Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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      Sie alle sprachen in weihevollen Stunden von einer Gemeinsamkeit der europäischen Kultur. Einmal fragte Tunda:

      »Glauben Sie, daß Sie imstande wären, mir präzise zu sagen, worin diese Kultur besteht, die Sie zu verteidigen vorgeben, obwohl sie gar nicht von außen angegriffen wird?«

      »In der Religion!« – sagte der Präsident, der niemals die Kirche besuchte.

      »In der Gesittung« – die Dame, von deren illegitimen Beziehungen die Welt wußte.

      »In der Kunst« – der Diplomat, der seit seiner Schulzeit kein Bild betrachtet hatte.

      »In der Idee: Europa« – sagte klug, weil allgemein, ein Herr namens Rappaport.

      Der Aristokrat aber begnügte sich mit dem Zuruf:

      »Lesen Sie doch meine Zeitschrift!«

      »Sie wollen«, sagte Tunda, »eine europäische Gemeinschaft erhalten, aber Sie müßten sie erst herstellen. Denn die Gemeinschaft ist ja nicht vorhanden, sonst würde sie sich schon selbst zu erhalten wissen. Ob man überhaupt irgend etwas herstellen kann, scheint mir ja sehr zweifelhaft. Und wer sollte übrigens diese Kultur, wenn sie noch da wäre, angreifen? Etwa der offizielle Bolschewismus? Der will sie ja auch in Rußland.«

      »Aber zugleich hier –jedenfalls hier zerstören, um sie vielleicht allein zu besitzen«, rief der Herr Rappaport.

      »Ehe er dazu kommt, ist sie wahrscheinlich durch einen neuen Krieg verschwunden.«

      »Eben den wollen wir ja verhindern«, sagten mehrere auf einmal.

      »Wollten Sie es nicht auch im Jahre 1914? Als aber der Krieg ausbrach, gingen Sie in die Schweiz, gaben dort Zeitschriften heraus, und hier erschoß man die Kriegsdienstverweigerer. Sie haben jedenfalls genug, um ein Billett nach Zürich rechtzeitig zu lösen, und immer Beziehungen, um einen gültigen Paß zu bekommen. Aber das Volk? Ein Arbeiter muß sogar in Friedenszeiten drei Tage auf ein Visum warten. Nur einen Einberufungsschein bekommt er sofort.«

      »Sie sind ein Pessimist«, sagte der gütige Präsident.

      In diesem Augenblick betrat ein Herr das Zimmer, den Tunda schon kannte. Es war Herr de V. Er kam eben von einer Amerikareise zurück. Er war wieder Sekretär, nicht mehr bei dem Rechtsanwalt, sondern bei einem hohen Politiker.

      Nie hätte er gedacht, so sagte er, daß Tunda wirklich nach Paris kommen könnte. Und welch ein glücklicher Zufall, der sie bei seinem alten lieben Freund – so dürfe er doch wohl sagen –, dem Herrn Präsidenten, zusammenführte.

      Dann begann der Sekretär von Amerika zu erzählen.

      Er war ein »geborener Erzähler«. Er ging von einer anschaulichen und übertriebenen Situation aus und kam von privaten Erlebnissen auf allgemeine Zustände. Er hob und senkte die Stimme, er erzählte die Hauptsachen sehr leise, so daß er Nebensachen mit lauter Stimme übertäuben durfte. Sehr ausführlich schilderte er den Verkehr in den Straßen und die praktischen Hotels. Über die Amerikaner machte er sich lustig. Theatervorstellungen beschrieb er mit Bosheit. Von Frauen deutete er Intimes an. Jedesmal zog er an den Bügelfalten über seinen Knien, es erinnerte von ferne an die schüchterne Bewegung eines jungen Mädchens, das seine Schürze zupft. Der Sekretär war unbedingt ein sympathischer Mensch. Aber seine plötzliche Rückkehr aus Amerika bewirkte, daß der alte gütige Präsident Tunda nicht mehr häufig einlud und daß er nicht mehr »lieber Herr« zu ihm sagte, sondern »mein Herr«.

      Tunda konnte bei Frau G. den intimen Freund eines großen Dichters und andere Menschen sehen.

      Die Damen saßen in Hüten, eine ältere Dame zog nicht die Handschuhe aus. Sie nahm das kleine Gebäck mit den ledernen Fingern entgegen, steckte es zwischen Lippen aus Karmin, kaute es mit Zähnen aus Porzellan – ob ihr Gaumen echt war, blieb zweifelhaft. Aber nicht sie, sondern der Freund des großen Dichters erregte Aufsehen.

      Der Freund des Dichters, ein Ungar, hatte sich in Paris so akklimatisiert wie einmal in Budapest. Die ungarische Melodie, mit der er französisch sang, hätte die empfindlichen Ohren der Franzosen beleidigt, wenn er nicht in dieser Melodie Geschichten aus dem Leben seines großen literarischen Freundes vorgetragen hätte. Auch der Ungar war ein Kulturvermittler und polyglott seit seiner Geburt. Er konnte davon leben. Denn er übersetzte Molnár, Anatole France, Proust und Wells – jeden in die Sprache, in der er gerade verlangt wurde, und außerdem die gangbaren Possen in alle Sprachen zugleich. Er war bekannt auf der Pressetribüne des Völkerbundes in Genf, in den Kanzleien der Berliner Revuetheater, der Theateragenten und in den Feuilletonredaktionen aller großen Zeitungen des Kontinents.

      Er sprach wie eine Flöte. Es war wunderbar, daß er mit dieser weichen Kehle in der Liga für Menschenrechte Protektionen für ungarische Freunde durchsetzen konnte. Er tat überhaupt manches Gute, nicht aus angeborener Hilfsbereitschaft, sondern weil ihn seine Verbindungen zwangen, Gefälligkeiten zu erweisen.

      Es traf sich, daß er mit Tunda zusammen das Haus der Frau G. verließ. Er gehörte zu jenen mitteleuropäischen Männern, die ihre Gesprächspartner am Arm führen, bei jeder Straßenecke stehenbleiben oder zu sprechen aufhören müssen. Sie verstummen, wenn man ihnen den Arm entzieht, wie eine elektrische Lampe erlischt, wenn man den Kontakt aus der Wand entfernt.

      »Sie kennen Herrn de V.?« fragte er.

      »Nicht sehr genau!« erwiderte Tunda.

      »Welch ein geschickter Mann – sehen Sie, jetzt kommt er gerade aus Amerika zurück. Eine Weltreise ist für ihn ein Katzensprung. Er hat übrigens schon die halbe Welt gesehen. Das kostet ihn keinen Pfennig. Er ist immer bei irgendeinem reichen oder wenigstens einflußreichen Mann beschäftigt. Als Sekretär oder –«

      Er wartete eine lange Minute, dann sagte er: »Mit Frau G. ist es aus.«

      Er ließ Tundas Arm los, stellte sich ihm gegenüber, als erwarte er etwas Außerordentliches.

      Statt dessen aber sagte Tunda gar nichts.

      »Sie wußten es wohl?« fragte er.

      »Nein!«

      »Aber Sie interessieren sich nicht für den Herrn.«

      »Nur wenig.«

      »Dann gehen wir einen Kaffee trinken.«

      Und sie gingen einen Kaffee trinken.

      Um diese Zeit begann Tundas Geld auszugehen.

      Er schrieb seinem Bruder. Georg antwortete, daß er mit barem Geld leider nicht helfen könne. Sein Haus stände allerdings immer offen.

      Die Kühnheit der schönen Hotelwirtin, die Tunda so bewundert hatte, verwandelte sich in Hohn. Denn die schönen, jungen und kühnen Wirtinnen der Hotels haben nicht umsonst ein Leben hinter dunklen, billig geblümten Vorhängen verbracht. Dafür will man bezahlt sein.

      Die Armut eines Mieters halten sie für eine ausgeklügelte Bosheit, ihnen persönlich vom Mieter zugedacht.

      Die Vorstellung, die der kleine Bürger von der Armut hat: der Arme hat sich lange um die Armut beworben, um mit ihrer Hilfe seinem Nächsten ein Leid anzutun.

      Aber gerade vom kleinen Bürger ist, wer gar nichts hat, abhängig. Hoch oben hinter den Wolken lebt Gott, dessen Allgüte sprichwörtlich geworden ist. Ein bißchen tiefer unten leben die verwöhnten Menschen, denen es gut geht und die vor jeder Ansteckung mit der Armut so gefeit sind, daß sich bei ihnen die wunderbaren Tugenden entwickeln: Verständnis für die Not, Barmherzigkeit, Güte und sogar Vorurteilslosigkeit. Aber zwischen diesen Edlen und den andern, die den Edelmut am ehesten brauchen, sind als Isolatoren die Mittelständler geklemmt, die den Brothandel betreiben und die Versorgung der Menschen mit Kost und Quartier. Die ganze »soziale Frage« wäre gelöst, wenn die Reichen, die ein Brot verschenken können, auch