Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
an einem Zahnschmerz zugrunde gehen.
Er entschloß sich, den Herrn Präsidenten aufzusuchen. Er hatte sich nicht angekündigt, und es war ihm, als er vor der Tür stand, ein Trost, zu denken, daß er die ersten zwei Minuten mit der Entschuldigung seines plötzlichen Besuches ausfüllen konnte. Darauf würde der Präsident sicherlich mit gewohnter und gleichsam meisterhaft gehandhabter Herzlichkeit erwidern, es sei ihm gerade sehr angenehm, daß Tunda ihn aufsuche. Dann würde Tunda den Mut aufbringen, ihn zu enttäuschen.
Der Herr Präsident war zu Hause, und er war allein. Wiederum bewunderte Tunda die präzise, die ahnungslose und unerbittliche Maschinerie des Zeremoniells, das keinen Augenblick stockte und das sich um den Zweck seines Besuches nicht kümmerte, ihn die Ehren genießen ließ, die nur einem Unabhängigen, Stolzen, Freien gebühren. Ebenso zuvorkommend wie der Diener ihn heute noch behandelte, ebenso unerschütterlich würde er ihn morgen abweisen, wenn er endgültig und allen sichtbar in die traurige Kategorie der vergeblichen Bittsteller gesunken war. Es gibt keine Ausnahmen. Tunda dachte an das Gesetz, von dem einmal der angeheiterte Fabrikant gesprochen hatte. Man hat schon längst den Ausbruch aus seiner Klasse, seinem Stand, seiner Kategorie vollzogen, aber das Zeremoniell weiß noch nichts davon, und ehe es einen Aufstieg oder einen Absturz zur Kenntnis genommen hat, kann dieser und jener nicht mehr wahr sein. Tunda war wie einer, der aus einer durch Erdbeben vernichteten Stadt kommt und von den Ahnungslosen so empfangen wird, als käme er geradewegs aus einem fahrplanmäßig eingelaufenen Zug.
Erschienen ihm aber Vorzimmer und Diener noch wie in alten Zeiten – wie hatten sich die wenigen Wochen zu Dezennien plötzlich ausgedehnt! –, so empfand er im Anblick des Herrn Präsidenten doch die ganze Veränderung seiner Lage. Denn die Besitzenden, die Ruhigen, die Sorglosen, ja, auch nur die mäßig Versorgten entwickeln einen Abwehrinstinkt gegen jeden Einbruch in ihre geschützte Welt, sie scheuen auch nur die Berührung mit einem Menschen, von dem sie eine Bitte erwarten dürfen, und ahnen die Nähe der Hilflosigkeit mit jener Sicherheit, die den Tieren der Prärie vor einem Waldbrand zu eigen wird. Der Herr Präsident hätte die ganze Veränderung in Tundas Lage erraten, und wenn er ihm bis dahin als ein Millionär und Klubgenosse des Citroën bekannt gewesen wäre, in dem Augenblick hätte er sie erraten, in dem sich ihm Tunda näherte, um ihm seine Armut einzugestehen – – der Präsident hätte sie erraten, dank der prophetischen Gabe, die den Besitz, die Wohlgeborgenheit, die Bürgerlichkeit begleitet wie der Schäferhund den blinden Bürstenbinder.
Des Präsidenten Adel verwandelte sich in Furcht, seine Zurückhaltung in Strenge, seine Vorsicht in Verdrossenheit. Ja, sogar seine Schönheit war einer billigen, äußerlichen, leicht erklärbaren Eitelkeit gewichen. Sein schöner silberner Bart war das Ergebnis eines Kammes und einer Bürste, seine glatte Stirn ein Abzeichen des gedankenlosen und bequemen Egoismus, seine gepflegten Fingernägel eine Art soignierter Krallen, sein Blick der Ausdruck eines glatten, gläsernen Auges, das die Bilder der Welt nicht anders aufnahm als ein Spiegel.
»Es geht mir schlecht, Herr Präsident!« sagte Tunda.
Der Präsident machte ein noch ernsteres Gesicht und wies auf einen bequemen ledernen Sessel, wie ein Arzt, bereit, zu horchen und mit jenem freudigen Interesse zu hören, mit der Ärzte eine Krankheitsgeschichte vernehmen, weil es ihr Studium auf jeden Fall fördern kann. Er saß da wie der Ewige, im Schatten wie in einer Wolke, während auf Tunda durch das Fenster ein breiter Sonnenstreifen fiel, so daß seine Knie beleuchtet waren und das Licht vor ihm stand wie eine goldene durchsichtige Wand, hinter welcher der Herr Präsident saß und hörte oder auch nicht hörte. Dann aber geschah das Merkwürdige, daß der Herr Präsident aufstand – die Wand aus gläsernem Gold war bis zu ihm vorgerückt, er durchbrach sie, da wurde sie ein goldener Schleier, der sich seinen Körperformen anpaßte, auf seiner Schulter lag und ein paar weiße Haarschuppen auf seinem blauen Anzug sichtbar machte. Der Präsident stand, menschlich geworden, streckte Tunda die Hand entgegen und sagte: »Vielleicht kann ich was für Sie tun.«
XXX
Tunda ging durch die heiteren Straßen mit der großen Leere im Herzen, wie sie ein entlassener Sträfling auf seinem ersten Gang in die Freiheit fühlt. Er wußte, daß der Präsident ihm nicht helfen konnte, auch wenn er ihm die Möglichkeit verschaffte, zu essen und einen Anzug zu kaufen. Ebensowenig macht man einen Sträfling frei, wenn man ihn aus dem Gefängnis entläßt. Ebensowenig macht man ein elternloses Kind glücklich, wenn man ihm einen Platz im Waisenhaus sichert. In dieser Welt war er nicht zu Hause. Wo war er es? In den Massengräbern.
Das blaue Licht brannte auf dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die Kränze dorrten. Junge Engländer standen da, die weichen, grauen Hüte in den Händen und die Hände auf dem Hintern. Aufgebrochen aus dem Café de la Paix waren sie, das Grabmal zu sehn. Ein alter Vater dachte an seinen Sohn. Zwischen ihm und den jungen Engländern war das Grab. Tief unter den beiden lagen die Gebeine des Unbekannten Soldaten. Der Alte und die Jungen reichten sich über das Grab hinweg die Blicke. Es war ein stilles Einverständnis zwischen ihnen. Es war, als schlössen sie einen Pakt, den toten Soldaten nicht gemeinsam zu beklagen, sondern gemeinsam zu vergessen.
Tunda war schon einigemal an diesem Denkmal vorübergegangen. Immer umstanden es Touristen, die Reisehüte in der Hand – und nichts kränkte ihn mehr als ihre Ehrenbezeugung. Es war, wie wenn Weltenbummler, die auch noch fromm sind, während eines Gottesdienstes eine berühmte Kirche besichtigen und, den Reiseführer in der Hand, vor einem Altar niederknien, aus Gewohnheit und um sich nichts vorwerfen zu müssen. Ihre Andacht ist eine Lästerung und ein Lösegeld für ihr Gewissen. Nicht dem toten Soldaten zu Ehren, sondern den Überlebenden zur Beruhigung brannte das blaue Flämmchen unter dem Arc de Triomphe. Nichts war grausamer als die ahnungslose Andacht eines überlebenden Vaters am Grabe seines Sohnes, den er geopfert hatte, ohne es zu wissen. Manchmal war es Tunda, als läge er selbst dort unten, als lägen wir alle dort unten, die wir aus einer Heimat auszogen, fielen, begraben wurden oder auch zurückkehrten, aber nicht mehr heimkehrten – denn es ist gleichgültig, ob wir begraben oder gesund sind. Wir sind fremd in dieser Welt, wir kommen aus dem Schattenreich.
Nach einigen Tagen ließ ihn der Herr Präsident kommen.
Zwischen beiden war nunmehr die Distanz, die zwischen dem Helfer und dem Hilflosen besteht, eine andere Distanz als die zwischen dem Älteren und dem Jüngeren, dem Heimischen und dem Fremden, dem Mächtigen und dem zwar Schwachen, aber Selbständigen. In den Blicken des Präsidenten lag zwar keine Geringschätzung, aber auch nicht mehr jene stille Bereitschaft zur Hochachtung, die noble Menschen für jeden Fremden übrig haben, die Gastfreundschaft der Vorurteilslosigkeit. Vielleicht war Tunda sogar seinem Herzen nähergekommen. Aber sie waren nicht mehr gleich Freie. Vielleicht hätte der Alte von nun an sogar eines seiner Geheimnisse Tunda anvertraut; aber nicht mehr eine seiner Töchter.
»Ich habe etwas gefunden«, sagte der Präsident. »Da ist der Herr Cardillac, dessen Tochter eine Reise nach Deutschland unternimmt und die ein wenig Konversation braucht. Man sucht ja gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten ältere Damen auf, die aus dem Elsaß stammen. Aber ich bin prinzipiell gegen diese Art Lehrerinnen, weil sie zwar die Sprache beherrschen, aber ein ganz anderes Gebiet der Sprache – nicht dasjenige, das eine junge Dame aus reichem Hause nötig hat. Es fehlt diesen Lehrerinnen an den nötigen Vokabeln. Dagegen dachte ich, daß ein junger Mann von guter Erziehung, von Welt, von Kenntnissen, von allerhand Erfahrung« (die Zahl der Tugenden Tundas wuchs zusehends) »gerade die richtige und notwendige Sprache führt. Es wird sich darum handeln, der jungen Dame auch von den Zuständen des Landes zu erzählen, in das sie jetzt fährt, ohne Kritik natürlich und ohne in ihr Vorurteile zu erwecken. Diese Vorurteile wären um so schlimmer, als Herr Cardillac, der, unter uns gesagt, gar nicht so heißt, Verwandte, entfernte Verwandte allerdings, in Deutschland besitzt, in Dresden und Leipzig, wenn ich nicht irre.«
Als bedürfte ein Präsident, der sich für den europäischen Frieden einsetzte, Hochachtung für Deutschland bezeugte, als bedürfte ein solcher Präsident der Erklärung dafür, daß er einen Herrn Cardillac kenne, der deutsche Verwandte besitzt, sagte der alte Herr:
»Herrn Cardillac kenne ich nicht genau, er selbst ist mir vor einigen Jahren empfohlen worden, von einer alten Mailänder Familie, die weltbekannte Kachelöfen