Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


Скачать книгу

von gleicher Farbe und einen Federhalter aus blauem Glas. Es war eine Garnitur. Sie stand in der Mitte der rubinroten schweren Trinkgläser auf der Kommode, der silbernen Becher und der neusilbernen Obstbestecke. In den Gläsern, die immer ein wenig verstaubt waren, lagen Perlmutterknöpfe und Kinderringe aus weichem Silber, Krawattenhalter und hölzerne Nadeletuis, Agraffen, mit gläsernen Brillanten besetzt, schwarzer, biegsamer und klebriger Flitter, der jedesmal von dem schwarzen Prachtkleid der Frau Zipper abfiel und den sie sammelte, um ihn gelegentlich wieder anzunähen.

      Immer lag der Salon im Halbdunkel. Schwere, rote Vorhänge gestatteten der Sonne nur einen spärlichen Zutritt, kaum daß es einem Strahl manchmal gelang, sich einen schmalen Weg zu bahnen und eine dünne silberne Staubsäule vom Fenster zum runden Tisch zu ziehen. Mottenkugeln rochen scharf aus den ewig geschlossenen Schränken. Eine dumpfe Feuchtigkeit gemahnte an herbstliche Felder, Allerseelen, Weihrauch in kühlen Kapellen. An der Wand hingen Porträts von den Großeltern und Eltern der Frau Zipper. Der alte Zipper besaß keine Bilder von seinen Ahnen. Denn er stammte aus einer Familie, die »einfach« war und die sich nie hatte porträtieren lassen. Er selbst aber schien der Ahnherr eines respektvollen Geschlechtes werden zu wollen. Er ließ sich oft photographieren und alle seine Bilder vergrößern. Er hängte sie an die Wände des Salons. Da sah man Herrn Zipper mit Hut und Stock, auf einer Gartenbank, Jasmin im Hintergrund. Dort: am Schreibtisch, in einem dicken Buch lesend. Rechts hing das Bild, das Herrn Zipper in der Uniform eines Feldwebels – eines Rechnungsfeldwebels – der Infanterie darstellte. Links: Herr Zipper im Zylinder mit weißen Handschuhen, wie er eben von einer Hochzeit oder von einem Begräbnis kam. Hier war er noch junger Bräutigam, einen Blumenstrauß in weißer Tüte in der Hand. Dort ein bereits ernster Vater, Arnold, den Kleinen, auf den Knien.

      Noch öfter als der alte war der junge Zipper photographiert. Arnold, wie er sechs Monate alt war, splitternackt, lächelnd, auf einem Bärenfell; Arnold als Einjähriger auf dem Arm der Mutter; Arnold als Vierjähriger in den ersten langen Hosen; Arnold als Sechsjähriger mit dem ersten Schulranzen, mit Schiefertafel und baumelndem Schwamm; Arnold als Siebenjähriger mit dem ersten Schulzeugnis; Arnold als Achtjähriger mit gekreuzten Beinen, zu Füßen seines Lehrers, umgeben von seinen Schulkameraden; Arnold im spanischen Nationalkostüm und als Radfahrer; als kleiner Reiter im Hippodrom und als Chauffeur im Vergnügungspark; Arnold auf einem Esel und auf dem Kutschbock; Arnold am Klavier und mit der Geige; Arnold mit Pfeil und Bogen und Arnold mit Säbel; Arnold als kleiner Dragoner und als kleiner Matrose; Arnold in allen Altern, allen Kleidungen, allen Lagen; Arnold, Arnold, Arnold …

      Weshalb, fragte ich, ist nicht Arnolds Bruder, der ältere, den man Cäsar nannte, photographiert? Er hieß Cäsar, nach dem früh verstorbenen Bruder seiner Mutter. Es schien, daß dieser Name den Knaben beschwerte, ihm Aufgaben stellte, für die er nicht geboren war. Er mußte entweder ein Genie sein oder ein Hund. Wer war imstande, mit solch einem Namen seinen Eltern Freude zu bereiten?

      Nein! Er bereitete ihnen keine Freude, wenigstens nicht dem Vater. Man sah Cäsar selten zu Hause. Er trieb sich in den Straßen herum, man traf ihn vor dem Eingang zum Zirkus Cavalli, vor den Kinos in den Vorstädten und in der kleinen Gasse, in der jedes Haus ein Bordell war. Und er war im ganzen vierzehn Jahre alt. Ich erinnere mich deutlich an sein rotes grobes Gesicht, in das die Züge roh und provisorisch eingezeichnet waren, an seine kurze, von vielen Runzeln zerknitterte Stirn, die aussah, als wollte sie falsche Sorgen vortäuschen, an den merkwürdigen Gegensatz zwischen dem ungläubigen Mund, der an eine traurige alte Sichel erinnerte, und den hellen, grünen, bestialisch und irrsinnig glänzenden Augen. Als er fünfzehn Jahre alt war, schlief er mit allen Dienstmädchen der Nachbarschaft, ein schwarzer Bart sproßte aus allen Winkeln seines Gesichts, seine Augenbrauen wuchsen an der Nasenwurzel zusammen. Er »wollte nicht lernen«. Der alte Zipper »nahm ihn« aus dem Gymnasium und »gab ihn« in die Realschule. Hier geriet er mit einem Mitschüler in Streit, zerschlug ihm das Nasenbein, ohrfeigte einen Lehrer, der vermitteln wollte. Da »nahm« der alte Zipper Cäsar aus der Realschule und »steckte« ihn in die Bürgerschule. Hier gab es mehrere Cäsars, die Lehrer hüteten sich vor Schlägen. Cäsar Zipper erregte nicht besonderes Aufsehen, er blieb je zwei Jahre in jeder Klasse, aber es half ihm nichts. Als er die Schule verließ, konnte er gerade lesen und schreiben.

      Es war, als gehörte Cäsar nicht zur Familie Zipper. Vor allem traf man ihn niemals zu Hause, es sei denn während der Mahlzeiten. Da saß er am Ende des Tisches, die Tür, die zur Küche führte, im Rücken, gegenüber dem alten Zipper, der dem ungeratenen Sohn zwischen je zwei Gängen wütende, verachtende Blicke zuwarf. Cäsar erwiderte sie nicht. Cäsar sah immer auf den Teller, knurrte leise, klopfte mit den Absätzen auf den Fußboden, trommelte mit den Fingern auf den Sessel und wußte, daß die Raserei in seinem Vater stieg. Ja, er schien mit Vergnügen zu hören, wie es in dem alten Zipper kochte. Noch hielt der an sich. Schon aber nahte die Mehlspeise, mit der Zipper niemals zufrieden war, und plötzlich explodierte er. Er schleuderte das Salzfaß gegen Cäsar, der es schon längst erwartet hatte und mit dem geübten Griff eines gewandten Menschen auffing und wieder auf den Tisch stellte. Dann hörte man ein Sesselrücken, der alte Zipper erhob sich. Er stand gebückt, die Serviette in der Linken, mit der Rechten griff er hinter den Rücken, er suchte die Lehne des Stuhls. Einen Augenblick lang sah man seine Hand, wie sie die leere Luft krallte. Ich sehe noch deutlich diese rechte Hand, sie sah aus wie ein Tier, eine behaarte Spinne etwa, die blind nach einer nicht vorhandenen Beute greifen will, sie war schrecklich, diese Hand, schrecklicher als das Gesicht des Alten, das zu harmlos war, um auch nur einen Augenblick schrecklich sein zu können.

      In dieser Sekunde hatte Cäsar bereits die Tür, die zur Küche führte, mit der Linken geöffnet. Schon hörte man das Brodeln der Töpfe vom Herd, schon roch man die Düfte der Speisen, man hörte, wie sich draußen die Frau Zipper schneuzte und räusperte. Die Klinke in der Linken, die Rechte vor sich als ein Schild, streckte Cäsar dem Vater eine rote lange Zunge heraus. Die Zunge war etwas Schamloses, Nacktes, gleichsam auch der weißen Haut Beraubtes. Sie streckte sich dem Vater entgegen wie eine Wunde und wie eine Flamme. Dabei kam ein düsteres Knurren aus dem Innern Cäsars, wie ein kleines Erdbeben. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

      Einige Male in der Woche – und sooft mich der alte Zipper zu einer Mahlzeit einlud – wiederholte sich diese Szene. Arnold kannte schon alle ihre Phasen, er interessierte sich nicht mehr für sie. Ja, es schien, daß er sie mit einer besonderen Zufriedenheit an sich vorüberziehen ließ, ich sah manchmal, wie er ein perfides Lächeln zu verbergen suchte und dennoch offenbarte, während des kurzen, wortlosen, nur von furchtbaren Bewegungen und unmenschlichen Lauten begleiteten Sturms, der zwischen dem Vater und dem Bruder wütete. Ich erinnere mich nicht, gesehen zu haben, daß Cäsar oder der alte Zipper jemals ihre Mehlspeise zu Ende gegessen hätten. Immer blieben einige häßliche Reste in ihren Tellern. Trümmer, die ein Unwetter zurückläßt.

      Aber wie der Sonnenschein dem Sturm folgt, so begann der alte Zipper sofort zu scherzen, nachdem sein mißratener Sohn verschwunden war. Noch standen die Reste der unterbrochenen Mahlzeit vor ihm. Er schien sie nicht zu sehen. Schon sprach er vom Nachmittag und was wir eigentlich heute zu machen gedächten. Ob wir schon mit unsern Arbeiten fertig wären. Ob wir schon das neue Karussell gesehen hätten, das ein Italiener in der letzten Woche errichtet habe, neben den vielen, die es schon gebe. Ob wir schon wüßten, daß Andreas’ Puppentheater heute ein neues Programm habe. Ob wir schon in der Zeitung gelesen hätten, daß die Sommerferien in diesem Jahr nicht wie gewöhnlich Ende Juni, sondern schon Mitte dieses Monats beginnen würden.

      Denn das waren, wie schon einmal erwähnt, die Sorgen des alten Zipper. Manchmal ging er zum Kleiderschrank, öffnete ihn langsam wie einen Altar und entnahm ihm die Geige im schwarzen Geigenkasten, der an einen Sarg erinnerte. Die Jugend und die Hoffnungen Zippers lagen in ihm begraben, neben der Geige. Denn der alte Zipper hatte einmal ein Musiker werden wollen. Er wäre es beinahe geworden. Er besaß, wie er sagte, ein »unheimliches Gehör«, und ohne Lehrer, ohne Noten, »ohne Anfangsgründe« hatte er zu spielen angefangen, eines schönen Tages, »von einem Geist gesegnet«. Er spielte in der folgenden Zeit »alles, was er hörte«. Er spielte »Menuetts und Walzer«. Er ging zu »allen neuen Operetten«, er spielte am nächsten Tag ihre Schlager – »nach dem Gehör«. Heute konnte er nur noch ein Stück spielen, nämlich: »Weißt du, Mutterl« – ein Lied, das