Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
führte meinen Freund Tunda auch in das Lokal der Künstler.
Es war die Zeit, in der die Literaten, die Schauspieler, die Filmregisseure, die Maler wieder Geld verdienten. Es war die Zeit nach der Stabilisierung des deutschen Geldes, in der neue Bankkontos angelegt wurden, sogar die radikalsten Zeitschriften gutbezahlte Inserate hatten und die radikalen Schriftsteller in den literarischen Beilagen der bürgerlichen Blätter Honorare verdienten. Die Welt war schon so konsolidiert, daß die Feuilletons revolutionär sein durften. Man war so weit entfernt vom Bürgerkrieg, daß die revolutionären Schriftsteller mit einem gewissen Vergnügen den Prozessen und den Staatsanwälten entgegensahen und deren Drohungen als freundliche Komplimente entgegennahmen.
Ich zeigte Tunda alle berühmten Leute: den Schriftsteller, der mit schönem frühgebleichtem Haar da saß, mit silbernem, wie von einem Juwelier verfertigtem Kopf, der die sanften Bosheiten verfaßte und dessen Stil zu einer Hälfte aus gutem Geschmack und zur anderen aus Furcht vor Sentimentalität bestand; den Herausgeber einer Zeitung, der seine Herzensgüte jedem offerierte – auch denen, die nicht auf sie reflektierten –, statt des schriftstellerischen Ehrgeizes eine gewöhnliche männliche Eitelkeit besaß und der, mit einer großen Geschicklichkeit für Börsengeschäfte begabt, Geld verdiente und die Großindustrie bekämpfte; den bekannten Zeichner, der, von mittelmäßigem Talent, so lange alle Berühmtheiten zeichnete, bis sie nicht umhin konnten, ihren eigenen Glanz auf ihn zurückzustrahlen; den revolutionären Autor revolutionärer Erzählungen, der, ein Opfer der Justiz, drei Monate gesessen hatte für die Freiheit, für die Gerechtigkeit, für eine neue Welt – und nichts anderes erreicht hatte als seinen eigenen Ruhm, der vorläufig auch nicht schaden konnte.
Ich zeigte Tunda die nachdrängende, immer wieder sich erneuernde Jugend, die mit dem Hochmut der später Kommenden die bereits Anwesenden grüßte, fremde Erfolge erörterte, um für die eigenen zu profitieren, Monokel trug und bunte Krawatten, an die Nachkommenschaft reicher Bankiers erinnerte und vor der Wahl, der Enkel einer jüdischen Großmutter oder der uneheliche Sohn eines Hohenzollernprinzen zu sein, noch unentschlossen schwankte.
Ich zeigte Tunda alle, die mich verachten und die ich grüßen muß, weil ich vom Schreiben lebe.
Am nächsten Tag schickte Tunda Geld: seiner Frau nach Baku und Baranowicz nach Irkutsk. An Baranowicz schrieb er einen ausführlichen Brief.
Erst am 27. August sollte ich ihn in Paris wiedersehen.
XXIV
Er kam nach Paris am 16. Mai um sieben Uhr morgens.
Er hatte den Sonnenaufgang gesehen. Über einer Landschaft aus dunklem Grün, in der sich gewöhnliche Laubwälder wie Zypressenhaine ausnahmen, rollte, wie mit der Zeitlupe aufgenommen, ein glühender Ball empor und verblaßte zusehends.
Es war Tunda, als hätte er zum erstenmal den Aufgang der Sonne gesehen: Immer war sie aus Nebeln aufgestiegen, die den Übergang von der Nacht zum Tage verhüllen und aus dem Morgen ein Geheimnis machen. Diesmal aber erschienen ihm Nacht und Tag deutlich voneinander getrennt, durch einige saubere Wolkenstriche, auf denen der Morgen heraufstieg wie auf Treppen.
Er hatte in Paris einen klaren blauen Morgenhimmel erwartet. Aber der Morgen in Paris ist mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Ein zerstäubter Rauch von Fabriken vermischt sich mit unsichtbaren Resten silberner Gaslampen und hängt über den Fronten der Häuser.
In allen Städten der Welt sind es um sieben Uhr morgens die Frauen, die zuerst aus den Häusern treten: Dienstmädchen und Stenotypistinnen. In allen Städten, die Tunda bis jetzt gesehen hatte, bringen die Frauen noch eine Erinnerung von Liebe, Nacht, Betten und Träumen in die Straßen. Die Pariserinnen aber, die des Morgens die Straße betreten, scheinen die Nacht vergessen zu haben. Sie haben die frische neue Schminke auf Lippen und Wangen, die wunderbarerweise an eine Art Morgentau erinnert. Es sind vollkommen angezogene Frauen, es ist, als gingen sie ins Theater. Sie aber gehen mit klaren nüchternen Augen in einen klaren nüchternen Tag. Sie gehen schnell, mit starken Beinen, auf sicheren Füßen, die zu wissen scheinen, wie man Pflastersteine behandelt. Tunda hatte, als er sie gehen sah, den Eindruck, daß sie niemals Absätze und Sohlen verbrauchen.
Er ging durch häßliche alte Gassen mit aufgerissenem Pflaster und billigen Läden. Aber wenn er den Blick erhob, über die Ladenschilder, waren es Paläste, die mit unberührter Gleichgültigkeit Händler zu ihren Füßen duldeten. Es waren immer die gleichen alten Fensterscheiben, in acht Parallelogramme aufgeteilt, mit den gleichen, grauen, dünn gerillten, bis zur Hälfte herabgelassenen Jalousien. Nur selten war ein Fenster offen, und selten stand an einem offenen Fenster ein unbekleideter Mensch.
Vor den Läden saßen Katzen, sie schwenkten die Schweife wie Fahnen. Sie saßen mit sorgfältig beobachtenden Augen wie Wachhunde vor den Körben mit grünem Salat und gelben Mohrrüben, dem bläulich schimmernden Kohl und den rosaroten Radieschen. Die Läden sahen aus wie Gemüsegärten, und trotz der weichen, bleifarbenen Atmosphäre, welche die Sonne verhüllte, trotz dem Rauch und der plötzlich aus dem Asphalt aufsteigenden Hitze war es Tunda, als wanderte er durch freies Land, und er roch den Duft der aufsteigenden Erde.
Er gelangte auf einen kleinen runden Platz mit einem lächerlichen Denkmal in der Mitte. Ja, als er dieses Denkmal sah, lachte er laut, daß er glaubte, die Menschen würden aus den Häusern treten. Aber nicht einmal diejenigen, die draußen waren, gaben auf ihn acht. Es waren eine dicke schwarze Frau, die vor einem Putzereiladen stand, und ein großer Mann mit einem weithin glänzenden schwarzen Schnurrbart, der eben sein kleines Schokoladengeschäft öffnete. Sie sprachen miteinander, schienen Tunda zu sehen, aber ihn absichtlich nicht zu beachten. Sie machten Witze am frühen Morgen. Tunda lachte vor dem Denkmal.
Es stellte einen glattrasierten Herrn in einem flatternden Mantel in Lebensgröße auf einem Sockel vor. Daß der Tod seinen Alltag nicht unterbrochen hatte, schien ihm eine ausgemachte Sache. Eine kleine Störung, nichts weiter. Man stellte sich, statt den weiten Weg ins Jenseits zu wandern, bequem in der Mitte eines runden Platzes hin, ein Theaterchen mit klassischen Säulen im Hintergrund, und hing weiter seiner Beschäftigung nach, nämlich dem Dichten.
Der Platz, mit Ausnahme seiner zwei Läden, schlief noch. Die Häuser legten sich um ihn, in sanfter Rundung, wie ein Ring um einen Finger. Von einigen Lücken aus liefen strahlenförmig Gassen nach allen Seiten, und aus einer schimmerte das dunkle Grün eines offenbar dichten Parks herüber, in dem Vögel lärmten.
An der Ecke war ein Hotel, ein Hotel wie ein Laden.
Tunda ging hinein, es war dunkel, eine Glocke wimmerte, und eine junge geschminkte Frau trat hinter einem billigen, sanft geblümten Vorhang hervor. Sie erschien sehr kühn und hoher Bewunderung wert, weil sie den Mut hatte, in dieser Dunkelheit, hinter diesem Vorhang zu leben, weil sie Tunda mit ebenso rücksichtsloser, fast aggressiver, aber doch wieder freundlicher Stimme nach seinen Wünschen fragte. Sie kam ihm sehr kühn vor, es schien, daß sie die großartige Fähigkeit hatte, als ein Mensch aus Fleisch und Blut durch Träume zu gehen und inmitten von Wundern selbst ein Wunder zu sein.
In diesem Hotel, dieser Frau wegen, mietete Tunda ein Zimmer, im sechsten Stock. Vom Fenster aus konnte er den weichen Hut des steinernen Dichters sehen, Spatzen, die auf seinem Kopf tanzten, das Dach mit dem dreieckigen Giebelvorsprung des Theaters, alle strahlenförmigen Straßen, rechts das dunkle Grün des Gartens und weit und breit hüpfende Schornsteine, wie Kinder in einem blauen Dunst.
Am Nachmittag ging er durch kleine und große, enge und breite Straßen, in denen Kaffeeterrassen blühten mit runden Tischchen auf dünnen Beinen, und die Kellner gingen wie Gärtner einher, und wenn sie Kaffee und Milch in Tassen schütteten, war es, als besprengten sie weiße Beete. An den Rändern standen Bäume und Kioske, es war, als verkauften die Bäume Zeitungen. In den Schaufenstern – er dachte an die törichten Schaufenster der Rue de la Paix – tanzten die Waren durcheinander, aber in einer ganz bestimmten und stets übersichtlichen Ordnung. Die Polizisten in den Straßen lustwandelten, ja, sie lustwandelten, eine kleine Pelerine auf der rechten oder auf der linken Schulter – daß dieses Kleidungsstück vor Hagel und Wolkenbruch schützen sollte, war merkwürdig. Doch trugen sie es mit einem unerschütterlichen