Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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Sonntags, es war ein heißer Sommertag, wurde der Thronfolger in Sarajevo erschossen.

      Die Frau Zipper war untröstlich. Man hätte glauben können, ihr Bruder sei erschossen worden. Herr Zipper dagegen hatte hier eine glänzende Gelegenheit, seine rebellische Gesinnung zu beweisen. Während seine Frau, das Taschentuch vor einem Auge, das Lorgnon vor dem andern, in der Zeitung die Details las, sagte Zipper:

      »Man soll von den Toten nur Gutes sprechen. Der Thronfolger war ein Hund. Aber vielleicht wäre er gar nicht so böse gewesen ohne seine Frau. Vor zwei Jahren bestellt sie bei Weinhorn einen Anzug auf Maß für ihren jüngeren Sohn. Der Zuschneider selbst fährt hinaus, einmal, zweimal, zehnmal. Dann ist der Anzug fertig, der Zuschneider bringt ihn persönlich, da sagt die Sophie: ›Sie müssen ihn zurücknehmen, ich kann Ihnen nicht helfen, ich habe ausdrücklich kurze Hosen bestellt, ich hasse die langen Hosen bei Kindern!‹ Und nichts! Nicht einen roten Kreuzer Trinkgeld! So sind diese Leute! Die Serben müssen ersticken im eigenen Fett. Die ungarischen Magnaten haben Angst, ihre Schweine werden billiger werden. Alles zusammen ein Gesindel! Als ich bei den Vierundachtzigern war, kam er einmal zu den Manövern. Ein Hund! Die Bosheit strahlte ihm aus den Augen!«

      »Der arme Kaiser!« klagte Frau Zipper.

      »Der Kaiser wird froh sein, daß der Kerl umgekommen ist!«

      »Pst!« sagte Frau Zipper. »Sprich nicht so laut!«

      »Ich hab keine Angst, ich sag jedem meine Meinung!«

      Zippers Meinung änderte sich aber doch in den nächsten Tagen, als die Demonstrationen begannen. Er selbst zog vor die serbische Gesandtschaft. Er kam nach Hause und erzählte: »Man wird’s ihnen schon zeigen! Der Thronfolger war ein Hund, aber was geht es die Serben an? Wir wären schon selbst mit ihm fertig geworden. Jetzt werden sie sehn, daß mit uns nicht zu spaßen ist. Die Polizei ist doch großartig! Zieht vom Leder, und im Nu sind alle weggeblasen. Der ganze Platz in fünf Minuten gesäubert. Der Inspektor Hawerda hat heute Dienst gehabt. ›Brav habt’s ihr gearbeitet!‹ hab ich ihm gesagt. – (Ein netter Mensch, der Inspektor Hawerda.) ›Aber doch ein bissel zu viel mit den Säbeln. Schließlich ist das der Wille des Volks.‹ – ›Dienst ist Dienst!‹ sagte der Hawerda. – Das muß man auch verstehn!«

      Schließlich war Zipper enttäuscht, daß man nicht sofort gegen die Serben marschierte. Von allen Menschen, die ich damals kannte, war er der einzige, den die Mobilisierung nicht überraschte.

      »Ich hab es immer gesagt, daß es ohne Krieg nicht ausgehn wird.«

      Und Zipper, Zipper, der revolutionäre Zipper sagte zu seiner Frau:

      »Pack mir die Uniform aus, man kann nicht wissen. Im Krieg spielen Krampfadern keine Rolle. Ich bin ein alter Soldat, mag der Kaiser sein, wie er will, ich hab den Eid geleistet.«

      Vielleicht wäre Zipper gegen den Krieg gewesen, wenn sich die Gesinnung seiner Frau nicht geändert hätte. An dem Tag, an dem die ersten Männer einzurücken begannen, hörte ihr Patriotismus auf.

      »Wenn man will, kann man sich immer in Güte einigen«, sagte Frau Zipper.

      »Misch dich nicht in die Weltpolitik«, rief der Alte. »Arnold, morgen meldest du dich freiwillig!«

      Da sah ich zum erstenmal Frau Zipper aufspringen. Zum erstenmal hörte ich sie kreischen. Sie stand auf gegen ihren Mann, sie erhob den Sessel, sie mußte in diesem Augenblick die Kraft von tausend Müttern gefühlt haben.

      »Nein!« rief sie. »Solange ich lebe, wird sich keiner meiner Söhne freiwillig melden. Arnold nicht und Cäsar auch nicht. Geh allein in den Krieg. Ich brauch dich nicht! Geh, geh zu deinem Kaiser! Du! Du!«

      Sie raufte sich die Haare. Zum erstenmal sah ich Blut in ihr Gesicht steigen. Sie wurde schön. Zum erstenmal nach zwanzig Jahren wurde sie wieder schön.

      Da schwieg Zipper. Arnold meldete sich nicht, und der Alte meldete sich auch nicht.

      Aber jedesmal, sooft ich mit dem Herrn Zipper zusammentraf, hielt er folgenden Vortrag:

      »Wir ziehen uns zurück, wir lassen die galizische Ebene den Russen. Wir teilen uns, wir werden zwei Fronten bilden. Vom Norden und vom Süden werden wir die Russen packen, verstehen Sie, in einer Zange!« Er krümmte Zeige-und Mittelfinger, spreizte sie und schloß sie wieder. »Indessen wird im Westen Paris erobert. Die Franzosen unterwerfen sich, denn wenn sie noch länger warten, werden sie im Süden von Italien angegriffen. Dann wirft Wilhelm die ganze Armee nach dem Osten. In drei Monaten ist der Zar vernichtet. Die ganze Kunst besteht heutzutage darin, den Feind zu umzingeln. Mit möglichst wenig Truppenmaterial umzingeln! Außerdem muß man die richtige Balance halten zwischen Offensive und Defensive.«

      Jeden Tag las Zipper alle Zeitungen. Er vernachlässigte sogar das Sechsundsechzig. In seinem Stammcafé war er einer der glühendsten Patrioten. Einige begannen sich über ihn lustig zu machen. Er wurde wild. Er drohte, den und jenen anzuzeigen. Man zog sich zurück. Die Zweifler grüßte er nicht. Mit seiner Frau sprach er nicht mehr. Auch seine kleinen Scherze gab er auf. Wie lange war es schon her, seitdem er seinen Chronometer hatte läuten lassen! Wie lange war es her, seitdem er zum letztenmal im Zirkus gewesen war! Nur in die Theater ging er noch. Selbst seine einflußreichen Freunde vernachlässigte er, Polizeiinspektoren verachtete er. Was taten sie? Sie blieben zu Hause. Sie drückten sich! Sie »tachinierten«!

      Der Sekretär war eingerückt, zur Feldpost. Seine seltenen Karten waren Zippers abendliche Zerstreuung:

      »Ich bin neugierig, wo diese Feldpost 106 steckt! Das ist doch ein kluges System. Nur Nummern – und die drüben wissen schon, wo es hingehört. Und dabei geht sicher nichts verloren. Organisation ist eine großartige Sache. Nie hat die Post im Frieden so gut funktioniert!«

      Der Salon stand leer. Frau Zipper hängte einen Zettel an das Haustor: Zimmer für soliden Herrn zu vermieten. Herr Zipper entfernte den Zettel wieder. Er trat mit ihm am Abend ins Haus, hielt ihn mit zwei Fingerspitzen hoch, wie ein ekelhaftes Gewürm, und sagte:

      »Meine Frau hängt gerade jetzt den Zettel heraus! Jetzt sucht sie, erstens, einen soliden Herrn. Alle soliden Herren sind eingerückt, und die Krüppel sind schon mit Wohnungen versorgt. Zweitens wird Wandl zurückkommen. Was wird man ihm sagen, wenn sein Zimmer vermietet ist? Es ist eine Rücksichtslosigkeit sondergleichen, einem Feldgrauen das Zimmer hinter dem Rücken zu vermieten!« Den Zettel warf Herr Zipper zum Fenster hinaus.

      Eines Tages sah ich ihn mit einer schwarzen eisernen Uhrkette. Auch trug er drei eiserne Ringe. »Gold gab ich für Eisen!« stand auf allen drei eingraviert.

      Einmal ging er mit Arnold und mir, Nägel in den »Eisernen Mann« schlagen.

      »Hier«, sagte er, »ich spendiere dir einen Nagel!« Und er kaufte für mich einen Nagel, weil ich kein Geld hatte. Er selbst schlug nicht weniger als fünf ein.

      Jede Woche kam er mit einem neuen Abzeichen. Er trug das schwarzgelbe Kreuz, das silberne und ein Edelweiß am Hut. Einer der Wohltätigkeitsvereine, denen er angehörte, veranstaltete eine Sammlung alter Kleider und warmer Wollsachen für unsere Krieger zu Weihnachten. Zipper selbst begleitete den Wagen, einen großen Trainwagen. Vor jedem Haus hielt er, ging mit einer Glocke in den Flur und nahm die Geschenke entgegen. Er fuhr eine Woche lang herum, die ganze sogenannte Warme-Woll-Woche. Jeden Abend kam er spät nach Hause. Sein Papier-Kommissionsgeschäft begann langsam einzuschlafen. Nur von einem patriotischen Verein, der unter dem Protektorat der Gräfin Windischgrätz stand, bekam er jeden Monat einen Auftrag, Drucksorten zu beschaffen. Auch im militärgeographischen Institut war man auf Zipper aufmerksam geworden. Eine Zeitlang schien es, als würde er bei der Papierlieferung für das Werk »Unsere Helden im Winter« etwas verdienen. Da kam ein anderer und machte das Geschäft.

      Nein! Zipper verdiente immer weniger. Im Jahre 1915 gab er endlich zu, daß der Salon vermietet würde – und zwar nur an eine Militärperson. Es war der superarbitrierte Oberleutnant Mauthner vom Kriegsministerium. Dieser Offizier, in Zivil Antiquitätenhändler, kümmerte sich überhaupt nicht um den Krieg. Er leitete im Kriegsministerium das Büro, das die Eintrittskarten