Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
ab. Am nächsten Tag erschien der Artikel, und es war Heinrich, als er ihn las, als hätte er die Revolution, die Heimfahrt, die Erlebnisse auf den Bahnhöfen erfunden. Er mißtraute sich selbst. Es schien ihm, daß er die Begeisterung sowohl als auch die Verwirrung übertrieben dargestellt hätte und daß zwischen der Wirklichkeit dieser Revolution und seiner Darstellung der Unterschied mindestens so groß geblieben war wie zwischen dem Krieg und ihr. Er hatte von Betrunkenen und Taumelnden geschrieben und in Wirklichkeit doch nicht mehr Betrunkene und Taumelnde gesehen als etwa an einem Sonntagnachmittag zu Friedenszeiten.
Während er noch also über seinen Artikel nachdachte, meldete sich ein Mann bei ihm, der sich als Detektiv legitimierte und ihn zu einem Herrn Dr. Slama in die Polizeidirektion führen zu müssen behauptete. Dr. Slama war der Zensor der neuen Regierung. Es erwies sich, daß er nur die Bekanntschaft Heinrich P.s hatte machen wollen und vielleicht auch den Versuch, den von ihm offenbar für begabt erachteten Verfasser für die tschechische Regierung ebenso gewinnen zu wollen, wie er selbst, ein alter Beamter der Monarchie, gewonnen worden war.
Dieser Versuch, Heinrich P. für das neue, sogenannte Staatsvolk zu erobern, blieb ohne Ergebnis; nicht etwa deshalb, weil Heinrich P. ein überzeugter Angehöriger der deutschen Nation gewesen wäre, sondern weil er, den Gesetzen seiner Natur gehorchend, jede Handlung zu vermeiden entschlossen war, die ihm irgendeine Verpflichtung zur Aktivität auferlegt hätte. Hätte er, im Gegenteil, überhaupt über die momentane Situation des deutschen Teiles der Bevölkerung nachzudenken vermocht, so wäre er zu dem Resultat gekommen, daß sein persönliches Bekenntnis zur deutschen Nationalität seiner natürlichen Neigung zur Passivität am ehesten entgegengekommen wäre. Aber Heinrich P. dachte zu jener Zeit nicht übermäßig viel. Seine eigene Situation wie die der Gesamtheit erschien ihm für seine Bedürfnisse viel zu kompliziert. Und, bequem wie er war, beschloß er, in eines jener friedlichen Länder zu gehen, in dem die politischen Konflikte seit Jahrhunderten beigelegt erschienen und der Friede den in ihnen wohnhaften Individuen für alle Zeiten gesichert.
Er fuhr also mit dem Rest seines Geldes in die Schweiz, setzte sich vorläufig in Zürich fest und begann, lediglich aus einer sittlichen Verpflichtung, irgend etwas zu tun, Artikel für deutsche Zeitungen zu schreiben. Seine Einnahmen blieben gering, seine Ausgaben verringerten seinen Besitz, bis er eines Tages, es war etwa Juni 1919, in die Lage geriet, seine Miete nicht bezahlen zu können.
Offenbar aber wacht irgendein gnädig-ungnädiges Schicksal über gewissen jungen Männern, und, so banale Auswege es auch weisen mag, es führt seine Günstlinge dennoch ein Stück weiter und bewahrt sie vor den viel zu frühen Katastrophen, die es uns unmöglich machen würden, bestimmte Geschichten weiterzuerzählen. Banal, wie derlei Schicksale schon zu sein pflegen, ist auch die Fügung, die in das Haus der Vermieterin Heinrich P.s eine ihrer jungen Nichten führt und in der ältlichen Frau den selbstverständlichen Wunsch nährt, das Mädchen in eine Beziehung zu ihrem einzigen Mieter zu bringen. Wie leicht aus einer so banalen Situation eine fatale für den betroffenen Mann wird, weiß der Leser, und also bleibt es uns erspart, Heinrich P. darzustellen, wie er von einem trügerischen Affekt gezwungen wird zu lieben, und von einem echten Instinkt, einer bürgerlichen Existenz zu entfliehen. Vielmehr begnügen wir uns mit der Mitteilung von der plötzlichen Ankunft eines Briefes an die Adresse Heinrichs, eines Briefes, dessen Wortlaut wir im folgenden wiedergeben:
Lieber Freund,
unlängst hatte ich das Glück, Deinen Namen in einer Zeitung zu lesen, und ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an die Wochen und Monate, die wir zusammen im Feld zugebracht haben. Ich bin nach dem Zusammenbruch der Monarchie nach Deutschland übergesiedelt, lebe in Berlin als Rechtsanwalt, habe geheiratet (und reich geheiratet), bin Syndikus im Konzern meines Schwiegervaters und höre nicht ohne Staunen, daß Du in Zürich lebst. Eine Wehmut, die Du vielleicht lächerlich finden wirst, veranlaßt mich, Dir zu schreiben. Meine Frau und ich, wir fahren in der nächsten Woche nach Marseille und möchten Dich mitnehmen. Telegraphiere uns, ob Du am Dienstag, den 28. Juli, uns in Basel am Bahnhof um 2 Uhr nachmittags erwarten kannst.
Dein Freund
Otto Reichhardt
Das Kartell
1923
Am 12. November brachte die Bostoner »Aurora« auf der ersten Seite ihrer acht Blatt starken Nummer in fetten Lettern das folgende Telegramm:
»Seit gestern ist die bekannte Suffragettenführerin Miß Sylvia Punkerfield verschwunden. Heute hätten bekanntlich die Massendemonstrationen der Suffragetts vor dem Regierungsgebäude stattfinden sollen, zu der hervorragende Führerinnen aus Chicago und New York gekommen waren. Die Polizei hatte sogar, wie wir vorgestern berichteten, Kenntnis von den Vorbereitungen zu einem Bombenattentat vor dem Regierungsgebäude erhalten und Maßnahmen zu deren Vereitelung getroffen. Miß Sylvia Punkerfield galt als die Arrangeurin dieser Versammlung wie überhaupt als die Seele der hiesigen Frauenbewegung. Um so verwunderlicher ist ihr plötzliches Verschwinden knapp vor der Demonstration. Man munkelt von einem Verbrechen – Miß Punkerfield hatte natürlich zahlreiche Rivalinnen. Der Polizei ist es trotz angestrengtesten Nachforschungen bis jetzt nicht gelungen, der verschwundenen Suffragettenführerin auf die Spur zu kommen.«
Ganz Massachusetts kannte natürlich Miß Punkerfield. Sylvia Punkerfield, die libellenschlanke Suffragette mit dem kurzgeschorenen Haar und dem schwarzen, glatten Tuchkleid, das geradezu wie ein Programm aussah und dessen unerhört einfache Holzknöpfe, die mit schwarzem gerippten Stoff überzogen waren, sich wie Punkte in diesem Parteiprogramm ausnahmen. Und dennoch, es war ein gewisses Raffinement in dieser Einfachheit. Oder glaubte jemand wirklich daran, daß Miß Sylvia kurzes Haar trug, weil es praktisch und männlich war? Miß Sylvias Kinderkopf mit den knabenhaft jungen Zügen konnte, konnte keine passendere Haartracht tragen. Miß Sylvia hatte blaue Augen. Blau, das sagt man so und denkt dabei an den Himmel oder ähnliche Institutionen von blauem Kolorit. Aber die Bläue dieser Mädchenaugen hatte etwas von der kühl violetten Färbung spätherbstlicher Abendwolken und nichts von einem Frühlingshimmel. Es war die Kälte blankgeschliffener, violettblau schimmernder Stahlklingen in diesen Augen, wenn Miß Sylvia in der Versammlung sprach. Sie hatte die scharfe, aber nicht unangenehme Stimme einer Dompteuse oder einer Zirkusreiterin. Wenn Miß Sylvia ein Schlagwort in die Menge rief, so reckte sich ihr Körper schlank auf dem Podium, und ihre Hand mit den langen muskelranken Fingern ballte sich wie um einen unsichtbaren Peitschenstiel. Der knabenhaft sehnige Arm zeichnete einen Bogen in die Luft, und es sah aus, als hätte Sylvia das Wort wie einen elastischen Gummiball in den Saal geschleudert. Dabei bekam ihre Stimme einen blankmetallenen Klang, wie wenn ein Säbel auf Messing schlüge. So war Miß Punkerfield.
Kein Wunder, daß ganz Massachusetts sie kannte. Die ältliche Miß Lawrence, die flach war wie ein Dielenbrett, konnte logisch sein, konsequent und unerbittlich wie ein algebraisches Lehrbuch. Niemand wagte mit ihr zu diskutieren. Mit ihrer haarscharfen Logik spaltete sie jeden Gegner in zwei Hälften von wunderbarer Ebenmäßigkeit. – Die noch junge, aber lederne Miß Esther Smith kannte alle Denker dreier Jahrhunderte auswendig und goß Bottiche von zwingenden Zitaten über die Köpfe ihrer Feinde, daß sie in die Knie sanken und um Gnade flehten. – Miß Ethel Fisher, die Tochter des Wursthändlers Fisher, war gefürchtet wegen ihrer geradezu übermännlichen Grobheit. Ihre Worte waren wuchtig und klotzig wie die Hämmer, mit denen die Arbeiter ihres Vaters die Pferdehäute zu Wurst faschierten. Aber was waren sie alle gegen die übernatürlichen Eigenschaften der Miß Sylvia! Miß Sylvia war von einer siegverheißenden Glorie umstrahlt. Von ihrem Wesen ging Sieg aus. Sie atmete Sieg. Weil sie so intelligent ist, sagten die Frauen von Massachusetts. Weil sie so schön ist, sagten die Männer von Massachusetts. Und wäre Miß Sylvia nicht so plötzlich verschwunden, es hätte sich der merkwürdige Fall ereignet, daß die Frauen samt und sonders das Amazonentum links liegen gelassen hätten und die Männer samt und sonders Suffragetten geworden wären. Denn schon hatten einige Professoren von Boston ihre Gefolgschaft zugesagt, die drei jüngsten von den vierzig Senatoren von Massachusetts hatten offen ihre Sympathie für die Suffragetten kundgegeben, und der weltberühmte Stierkämpfer, der vor drei Monaten aus seiner portugiesischen Heimat herübergekommen war, der junge Pedro dal Costo-Caval, war in sämtlichen Versammlungen, in denen Miß Sylvia Punkerfield sprach, zu sehen und klatschte mit dem Aufwand seiner gesamten