehrlich, es war ein Genuss!“ Alma hörte sich sprechen und erkannte sich nicht wieder. Ein Gespräch am Imbissstand zu führen – undenkbar war das normalerweise für sie. Alma die Unnahbare, oder Alma die Verschlossene, das waren, wie sie wusste oder Grund hatte zu vermuten, Attribute, die man ihr gern nachsagte.

      Der Koch wurde tiefrot und sein Lächeln breiter. Inzwischen war seine Kollegin mit Mirkos Bockwurst nach draußen gekommen. Sie stellte den Teller vor den noch immer telefonierenden Busfahrer, lehnte sich dann neben den Schalter und sagte mit einem Stolz, der offensichtlich vor allem Holger galt: „Wir haben für Sie unser Spezi von heute serviert – Holger, wie nennt es sich doch gleich?“

      „Boulette Spéciale de Pays – vom Lande, wegen des Feldsalats. Aber das ist eher für mich und Moni hier, aus Spaß, wissen Sie.“

      Moni übernahm das Wort: „Also, das ist so. Ich und Holger haben vor einem halben Jahr den Kiosk übernommen. Holger hat richtig auf Koch gelernt und war nach der Lehre in mehreren teuren Hotels – sogar in der Schweiz! Ihm hat’s aber nicht gefallen, war ihm alles zu fein. Jetzt haben wir zwei den Imbiss, und Holger macht zum Essen eigentlich das Übliche – Bowu/Brötchen, Bowu/Majo, dasselbe mit Roster, dann Soljanka, belegte Brötchen, so was halt. Geht immer gut. Ja, also … und dazu macht er jeden Tag noch das Spezi, ein Spezialessen sozusagen, wo er sich kochlich austobt. Heute war’s Bulette mit Feldsalat, gourmetmäßig aufgerüscht.“

      „Unsere Normalos versorg’ ich mit dem Üblichen – die wollen das, was sie immer hatten, und keine Experimente“, unterbrach sie Holger und machte eine Kopfbewegung in Mirkos Richtung. „Aber ehrlich, wir sind hier in Weimar. Auf klassischem Boden, sozusagen. Da muss doch außer Bockwurst und Bratwurst noch mehr drin sein, da muss Goethen und Schillern irgendwie Ehre angetan werden, oder? Na, und da dachte ich, mach ich noch täglich ein Spezialgericht. Fast jeden Tag kommt jemand, der aussieht, als ob er – oder sie, Sie wissen, wie ich’s meine – offen ist für was Besonderes. Dann gibt’s Holgers Spezi. Sie waren heute mein Spezi-Gast. Das hat Moni gleich gesehen. Schief gehen konnte es natürlich noch, Sie hätten ja Vegetarier sein können. War aber nicht, oder?“

      „Zum Glück nicht“, antwortete Alma und stellte das Geschirr