Eugenie, verstand es, sie unglaubwürdig zu machen, sodass er mit vier Monaten auf Bewährung davonkam. Zu seiner Rechtfertigung erklärte er, Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie persönlich habe ihn beauftragt, »die Mädchen […] auf ihre sittliche Tauglichkeit für eine ihrer Kinderverschickungsaktionen« zu prüfen.[123]
»War SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie hoffnungslos naiv?«, fragt sich ihre englische Biographin Deborah HolmesHolmes, Deborah. »Oder hielt sie die Gefahren, die die aufgeladene Atmosphäre mit sich brachte, für Betriebsunfälle, für einen unvermeidlichen Bestandteil ›schöpferischer Bildung‹?«[124]
Nein, sie glaubte wohl zu sehr an Sigmund FreudFreud, Sigmund, der zwar 1896 vor dem »Verein für Psychiatrie und Neurologie« erklärt hatte, dass »Ausschreitungen von Wüstlingen« gegenüber Kindern zur »lebenslangen seelischen Verstümmelung« der Betroffenen führen würden,[125] spätestens 1905 – in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie – aber offiziell davon abgerückt war, indem er behauptete, Kinder hätten eine voll entwickelte sexuelle Libido und das Recht, diese befriedigt zu sehen. Kindliche Berichte über sexuellen Missbrauch seien in der Regel nur imaginiert oder Ausdruck von Wunschphantasien.[126] FreudFreud, Sigmund fand viel Widerspruch, etwa von William SternStern, William, einem Verwandten Walter Benjamins, der die »Anwendung der sogenannten ›Psychoanalyse‹« auf Kinder kategorisch ablehnte: »Diese Richtung will durch eine fessellose Deuterei in die unbewussten Tiefen der Kinderseele hineinleuchten, in denen sie nichts als ›infantile Sexualität‹ zu finden meint.«[127] Aber dennoch: FreudsFreud, Sigmund »Erkenntnisse« wurden von anderen hoch gepriesen, so auch von dem Kreis um Karl KrausKraus, Karl, der an die revolutionäre Kraft der Drei Abhandlungen glaubte und in ihnen den schlüssigen Beweis sah, »dass wir von den biologischen Vorgängen, in denen das Wesen der Sexualität besteht, (noch) lange nicht genug wissen«.[128] Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie hegte eine große Bewunderung für Karl KrausKraus, Karl. Wahrscheinlich glaubte sie, ihren Schützlingen Gutes zu tun, indem sie FreudsFreud, Sigmund Sexualtheorie in die Tat umsetzte.
Im Privathaus der Schwarzwalds fanden Führungen statt, an denen vermutlich auch Dora teilnahm. Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie selbst nannte ihr Heim gern ein »Häusel«. Aber es war ein Museum der Dekadenz und des Luxus. Stiche von RaffaelRaffael hingen an den Wänden, ein Blüthner-Flügel stand im Musikzimmer, die Loggia war mit japanischen Matten tapeziert, ein blauer Salon barg eine erlesene Bibliothek, englischer Chippendale traf sich mit italienischer Renaissance und Korbmöbeln der Wiener Sezessionisten. Das Seltsamste aber war ihr gelbseidenes Schlafzimmer, das nur durch einen Vorhang vom Salon getrennt war, sodass sie immer kontrollieren konnte, was dort vorging. Halbwüchsige Mädchen saßen zwischen großen Künstlern und aßen Brötchen mit braunem Aufstrich, denn bunte Sandwiches waren LoosLoos, Adolf, einem Feind jeder Ornamentik, zuwider.[129]
Dora muss in diesem Haus Schlimmes erlebt haben. Denn trotz der guten Noten, die sie ihr zu verdanken hatte, hasste sie »die SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie« von ganzem Herzen, womit sie übrigens nicht allein dastand. Für die einen war sie eine der besten Pädagoginnen der Neuzeit, für die anderen eine fette neureiche Galizierin, die skrupellos über die »Scherben gequälter Mädchenseelen« hinwegging.[130] Als SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie 1938 ins Exil gehen musste, weil ihre Schule »arisiert« worden war, zeigte Dora keine Spur von Mitleid, sondern schrieb an Benjamin:
Die Akten über Genia SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie sind nun geschlossen. Sie ist und bleibt ein infames Luder, wird niemand mehr nützen, aber hoffentlich auch niemand mehr schaden.[131]
Dieser Hass ist eigentlich nur durch sexuellen Missbrauch zu erklären, ob er nun von Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie selbst oder einem ihrer männlichen Gäste ausgeübt wurde. Dora war groß, blond und schön, ein Typus, den die SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie besonders liebte. Zur Erklärung des Phänomens »Antisemitismus« soll sie einmal gesagt haben:
Wenn ihr euch nebeneinander ein hochgewachsenes, blondes, blauäugiges Paar vorstellen könnt aus dem hohen Norden, Schweden vielleicht, und daneben ein kleines, verhutzeltes, jüdisches ostpolnisches Ehepaar und dazu beider Paare Bewegungen, Sprache und Gehaben, ist es da nicht vielleicht ein wenig zu verstehen, wem von der Welt […] bei weitem der Vorzug gegeben wird?[132]
Was immer Dora in dieser schwülen Atmosphäre erlebt haben mag, es muss schrecklich gewesen sein. Denn zu solcher Aggressivität hat sie sich sonst selten hinreißen lassen.
© Archiv Mona Benjamin, London
Dora Kellner um 1909. Fotografiert von Rudolf Jobst, Wien
2 Das Leben der Studenten (1909–1914)
Zwischen Chemie und Philosophie
Schon auf der Schule hatte Dora angekündigt, Chemie studieren zu wollen, als Einzige aus ihrer Klasse. Die Überraschung der Eltern muss groß gewesen sein. Sie war doch mit Musik und Literatur aufgewachsen? Und in den Gymnasialkursen bei Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie war Chemie gar nicht gelehrt worden, wenn man von dem Mischfach Naturgeschichte absieht, in dem ein Professor Noe die Sulfide, Oxyde und Haloidsalze behandelt hatte?[133]
Wahrscheinlich war es ein Versuch der Ablösung von ihrem VaterKellner, Leon. Denn so gebildet und redegewandt er auch war: Von Chemie und Naturwissenschaften überhaupt verstand er rein gar nichts. Und er war immer noch der Ansicht, dass die Rolle der jüdischen Frau vor allem darin bestehe, »jüdische Werte« innerhalb der Familie weiterzugeben und die »jüdische Nation« zu erhalten.[134]
Da der Andrang auf das Fach sehr groß war, mussten zwei, zeitweilig sogar drei chemische Institute betrieben werden, die allerdings in schlechtem Zustand waren. Im Oktober 1909 versammelten sich Professoren und Studenten zu einer Demonstration: Jeder Gewerbeinspektor würde einschreiten, wenn er in einer Fabrik so unhygienische Zustände vorfände wie in den chemischen Instituten. Es war ungewöhnlich, dass Professoren und Studenten sich öffentlich solidarisierten. Es war auch ungewöhnlich, dass immerhin vier Juden im Kollegium waren: Jacques PollakPollak, Jacques, Josef HerzigHerzig, Josef, Eduard LippmannLippmann, Eduard und Guido GoldschmiedtGoldschmiedt, Guido. Sie bekamen allerdings weniger Jahresgehalt als die »Christen«, wurden langsamer befördert[135] und mussten immer wieder erleben, dass die Presse hämische Bemerkungen über sie machte: »Muss es denn immer ein Jude sein?« schrieb etwa das