eine rhetorische Frage, die ich nicht mitbekommen hatte. «Toter drauf, abgesenkt, Scheinabdeckung drauf und tideldum, fahr ich eine leere Trage zum Lift.» Als er seine Ansprache beendet hatte, freuten wir uns alle, Heinz wurde seinen Tampon-Witz los, im Gegensatz zu mir musste der Pfleger herzlich darüber lachen, und als er sich endlich getrollt hatte, sargten wir den Alten ein.
«Das Tideldum ist doch ein Hit!», sagte Heinz.
«Porno-Verstorbenen-Transporter», sagte ich.
«Das letzte Mal hat er noch viel mehr getideldumt.»
«Der hat doch ein Rad ab.»
«Tideldum!», sagte Heinz.
«Hast du ihn deshalb gebeten …?»
Ein ernstes Tideldum bestätigte meinen unausgesprochenen Verdacht.
Nachdem der Sarg im Transit verstaut war, leistete ich Heinz bei zwei Dosenbieren und einem eiskalten Apfelschnaps Gesellschaft. Krankenhäuser ziehen Kioske mit Stehausschank magisch an. Hier erscheinen ältere Herren in Bademantel und Hausschuhen, um ihr Päckchen HB zu kaufen, und kippen, da sie nun schon einmal die Strapaze der Hospitalflucht auf sich genommen haben, rasch noch einen Underberg oder ein Dosenbier. «Kommt ne Frau zum Arzt und sagt: ‹Mein OB steckt quer.›» Ich bewunderte die Zwanglosigkeit, in der Heinz mit der Verkäuferin scherzte; neben mir zitterte ein alter Mann im Trainingsanzug; unter seiner Augenklappe spähte gelblich verfärbter Mull hervor; ab und an packte er meinen Ärmel und erhob die Stimme, um sich über irgendwelche Missstände auf der Inneren auszulassen. Ich nickte unverbindlich und trank lauwarme Cola.
«Merkst dus?», fragte Heinz, als wir in den Transit stiegen.
«Was?» Ich manövrierte zwischen parkenden Autos durch (ab jetzt fuhr ich, denn die Abstecher zu Kiosken und Trinkhallen wären von nun an fester Bestandteil des Tages).
«Wie sie warten.»
«Wer wartet?»
Heinz deutete mit dem Daumen hinter sich. «Die Totenwürmer.»
«Tideldum», meinte ich vorsichtig, denn ich war mir nicht sicher, ob er Spaß machte.
Vor einigen Jahren hatte ich mit Achim einen seiner damaligen Freunde besucht, einen verpickelten Sonderling, der aus einem mir heute schleierhaften Grund einen platten Fisch, möglicherweise eine Scholle, auf dem Balkon seiner Einzimmerwohnung trocknete. Der Leib des toten Fischs hob und senkte sich in benommenen Atembewegungen. Das waren die Maden! Unter dem Fisch wanden sich so viele Maden, dass er zu atmen schien. Die Maden waren überall. Stolz lüpfte Achims Bekannter einen Blumentopf, und selbst dort, wo das kleine Abtropfloch im Topfboden das Wachstuch berührt hatte, ringelten sich zwei winzige, weiße, deutlich segmentierte Maden. Damals wurde mir schlecht, aber ich kotzte nicht. Mein Vater hätte wahrscheinlich in hohem Bogen über das rostige Balkongeländer gereihert, einem seekranken Entomologen nicht unähnlich, der sich grüngesichtig über die Reling des Schiffs beugt. Einmal kotzte Vater, als er eine Möhre für mein Meerschweinchen aus dem Kühlschrank holte. Sie hatte inmitten einer grauen, schleimigen Pfütze gelegen, klatschte schlaff und runzlig in Vaters Handfläche, von der Spitze tropfte verwester Schmand, Vaters Backen blähten sich gewaltig auf, ich sprang einen Schritt zurück, Vater sah sich ratlos um, eine Hand auf dem Mund, in der anderen die verfaulte Möhre, und dann explodierte das Mittagessen aus seinem jäh aufplatzenden Gesicht. Ich schaltete in den vierten Gang, und Heinz kommentierte das nnkrrkkks! des Getriebes mit diesem Spruch, den ich in meinem Leben schon so oft gehört hatte, dass ich ihn selbst dann vor mich hinmurmelte, wenn ich alleine im Transit saß und mir das übliche Malheur mit der Kupplung passierte.
«Schau mal, die Kleine mit dem Ranzen!» Heinz kurbelte das Fenster runter und brüllte: «Ich fühls! Ich kanns fühlen! Die Totenwürmer! Die sind überall, die Totenwürmer!»
«Mach das Fenster wieder zu», lachte ich.
Heinz rülpste. «Einen Scheiß werd ich tun! Uh, stinkt das!» Er fächelte mir den Rülpser zu, steckte sich eine Zigarette an, rauchte. «Hast du alles gesehen? Von Onkel Jörg, meine ich?»
«Es ging zu schnell.»
«Wirst dus ihm sagen?»
«Weiß noch nicht. Wenn ich es ihm sage, lässt ers vielleicht bleiben.» Und nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: «Jens hat ihn noch nicht gesehen.» Inzwischen hatte sich Onkel Jörg bestimmt angezogen und nahm die Aufträge entgegen. War er mit Heinz unterwegs, bat ein Anrufbeantworter, der sich meine Stimme ausgeborgt hatte, Namen und Adresse zu hinterlassen, versicherte, er werde halbstündlich abgehört, und log selbstbewusst: «Unser Wagen kommt binnen einer Stunde bei Ihnen vorbei.» Ich aß mein halbes Schweinsohr, die Totenwürmer seien überall, philosophierte Heinz. Wie konnte ich nur ihr Gesicht vergessen? Wäre sie mir auf der Straße begegnet, hätte ich sie sofort wiedererkannt. Aber wieso befand sich dort in meinem Gedächtnis, wo eigentlich ihr Gesicht sein sollte, ein großer, leerer Fleck? Nur ihre anmutigen Bewegungen waren geblieben, die Titten, die Kuchenzange, die skeptischen, grünen Augen, der Küster, ein Herr Friedler oder Fiedler, stakste wie ein Storch über den Rasen vor der Katholischen Kirche, den Kopf gesenkt, als suchte er etwas. Er sah uns vorbeifahren, verschränkte die Arme und fing im Rückspiegel zu grübeln an, bis ihn eine langgezogene Kurve aus dem Rahmen kippte. «Ich müsste nochmal in die Bäckerei.»
«Jetzt gleich?», fragte Heinz.
«Das wär mir eigentlich am liebsten.»
«Kein Problem.» Heinz grinste. «Willst du wissen, wie sie heißt?»
Ich war noch nie ein guter Schauspieler. «Also gut», sagte ich. «Wie heißt sie?»
Und Heinz zerlegte ihren Namen mit lüsterner Grimasse in stöhnende Silben. Er ließ jede Silbe so brünstig auf der Zunge zergehen, dass ich vor Ekel eine seelische Gänsehaut bekam.
Jasmin hieß sie, Jasmin Rimbach.
4Es kam einer Flucht gleich, dass der frisch graduierte Entomologe Carl Richard Bahlow im Jahr 1910 nach Deutsch-Ostafrika reiste, um dort im Auftrag der Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas nach seltenen Arten zu suchen. Unter normalen Umständen hätte Bahlow das anfangs hartnäckige, später erpresserische Angebot der Firma niemals angenommen, aber nachdem Staudingers Briefe aus Dresden-Blasewitz zunehmend deutlicher geworden waren und sogar von Polizeigewahrsam und Festungshaft sprachen, übergab Bahlow dem höhnisch abwartenden Beamten des Kieler Hauptpostamtes den Brief mit der Zusage. Es mochten Wochen sein, die er durch die gut bezahlte Flucht gewann, zu der ihn die Firma nötigte, vielleicht sogar Monate. Womöglich wuchs in dieser Zeit sogar Gras über die ganze Sache; doch dass dies eine kindische Hoffnung war, wusste er selbst.
Bahlow sollte sich, nur so viel war ihm bekannt, einer Expedition des Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums anschließen (unterstützt von Sr. Hoheit des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Regenten von Braunschweig), die seit 1909 im Süden Deutsch-Ostafrikas ihr Lager aufgeschlagen hatte, aber erst am Tag vor der Abreise würde er in Marseille weitere Instruktionen von einem Außenagenten der Firma erhalten, einem gewissen Herrn Kuider. Mit dem Herabsausen des Stempels wurde es unwiderruflich: Afrika! Der Postbeamte sah Bahlow, dessen Kenntnisse über Deutsch-Ostafrika sich auf das Wissen beschränkten, dass der Kilimandscharo drei Gipfel besaß, streitlustig an. Der murmelte ein leises «Dankeschön» und ließ sich von seinen Füßen durch die Kieler Chausseen nach Hause tragen, wo er sogleich sein möbliertes Zimmer kündigte. Kaum eine Woche später erhielt er per Eilboten den Fahrschein nach Marseille.
In den Tagen vor der Abreise dachte er oft an dieses Ölgemälde von Jan Baptist Weenix, das einen herausfordernd nachdenklichen René Descartes zeigt, der ein Buch in der Hand hält. Die Wahrhaftigkeit des Buchtitels hatte den jungen Bahlow im Utrechter Centraal Museum erschüttert: Mundus est fabula. Wahrscheinlich lebt es sich besser, wenn man alle Geschehnisse als Bestandteil einer Geschichte sieht, überlegte er beim Kofferpacken, als Kettenglieder einer deutbaren Geschichte, die man jedoch nicht liest, sondern erlebt. Einige Stunden später überlagerten ähnliche Gedanken das mesmerisierende, abteilfüllende Rattern der Dampflokomotive, doch erst in Marseille beschloss er, mitzuspielen und