Christopher Ecker

Fahlmann


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sich jedoch gleich wieder im Griff und winkte mir zu. Mit eingezogenem Bauch quetschte ich mich an der lawinengleichen Erscheinung vorbei, grüßte tapfer in die Runde, setzte mich zu Susanne und schnorrte aus Verlegenheit eine Zigarette von einer der Plattnasen. Stille. Seit ich mich an den Tisch gesetzt hatte, redete keiner mehr. Susanne aß hastig ihren Tomatensalat, ohne den Blick vom Schälchen zu heben. Neben ihr saß ein junger Mann mit weißem Haar. Im Unterschied zu den übrigen Tischgenossen beobachtete er mich scharf, fast abschätzend. Das war wohl dieser Wolfgang, der immer bei uns anrief. Rief er an, klang Susannes Stimme anders als sonst. Sie lachte zu viel und zu laut, und kam sie danach zurück ins Wohnzimmer, machte sie ein Gesicht, als hätte sie etwas zu verbergen; aber weil es schon viele Gespräche über meine «krankhafte Eifersucht» gegeben hatte, riss ich mich zusammen, ließ den Albino weiterglotzen und schritt selbst dann nicht ein, als er meine Frau «Susi» nannte. Sein «Susi» klang nach Ehebruch. Ich drückte die Zigarette in einem Unterteller aus, setzte den Weißhaarigen an die Spitze der Schwarzen Liste und sagte kühl und beherrscht: «Schatz, wir müssen los!» Noch niemals zuvor hatte ich Susanne «Schatz» genannt.

      Sie bewegte sich im Schlaf, drehte sich auf die rechte Seite, die Decke rutschte von der Schulter, und die unterbrochene Linie der Wirbeldornfortsätze straffte die Haut zwischen den Schulterblättern: eine Reminiszenz an unsere Sterblichkeit in Knochensprache. Ich deckte ihren Rücken zu. «Du bist noch wach?», fragte sie halb im Schlaf. Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass sie mein Nicken nicht sehen konnte, und flüsterte: «Ja, aber ich mach jetzt das Licht aus.» Die Nachttischlampe erlosch, und während sich nordnordwest die beleibte Kontur des Lesesessels aus der Schwärze schälte, erinnerte sich das Schlafzimmer an die fürchterliche Heimfahrt. «Wenigstens bist du nicht mit diesem Ding vorgefahren», hatte Susanne gesagt, als sie sich auf den Beifahrersitz des Transits schwang. Ich verwandelte den Blinker in eine tickende Uhr, Rückspiegel, Seitenspiegel, ich fuhr an, beschleunigte, überholte einen LKW, schaltete in den zweiten Gang, fragte: «Was magst du an diesen Menschen?» – «Wie meinst du das?» – «Die nennen dich Susi.» – «Ja, und?» – «Was ist ein Susi?» – «Hahaha!», ärgerte sich Susanne, starrte aus dem Fenster. Ich musterte sie verstohlen von der Seite: Sie sah großartig aus. Tu es endlich! Jetzt mach schon, du Feigling! Und ich gab meiner Stimme diesen nachsichtig herablassenden Tonfall, den Susanne so hasste, und fragte: «Sag mal ehrlich! Würdest du auch gerne von mir Susi genannt werden?» – «Ach, halt die Klappe!»

      Ihr Umgangston war merklich rauer, seit sie mit diesen Menschen zusammenarbeitete. Wie gerne hätte ich sie nun gefragt, ob sie allein wegen Jens bei mir bliebe – aber was, wenn sie ja sagte? «Es sollte eine Überraschung sein.» – «Klasse.» – «Das mach ich jetzt täglich.» – «Klasse.» – «Ich bring Heinz mit und wir tragen dich im Sarg raus.» – «Toll», sagte Susanne und versuchte sich an einem Lächeln. Ich akzeptierte das Friedensangebot und schlug in gespielter Begeisterung vor, Jens von der Schule abzuholen. Der habe nämlich keine solchen Schwierigkeiten mit Leichenwagen wie sie, und diese unbedachte Äußerung, Zigarette, brachte das Fass, Glas Milch, beinahe wieder zum Überlaufen, Glas Milch und Zigarette … jetzt. Vier tastende Schritte West. Vier zaghafte Schritte Süd. Umrunden Sie das Bett, ohne sich die Schienbeine zu prellen, und nehmen Sie Kurs auf die Tür im Südosten des Schlafzimmers! Ich hob die Füße kaum vom Boden, Spitzbergen, Spitzbergen, wir fahren nach Spitzbergen, meine Hausschuhe bahnten sich, kleine Eisbrecher, den Weg durch Susannes Krempel, im Flur harrte ich lauschend aus, Jens hatte einen leichten Schlaf, und erst als es im Kinderzimmer weiterhin still blieb, ließ ich mich vom fahlen Rechteck der offenen Küchentür verschlucken. Silberfischchen auf der Flucht, der Kühlschrank öffnete sich, übergoss den gekachelten Fußboden und die gestreiften Beine meiner Pyjamahose mit käsigem Licht, dem Türfach entschwebte eine Packung Milch, dann saugte die zufallende Tür das Licht zurück ins grönländische Innere. Erstarren. Lauschen. Leiser sein! Ich nahm ein verhalten klirrendes Glas aus dem Schrank über der Spüle, wunderte mich, dass beim Öffnen der Schranktür nicht ebenfalls ein Licht anging wie im Kühlschrank, schenkte das Glas voll, lehnte mich an die Leibung des Küchenfensters.

      Dort rauchte ich eine milde Zigarette (die Senior Service spare ich für feierliche Momente auf), trank die Milch in kleinen Zügen, gut gegen Sodbrennen, unten ging die Klospülung. Mutter war noch wach. Oft hörten wir sie pinkeln: mit sattem, unverklemmtem Strahl. Susanne: «Das macht die extra!» Ich: «Quatsch. Das hat sie früher nie gemacht. Wahrscheinlich lässt sie die Klotür offen, seit sie allein lebt, und vergisst, dass sie dadurch den Wohnungsflur in einen Resonanzkörper verwandelt.» Das Rauschen erstarb in den Rohren, und das Knistern der Zigarette wurde zum einzigen Geräusch der Nacht. Gegenüber erfüllte bläuliches Flackern Onkel Jörgs Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Mutter hatte sich immer über «Onkel Jörgs Filme» aufgeregt. «Wir spielen nur Karten», rechtfertigte sich Vater. – «Von wegen!» Mutter lächelte anzüglich. «Ich weiß doch, was ihr treibt, wenn ihr drüben die Vorhänge zuzieht!» Es passte nicht zu Vater, dass er sich mit seinem Bruder Filme wie Das fröhliche Fotzentrio ansah. Der Titel ist keine Erfindung von mir. Ich hatte die Hülle dieses Films als Kind unter Onkel Jörgs Kommode entdeckt: Zwei splitternackte lächelnde Frauen zogen einer ebenfalls nackten Schwarzen, die sich spreizbeinig zwischen ihnen bückte und dem Betrachter zuvorkommenderweise das Hinterteil zukehrte, die Arschbacken auseinander.

      Kaum vorstellbar, dass mein verklemmter Vater sich so etwas ansah! Normalerweise machten ihn bereits Kussszenen verlegen: Er verließ das Wohnzimmer, wenn ich mit Mutter Drei Engel für Charlie ansah (hier wurde lange und ausgiebig geküsst) – und dann heimlich rüber zu Onkel Jörg, fröhliches Fotzentrio und hoch die Tassen! Unten klapperte Katzentür Nummer Eins. Kam Vater aus dem Bad, hatte er – im Gegensatz zu Mutter – ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Katzentür Nummer Zwei klapperte auf unserer Etage, und sofort schnurrte Om um meine Beine und rieb den Kopf mit berechnender Zärtlichkeit an den Waden, bis ich mich seiner erbarmte und einen Schluck der Milch in eine Untertasse gab. Kaum stand sie vor dem Kater, verlor er das Interesse daran und begann stattdessen seinen Schnurrbart zu putzen. Wegen dieses auffällig buschigen Barts hatte ich ihn Albert Schweitzer nennen wollen. Das schien mir passend. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, dass sich mit dieser Namenswahl die Wiese hinterm Haus in Lambaréné verwandeln würde, Regionshauptstadt in Gabun, 26.300 Einwohner, Moschee, modernes staatl. Krankenhaus, Flughafen. Aber Susanne hatte natürlich was dagegen gehabt, die blöde Kuh!

      Der Kater unterbrach das große Reinemachen, um mich hinter einem hochgereckten Hinterbein hervor argwöhnisch zu mustern. «Milch», erklärte ich geduldig auf die Untertasse zeigend. «Feine Milch. Das mögen Katzen.» Ich nahm einen tiefen Zug, löschte die Glut im Aschenbecher. Die Augen des Katers reflektierten das schwache Licht in der Küche. Dann senkte er den Blick, die Pupillen wurden groß und dunkel, und mit einem zum Fragezeichen gekrümmten Schwanz stolzierte er Richtung Kinderzimmer davon, wo er, wenn er nicht auswärts schlief, seine Nächte verbrachte. Er weckte Jens nie auf. Selbst morgens ließ er ihn weiterschlafen und machte vor unserer Schlafzimmertür solange Rabatz, bis der gute alte Onkel Dosenöffner, der auch sehr zäh sein konnte, endlich aufstand, um dem Pelzwecker eine stinkende Büchse Katzenfutter zu öffnen. Lassen Sie sich nicht von der Munterkeit des Stils täuschen. Erst später entdeckt man im Anfang den Plan. Sagen die, die es wissen müssen. Hoffen wir, sie sind ehrlicher, als ich es bin.

      Fahlmann stellte das Glas auf einen Stapel schmutzigen Geschirrs, leerte den Aschenbecher, nahm sich vor, morgen den Müll runterzubringen, Mittwoch, im Flur stand der Kater und starrte. Fahlmann, Mittwoch, starrte zurück. Mit einem empörten Maunzen verschwand Om in Jens’ Zimmer. Mittwoch. «Sie sind Philip Marlowe, ein Privatdetektiv?» – «Sehn Sie nach.» Als ich Montemar Vista erreichte und es in dem Kriminalroman bereits zu dämmern begann, hielt ich das für einen guten Anlass, das Licht zu löschen und mir meinen Tod vorzustellen. Heinz stehen die Tränen in den Augen. «Oh, Gott!» Er wendet sich ab und legt Onkel Jörg den Kopf auf die Schulter. «Wieso er? Wieso ausgerechnet er?»

      Sogar im Halbschlaf merkte ich, dass die Dialoge eine Spur zu pathetisch ausfielen, hatte aber weder Zeit noch Lust, mich um solche Bagatellen zu kümmern, denn schon wirft sich eine weinende Susanne über den Sarg. Vater (das Gesetz von Zeit und Raum hat längst seine Gültigkeit verloren) nimmt Mutter in den Arm: «Er war ein guter Junge!», die Sonne verfinstert sich, eloi, eloi, lema sabachtani, und lässig auf einen