Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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das Leben Arnolds schreiben würde, wäre es kein Roman in diesem Sinn. Ich muß Ihnen übrigens den Vorwurf machen, daß mir dieser Schluß ein bißchen gewollt vorkommt. Ich würde Arnold im Kaffeehaus Sologeiger bleiben lassen. Ich würde ihn auch nicht gesondert von seinem Vater behandeln können.«

      »Da haben Sie recht!« rief P. »Die Zippers gehören zusammen. Betrachten Sie diesen Vater. Er ist an Arnolds Unglück schuld, für den Fall, daß Arnold immer noch unglücklich ist. (Aber das wäre Nebensache.) Alle unsere Väter sind an unserem Unglück schuld. Das sind die Väter der Generation, die den Krieg gemacht hat. Sie haben ihre Uhrketten, ihre Eheringe für Eisen gegeben. Ach, was waren sie für Patrioten! Meinem Vater hat nichts so leid getan wie meine Krankheit, die mich gehindert hat, in den Krieg zu gehen. Erinnern Sie sich nur: wer hat im Sommer 1914 vor der serbischen Gesandtschaft protestiert: wir oder unsere Väter? Wer hat die Feinde – allerdings im Kasino – ›umzingelt‹? Am Nachmittag, beim Sechsundsechzig? Sie sind wie ein Ochs verladen worden, und Ihr Vater hat der Mutter gesagt: ›Eine jede Kugel trifft ja nicht.‹ Wenn Ihr Vater auch eingerückt ist, hat er höchstens eine Brücke bei Floridsdorf bewacht.

      Erinnern Sie sich nur: Sie kamen zurück, die unseligste aller Generationen der Neuzeit. Was war geschehen? Ihr Vater hat Zeit gehabt, neue Kinder zu zeugen, mit den Mädchen, die eigentlich für Sie bestimmt waren. Kaum waren Sie zu Hause, da saßen die Väter schon wieder dort, wo sie den Krieg angefangen hatten. Sie machten die Zeitungen, die öffentliche Meinung, die Friedensschlüsse, die Politik. Sie, die Jungen, waren tausendmal gescheiter, aber müde, halbtot, sie mußten ausruhen. Sie hatten nicht, wovon zu leben. Es war gleichgültig, ob Sie gefallen oder heimgekehrt waren. Und wohin waren Sie heimgekehrt? – In Ihre Elternhäuser!

      Erinnern Sie sich an diese schauderhaften Elternhäuser! Haben Sie jemals die Bibliothek der Zippers gesehn? Ich habe oft mit den Bänden gespielt. Da waren drei prachtgebundene Jahrgänge ›Moderne Zeit‹, das ›Deutsche Knabenbuch‹, ›Der Trompeter von Säckingen‹ – welch eine Literatur! Erinnern Sie sich an die Kommode? Wir haben zu Hause eine ähnliche. Wenn ich ein Meter von ihr entfernt bin, fürchte ich mich schon vor ihren Kanten. Welch lebensgefährliche Möbel! Welch klirrender Hängeleuchter mit elektrisch beleuchteten Kerzen aus Porzellan, aber gedreht wie Wachs! Diese Kalender, die jedes neue Jahr vor den Schreibtisch gehängt wurden! Und diese abonnierten Blätter mit den Leitartikeln. Mein Vater kann heute noch nicht einschlafen, wenn er nicht weiß, was – ›Er‹ gesagt hat. ›Er‹ ist das absolute Er hinter dem Leitartikel. ›Er‹ ist dort, wo man alles weiß, ›Er‹ ist im Grunde genau so ein törichter kleiner Bürger wie sein Leser.

      Arnold ist der junge Mann der Kriegsgeneration. (Kommen Sie, gehen wir ein wenig.)«

      Wir gingen in den Park zurück. P. sprach lange. Er versuchte Arnolds Gleichgültigkeit, seine Trauer, seine Unentschlossenheit, seine Schwäche, seine Kritiklosigkeit auf die Erziehung zurückzuführen und auf den Krieg.

      Die Sonne stand sehr hoch, die Kindermädchen rüsteten, nach Hause zu gehen, die Mittagsstunde brach an. Ich hörte, mit welcher Unerbittlichkeit P. die Menschen aus der Zeit zu erklären wußte. Zu dieser Entschiedenheit hatte er vielleicht mehr Recht als ich, als jeder andere, weil er ein Sterbender war. Er mußte zu jeder Zeit mit dem Urteil über alle Erscheinungen fertig sein, heute noch, zu jeder Stunde erwartete er den Tod.

      Ich widersprach ihm nicht, ich gab ihm nicht recht. Ich sagte nur:

      »Hätte ich einen Vater gehabt, ich hätte ihm keinen Vorwurf gemacht.« (Zu einem ganz kleinen Teil war übrigens der alte Zipper mein Vater.) »Sie stellen sich so hoch über die Menschen, daß Sie nur ihr Schwarzes und ihr Weißes sehen, ihre Schuld oder Unschuld. Sie richten wie ein Gott und wie ein Richter: nach den Absichten und nach den Taten. Wir aber, die wir im Krieg waren, richten nach dem Stoff, aus dem die Menschen gemacht sind.

      Wir waren nicht nur müde und halbtot, als wir heimkamen, wir waren auch gleichgültig. Wir sind es noch. Wir vergaben nicht unseren Vätern, wie wir den jüngeren Generationen nicht vergeben, die uns nachrücken, ehe wir noch unsere Plätze hatten. Wir vergeben nicht, wir vergessen. Oder noch besser: wir vergessen nicht, wir sehen gar nicht. Wir geben nicht acht. Es ist uns gleichgültig. Das Schicksal der Menschen, des Landes, der Welt, was geht es uns an? Wir machen nicht Revolutionen, wir treiben passive Resistenz. Wir empören uns nicht, klagen nicht an, verteidigen nicht, erwarten gar nichts, fürchten gar nichts – – daß wir nicht freiwillig sterben, ist alles. Wir wissen, daß noch einmal eine Generation kommen wird, die so sein wird, wie unsere Väter waren. Noch einmal wird Krieg sein. Wir betrachten das lächerliche Gehabe derer, die an der Traurigkeit der Welt leiden – wie Sie –, derer, die im Krieg nicht waren – und der Jungen, die an dem Willen leiden, etwas zu bessern, zu verändern. Wenn Skepsis nicht auch eine Teilnahme voraussetzen würde, dann hätte ich gesagt: wir sind Skeptiker. Aber wir nehmen überhaupt nicht teil. Sie verspotten das Pathos. Wir aber glauben auch nicht an den Witz. Sie hassen die Reaktion. Wir zweifeln auch an den Erfolgen der Revolution. Was wollen Sie? – Wir sind irrtümlich zurückgekommen

      P. schwieg.

      Ich betrachtete die Kinder, die aufgeregt ihre Spielzeuge sammelten, nichts wollten sie vergessen, unerbittlich entriß jedes, was ihm gehörte, dem Spielgenossen. Aber der grüne Frieden des Mittags im Park, die sanften, blonden Gesichter der Kindermädchen und die tiefen Gesänge der Glocken versöhnten mich mit allem, was da war – – auch mit den traurigen Instinkten der kleinen Menschen und mit der Stumpfheit der Alten.

      Selbst die Fliegen summten, als wollten sie die Glocken nachahmen …

      Lieber Arnold,

      vielleicht, ja wahrscheinlich wird Dir dieser mein bescheidener Bericht über Deines Vaters und über Dein bescheidenes Leben in die Hand kommen. Es ist möglich, daß Du es aufgegeben hast, noch einmal mit mir in eine briefliche Verbindung zu gelangen, und daß Du Deine neue Existenz mit dem wahrscheinlich berechtigten Entschluß begonnen hast, nicht mehr an die Vergangenheit zu rühren. Dann wäre dieser Brief, den ich Dir eben schreibe, das einzige Zeichen meiner Freundschaft, das Du nach langer Zeit erhältst, und ein Zeichen meiner durch den vorliegenden Bericht keineswegs beendeten oder auch nur geschwächten Freundschaft. Denn ich habe, wie Du siehst, nachdem Du alles gelesen hast, unsere Freundschaft ebensowenig erschöpft wie Dein Schicksal. Ja, es schien mir, kaum hatte ich den letzten Punkt hinter das Geschriebene gesetzt, daß ich nicht zuviel, sondern viel eher zuwenig von Dir berichtet habe. Der Grund dafür scheint mir eben darin zu liegen, daß ich zwischen Dir und mir die Distanz nicht sehe, die zwischen Deinem Vater und mir vorhanden war. Vielleicht auch hatte ich die einigermaßen berechtigte Angst, ich müßte, wollte ich mehr von Dir schreiben, auch manches nicht Unwichtige von mir selbst erwähnen – und das hätte den Rahmen meiner Aufgabe sprengen können. Mit jener Klarheit Dich zu zeichnen, die allein aus der Distanz kommt, war mir, wie schon gesagt, nicht möglich. Doch schien mir das Leben Deines Vaters mit dem Deinigen so notwendig verbunden, daß ich, wollte ich Dich eliminieren, vieles hätte verschweigen müssen. Und beim Schriftsteller beginnt schon dort, wo er schweigt, die Lüge.

      Dies alles mußte ich Dir direkt sagen, ins Gesicht gewissermaßen, obwohl immerhin die Gefahr besteht, daß Dich dieser Brief niemals erreichen wird. Ich fühlte die Notwendigkeit, mich bei Dir zu entschuldigen, nicht, weil ich Dein Leben zum Gegenstand meines Buches gemacht habe, sondern umgekehrt: weil ich zuwenig von Dir berichtet haben könnte. Du gehörst zu jenen Menschen, denen man nicht zu erklären braucht, was den Unterschied macht zwischen einer Indiskretion und einer exemplarischen Darstellung. Ich weiß also schon, daß Du, weit entfernt, Dich über dieses Buch zu ärgern, Dich darüber freuen wirst, in dem Maß, in dem Dir mein Versuch gelungen erscheinen wird: der Versuch, an zwei Menschen die Verschiedenheiten und die Ähnlichkeiten zweier Generationen so darzustellen, daß diese Darstellung nicht mehr als der private Bericht über zwei private Leben gelten kann. Denn so stark und, man kann sagen, so sonderbar auch die Individualität Deines Vaters war, seine Erscheinung war noch mehr typisch für die Generation unserer Väter, und ich habe die Hoffnung, daß mancher meiner Leser von unserem Alter im Herrn Zipper, zumindest