zu Forschungszwecken in der Kolonie weilte, unterrichtete ihn Sattler bei einem Gläschen Portwein über diese Kuriosität. Fraas, ein Mann der Tat, zog am folgenden Tag mit zwanzig Trägern ins Landesinnere, wo er in einem wissenschaftlich höchst bedenklichen Gewaltakt einige prachtvolle Fundstücke ausgrub, um sie nach seiner Heimkehr der Stuttgarter Öffentlichkeit zu präsentieren. «Ein geschickter Schachzug, um die Gelder für die dringend notwendige wissenschaftliche Expedition zu organisieren. Ich lese Ihnen nun einen», Kuider blätterte in einem Notizbuch, «Auszug aus einem unveröffentlichten Manuskript vor, das uns Dr. Sproesser von der Schweizerbart’schen Verlagsbuchhandlung hat zukommen lassen. Ah, hier haben wir es! Es war eine nationale Ehrenpflicht, den Schatz, der im deutschen Boden Afrikas ruhte, mit allen Mitteln zu heben und für die wissenschaftliche Welt nutzbar zu machen. Das Berliner Geologisch-Paläontologische Universitäts-Institut und Museum unter der Direktion Herrn Geheimen Bergrats Professor Dr. Branca nahm sich der Sache an.» Bahlow bedeutete dem Kellner, ihm noch ein Gläschen des köstlichen Anislikörs zu bringen. «Ein Komitee unter dem Protektorat Sr. Hoheit des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Regenten von Braunschweig, erließ einen Aufruf, um die Mittel zur Ausrüstung und Entsendung einer Expedition zusammenzubringen und in erfreulich kurzer Zeit hatte der Opfersinn privater und korporativer Förderer der Wissenschaft die nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt. Im Ganzen dürften sich die Kosten auf 180.000 Mark belaufen haben, eine recht bescheidene Summe, wenn man – hier fehlt das Wörtchen ‹diese›! – etwa mit der gleichzeitig ins Werk gesetzten Südpolarexpedition vergleicht, für die 1 ½ Millionen gesammelt …»
Der Absinth nahm Bahlows Hand und führte ihn davon, seine Augen schwebten über dem Vieux Port, den kleinen Segelbooten, den wie Lanzen emporgereckten Masten, benutzten die bleichen Kalksteinhäuser als Stufen, hüpften den Hügel hinauf und sahen gemeinsam mit der Notre-Dame de la Garde über das Meer. Hier war Bahlow gestern schon einmal gewesen und hatte die Inselfestung Château d’If entdeckt, dessen feuchte Kerker Dumas mit seinem Grafen von Monte Christo unsterblich gemacht hatte. Mit diesem Gedanken glitten Bahlows Augen in die Höhe und zogen in einem großzügigen Bogen über dem glitzernden Meer davon. Aus weiter Ferne berichtete Kuider, die Expedition habe seit 1909 ihr Lager am rechten Ufer des Mbemkuru-Flusses aufgeschlagen, am Tendaguru-Berg. «Die Leitung obliegt Herrn Dr. Janensch, Kustos am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum. In unseren Augen ist er harmlos. Ihm geht ein Dr. Edwin Hennig zur Hand. Er ist Assistent an demselben Institute, ein Träumer, weitaus harmloser als Janensch.» Das wohltuende Sprudeln der Quelle erstarb. «Hören Sie mir überhaupt noch zu?»
Bahlow nickte hastig. Der Anisgeschmack des Absinths hatte seine Mundhöhle mit grünem Samt ausgekleidet. Seine Hände verschränkten sich auf dem Tisch zu einer aufmerksamen Wiege.
«Sie graben dort in Kronland, was bedeutet, dass die Eingeborenen auf dieser Fläche keine Felder bewirtschaften oder anlegen dürfen. Aber es lag freilich nicht an den Saurierfunden, dass das Gouvernement dieses Gebiet so überaus rasch und bereitwillig zum Kronland erklärte, so bedeutsam diese Funde für die Paläontologie auch sein mögen.»
«Ach», bemerkte Bahlow.
Kuider bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, ehe er die einschläfernde Rede erneut aufnahm. Verstand Bahlow richtig, ging es nun um irgendwelche einflussreichen Kreise, welche die Expedition ursprünglich hatten verhindern wollen, aber diese Kreise schienen dann doch nicht – doch nicht was? – die Expedition verhindert zu haben? «Denn», fuhr Kuider verständlicher als zuvor fort, «das hätte erst die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit geweckt. Lassen wir sie nur ihre Knochen ausgraben, dachte man sich.» Über diesen plötzlichen Wechsel ins Szenische musste Bahlow herzlich lachen. «Agent dieser Kreise», sprach Kuider ungerührt weiter, «ist Herr Besser von der Niederlassung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft in Lindi. Ein äußerst gefährlicher Mann. Auf ihn müssen Sie besonders aufpassen.»
«Aufpassen?»
«Auf Herrn Besser müssen Sie Ihr Augenmerk richten!», wiederholte Kuider, und der Entomologe nickte benommen. Ungefragt brachte ihm der Kellner einen dritten Absinth. War der Mann, der dort drüben an einer niedrigen Mauer lehnte, nicht Strigaljow? Er redete auf einen jungen Burschen ein, der verdächtig dem Kellner glich. Bahlow wollte Kuider diesbezüglich informieren, doch der redete, redete, redete. «Sie wohnen in Lindi bei Bilderbeck, einem Ägyptologen, er weiß über alles Bescheid, er ist einer von uns.» Einer von uns, höhnte es in Bahlows Kopf, einer von uns! Wer waren diese wir, die alles wussten, alles besser konnten? «Dort holt man Sie ab. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte Ihrem Dossier. Hier!» Eine flache Ledermappe erschien in Bahlows Hand. «Und das werden Sie auch benötigen.» Palais Royal, Carreau du Temple, Jardin des Plantes.
«Was ist das?»
«Ein Stadtplan von Paris. Sie werden ihn brauchen.»
«Einen Stadtplan von Paris in Afrika?»
«Das hat schon seine Richtigkeit. Hier!»
Bahlow nahm das dritte Geschenk entgegen, ein Tuch, öliges Zeitungspapier, der beunruhigend lange Lauf einer Luger. «Packen Sie um Gottes Willen die Waffe weg!» Ein Pappschächtelchen, aha, Patronen! Sie glänzen so schön im Sonnenlicht. «Weg damit!» Alle sind sie unfreundlich zu mir, Bahlow stand auf, eine kräftige Hand griff seinen Ärmel. «Sie wissen, dass Ihre Zeit befristet ist?»
«Meine Zeit?»
«Alles hängt davon ab, wie schnell die Post durchkommt. Ihr Verbündeter ist der Süd-Monsun.»
«Der Süd-Monsun», überlegte Bahlow. Endlich fiel ihm ein, was er Kuider schon die ganze Zeit über hatte fragen wollen. «Wieso ich?», trumpfte er auf.
«Von Herder hat Sie uns empfohlen.»
«Von Herder?» Bahlow wankte davon, versuchte sich im Gedränge der Rue de la Canebière zu verflüchtigen, kroch am Boden umher, klammerte sich an ein Hosenbein, jemand schleppte ihn eine steile Treppe hinauf, und als er am frühen Abend erwachte, packte er die Luger in den Koffer, faltete die zerknitterte Straßenkarte von Paris zusammen, mit der er sich zugedeckt hatte; es wurde dunkel. Bahlow saß am Fenster, den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt. Ein abgekartetes Spiel, dachte er. Sie lassen mir nicht den Hauch einer Chance! Es klopfte an der Tür, einmal, zweimal, dreimal. «Sind Sie da?» Bahlow hielt die Luft an, gab keine Antwort.
Wenn das eigene Leben eine Geschichte ist, sei sie nun von einem oder von mehreren mysteriösen Unbekannten geschrieben, so muss es darin auch Perioden geben, in denen man zwischen den Zeilen lebt, und in diesen Zeitläuften, wenn der weiße, leere Raum endlos zu werden droht, erwartet man ungeduldig den Beginn des nächsten Kapitels. Bahlow verbrachte die ersten Tage auf hoher See in der Kabine, während das Schiff den Halbbogen eines W’s in die Wellen des Mittelländischen Meeres zeichnete, und als er endlich aus dem geschwollenen Bauch des Dampfers emporstieg, um einen ereignislosen Tag mit einem Spaziergang auf dem Vordeck zu beschließen, befuhren sie bereits die Straße von Sizilien. Hier setzte das Schiff zum zweiten Bogen des W’s an, der aber bald, sie befanden sich auf Höhe von Kreta, abflachte, um in bedenklichen Schnörkellinien abzusinken: Wie ein wollüstiger Molluske saugte Afrika den Dampfer in den Suezkanal.
Bahlows Kabine lag über dem Maschinenraum, und längst war das zermürbende Stampfen der Kolben ein fester Bestandteil der Träume geworden. Schlief er nicht, beschäftigte er sich inständig mit dem Dossier, als könnte er dadurch das peinigende Versagen am Quai du Port wettmachen. Ich werde abwarten, nahm er sich vor, und nichts, dachte er oft, spricht dagegen, sich selbst beim Leben zu beobachten, ganz so, als läse man einen Roman. Kuiders Dossier enthielt seitenweise maschinenbeschriebenes Papier, Landkarten, Zeitungsartikel, auch Notate in selbstbewusst ausbordender Schrift, und bald wusste Bahlow, dass es sich bei den Dinosaurier-Lagerstätten nicht um Land- bzw. Sumpfablagerungen wie in Nordamerika handelte, denn bei den Grabungen in Deutsch-Ostafrika habe man auch Muscheln, Reste von Fischen und fossile Vögel gefunden. Deswegen sprach Professor Dr. Branca, der Direktor des Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums, die Vermutung aus, hier sei «Verschiedenartiges» (ein Ausdruck von Hennig) in einem brackigen oder salzigen Küstengewässer zusammengeschwemmt worden. Zwar befänden sich die Knochen durch den Wasserabschluss in weitaus