Christopher Ecker

Fahlmann


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ihre Heimatstadt verlassen, und zu dritt (Jens begleitete uns als blinde Lurchart) waren wir in den ersten Stock meines Elternhauses gezogen, während die Habseligkeiten der Bahlows noch in zwanglosen Grüppchen vor dem Haus zusammenstanden und auf den Möbelwagen warteten. Die Rückkehr ins Elternhaus war ein Vorschlag meines Vaters, der darin wohl die letzte Möglichkeit sah, mich aus der tödlichen Umklammerung einer Zweier-WG zu befreien, in der ich mich gemeinsam mit Achim langsam aber sicher ins Nirwana soff. Ich hätte übrigens nie mit Susanne zusammengelebt, schlimmer noch, sie wahrscheinlich niemals kennengelernt, hätte ihr Achim damals in Paris nicht so gut gefallen. «Heute doch nicht mehr!», hatte sie nach ihrem unbedachten Geständnis lachend beteuert. «Aber damals», sagte ich. – «Nur solange, bis ich mit dir allein im Hotelzimmer war.» Kalt und teilnahmslos sagte ich: «Ich bin also die zweite Wahl.» – «Nein, das bist du nicht, und du weißt das ganz genau! Mensch, du kannst mir doch keinen Strick draus drehen, dass mir vor Jahren jemand anderes mal ganz gut gefallen hat!» Mir behagte nicht, dass sie bewusst vermied, Achims Namen auszusprechen. «Wer hat dir vor Jahren mal ganz gut gefallen?», bohrte ich. «Wer hat dir damals in Paris mal ganz gut gefallen?» Ich wollte, dass sie Achims Namen aussprach, jetzt sofort, alles wollte ich wissen, alles wollte ich hören, sie musste Achims Namen in den Mund nehmen, musste sich zu ihrer Schuld bekennen, den Namen, den Namen, ich wollte sie den gottverdammten Namen aussprechen hören, und als ich meine Frage zum vierten Mal wiederholte, nun mit verstellter Stimme, stand Susanne auf und verließ das Wohnzimmer.

      Dass solche Streitereien im Hause Fahlmann an der Tagesordnung waren, hätte Heinz’ Weltbild erschüttert: Für ihn war Susanne eine Göttin, und die Tatsache, dass ich mit ihr zusammenwohnte, was mich dazu berechtigte, sie nackt unter der Dusche zu sehen und mit ihr im selben Bett zu schlafen, erhob mich in den Rang eines Halbgotts, dem man so viel wie möglich über das Alltagsleben der Göttin entlocken musste; etwas, das Heinz in der entwaffnenden Unschuld des Ahnungslosen fortgesetzt versuchte, indem er unsere Gespräche mehr oder weniger geschickt in pikante Gewässer steuerte: Wer von uns zuerst ins Bad gehe, wer morgens als Erster wach werde, Geburten seien doch was Fürchterliches, Mann! Er wolle keine Frau sein! Die müssen der die Poperzel wieder zunähen! Und die Nachgeburt ist so ein Oschi! Ob ich eigentlich bei Jens’ Geburt zusehen durfte? Und war ich mal schlecht gelaunt, folgerte Heinz natürlich, Susanne habe ihre Tage, und lachte: «Dann ist wohl Handbetrieb angesagt!» Manchmal tat er mir mit seiner unbeholfenen Sehnsucht, Intimitäten über Susanne in Erfahrung zu bringen, so leid, dass ich kleine «Geheimnisse» preisgab. Etwa indem ich ihm berichtete, sie habe sich eine viel zu enge Jeans gekauft. Nach einer solchen Information konnte ich beobachten, wie hinter Heinz’ Stirn eine Maschinerie aus Bewunderung und Furcht zu werkeln begann. Furcht? Trifft es das? Hatte Heinz wirklich Angst vor Susanne? Ich denke schon. Er hatte zwar keine Probleme damit, ihr aus dem Wagen Zweideutigkeiten zuzugrölen, aber war er mit ihr allein im selben Zimmer, bekam er kalte Füße. Einmal hatte ich Großvater zum Augenarzt gefahren, während Heinz unseren Badezimmerboiler reparierte. Als ich zurückkam, empfing mich im zugequalmten Flur («Bei einer solchen Fummelei muss ich einfach fluppen!») eine verunsicherte Susanne: «Das war voll psycho! Der Heinz hat nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt. Ist der irgendwie sauer auf mich?» – «Wer weiß!», sagte ich und behielt die Wahrheit für mich.

      Ich betrachtete die tief und fest schlafende Schöne nicht ohne Neid, denn in den meisten Nächten hatten meine Gedanken freie Fahrt auf allen Bahnen. Erst huschten sie über den Jahrmarkt, lungerten an den Buden rum, vertrieben sich die Zeit mit Dosenwerfen, Luftgewehren und Zuckerwatte, dann fuhren sie auf den Karussells, bis ihnen schlecht wurde, und am Ende zog es sie magnetisch, Wolfgang, in die Geisterbahn. Hinter jeder Kurve lauerte derzeit ein Wolfgang. Als Skelett, als Toilettenpapier-Mumie, als zottiger Yeti. Doch am unheimlichsten war er als er selbst. Dachte ich an Wolfgang, musste ich an Susannes Arbeit denken. Dachte ich an Susannes Arbeit, musste ich an Wolfgang denken. Ich musste in diesem Sommer viel zu oft an Wolfgang und Susannes Arbeit denken.

      Meine Frau arbeitete fünf Tage die Woche im Edeka-Lager. Von acht bis zwölf fuhr sie dort eine elektrische Ameise, lud irgendwelche Waren auf und karrte sie in der Gegend rum. Spannte sie ihren Bizeps an, konnte ich trotz Sargtragens nicht mithalten: Zack!, macht es, Susanne presst meinen Unterarm auf die Tischplatte, und Jens gibt ein kränkendes Krähen von sich. Für die vier Stunden Ameise zahlte man Susanne knapp sechzig Mark, nicht gerade viel, aber wenn sie nach Hause kam, zauberte sie stets Schmuggelware wie Kaugummis oder Zahnpasta aus den Jackentaschen. «Täglich gehn so viele Sachen zu Bruch, das fällt gar nicht ins Gewicht.» Sie zuckte mit den Achseln. «Außerdem macht das dort jeder!»

      Neben mir tastete Susanne nach der Decke, ich breitete sie über ihren Busen und zog mich auf meine Seite zurück. Meine Füße zeigten nach Westen. Dort schützte mich eine fensterlose Wand voller Bücherregale vor dem Anblick des Beerdigungsinstituts. Sagt er uns, welche Bücher im Schlafzimmer stehen? Ja, das tut er, aber er tut es nicht gern. Hier standen hauptsächlich Science-Fiction- und Kriminalromane, die nicht ins Wohnzimmer durften. Niemand brauchte zu wissen, was ich exzessiv las. Mein Kopf zeigte auf den begehbaren Einbauschrank; er nahm die Ostwand gänzlich ein; Schiebetüren, Mottenkugeln, Klamotten, langweilig. Nordnordwest erhob sich die glückliche Insel meines Lesesessels, hartnord spiegelte sich die Glühbirne der Nachttischlampe in einem vorhanglosen Fenster, südwestlich erstreckte sich das Geröllfeld von Susannes abgelegten Kleidern bis zur Schlafzimmertür. Totgeknüllte Blusen streichelten flugunfähige BHs, Hosen versuchten sich vergeblich aufzurichten, Socken krochen in verknotete Shorts, ich löschte das Licht, über der Wiese hinterm Haus formierten sich helle Punkte zu unbekannten Sternbildern, eine Wolke zerschnitt den Mond, Wolfgang, meine Gedanken entschlossen sich zu einer weiteren Fahrt in der Geisterbahn, ich knipste das Licht wieder an, nahm das Buch vom Nachttisch, war zu müde, um zu lesen, betrachtete das Titelbild. Mitchum sieht einfach nicht wie Philip Marlowe aus. Susanne mochte es ganz und gar nicht, wenn ich ihr solche Sachen erzählte. Das wäre klugscheißerisch. So ein Unfug! «Wenn du wissen willst, was klugscheißerisch ist», hatte ich mich einmal empört, «dann hör dir das an!» Und ich improvisierte: «Dass ich ein Frosch sei, / Behauptetest du. / Das mag wohl sein. / Ich sag nicht ja, / Ich sag nicht nein.» – Susanne dachte angestrengt nach, man konnte förmlich Rad in Rad greifen sehen, und sagte dann: «Du Vollidiot!» Ihre Arbeitskollegen hielten mich auch für einen Vollidioten, aber damit konnte ich leben, beruhte es doch auf Gegenseitigkeit. Ich verstand nicht, wieso Susanne Wert darauf legte, die Mittagspause mit ihren Kollegen zu verbringen. «Kümmer dich um deine Angelegenheiten», hatte sie gesagt, als ich mit ihr darüber reden wollte, «und komm bloß nicht wieder auf die Schnapsidee, mich auf der Arbeit zu überraschen!» Das hatte ich tatsächlich einmal getan – ein Fiasko! Wenige Minuten nach zwölf parkte ich den Leichenwagen unweit des Edeka-Lagers in einem Wendehammer und ging die letzten Meter zu Fuß. LKWs brausten vorbei, es gab keinen Bürgersteig, Steinchen spritzten. Als ich mich dem Schlagbaum näherte, hob er sich automatisch. Dahinter mündete die Zufahrtsstraße in eine rissige Betonfläche, wo Dutzende von LKWs die langgestreckte Rampe des Lagers umschwirrten. Befehle wurden gebrüllt, näher ran, noch näher, stopp, nicht zu nah, ich stieg eine steile Metalltreppe ohne Geländer hoch, öffnete eine Stahltür und befand mich in einer Vorhalle, von der zahllose Gänge abzweigten: Gänge mit Süßigkeiten, Gänge mit Getränkekästen, Gänge mit Dosenfisch, Klopapier und Scheuermilch.

      Durch das verzweigte Labyrinth, das mich an die Szenarien erinnerte, mit denen Jens seinen Gameboy fütterte, huschten Ameisen; Gabelstapler kurvten auf den Linien unsichtbarer Schnittmuster durch die fensterlose Halle; Zombies sprangen ab, hetzten zur Rampe, beluden die LKWs. Zombies nannte Susanne diejenigen ihrer Kollegen, «die 150 % arbeiten», sie selbst kam meist «auf 110 %», außer an dem Tag, als sie sich «am Glasbruch» den Zeigefinger aufgeschnitten hatte. Das mit den Prozentzahlen habe ich nie richtig verstanden. Ist auch nicht weiter wichtig. Kann also getrost vergessen werden. «Ich suche eine Frau Susanne Fahlmann.» – «Kantine», sagte das leere Gesicht. «Macht Mittag.» Die Kantine erwies sich als schmaler Schlauch von Raum, der lediglich einer Selbstbedienungstheke und einer Reihe Biertische mitsamt Bänken Platz bot. Zusammen mit mir hatte eine dicke Frau den Raum betreten und füllte ihn nun dünstend aus. Waden wie Keulen, Brüste wie geplatzte Airbags, das Beinfett hing ihr als schlechtsitzender Fleischstrumpf über die Sandalen. Hier also verbrachte Susanne ihre Mittage! Ich sah feixende Gesichter, sah verlebte Gesichter, sah dumme Gesichter (leicht zu